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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Vierter Band.

Neuntes Capitel.

Eine kleine metaphysische Abschweifung.

Es gibt so verschiedene Gattungen von Liebe, daß es (wie uns ein Kenner versichert hat) nicht unmöglich wäre, drei oder vier Personen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Untreue zu beklagen hätte. Agathon hatte in einem Alter von siebzehn Jahren für die Priesterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von Liebe glich, die (nach dem Ausdruck Fieldings) ein wohl zubereiteter Rostbeef einem Menschen einflößt, der guten Appetit hat. Diese animalische Liebe hatte, eh' er selbst noch wußte was daraus werden könnte, der Zärtlichkeit weichen müssen, welche ihm Psyche einflößte. Die Zuneigung, die er zu diesem liebenswürdigen Geschöpfe trug, war eine Liebe der Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwandtschaft der Seelen, welche sich dem, der sie nicht aus Erfahrung kennt, unmöglich recht beschreiben läßt; eine Liebe, an der das Herz und der Geist mehr Antheil hat als die Sinne, und die

vielleicht die einzige Art von Verbindung ist, welche (wofern sie allgemein seyn könnte) den Sterblichen einen Begriff von den Verbindungen und Vergnügungen himmlischer Geister zu geben fähig wäre.Agathon konnte also von dieser gedoppelten Art von Liebe, wovon eine die Antipode der andern ist, aus Erfahrung sprechen; allein diejenige, worin jene beiden sich in einander mischen, die Liebe, welche die Sinne, den Geist und das Herz zugleich bezaubert, die heftigste, die reizendste und gefährlichste aller Leidenschaften, war ihm noch unbekannt. Es ist also wohl kein Wunder, daß sie sich seines ganzen Wesens schon bemeistert hatte, eh' es ihm nur eingefallen war, ihr zu widerstehen.Freilich hätte dasjenige, was in seinem Gemüthe vorging, nachdem er in zwei oder drei Tagen die schöne Danae weder gesehen noch etwas von ihr gehört hatte, den Zustand seines Herzens einem unbefangenen Zuschauer verdächtig gemacht: aber er selbst war weit entfernt das geringste Mißtrauen in die Unschuld seiner Gesinnungen zu setzen. Was ist natürlicher, dachte er, als das Verlangen, das liebenswürdigste aller Wesen, nachdem man es einmal gesehen hat, wieder zu sehen, immer zu sehen? — So urtheilt die Leidenschaft."Aber was sagte denn die Vernunft dazu?" — Die Vernunft? O, die sagte gar nichts.Uebrigens müssen wir doch, es mag nun zur Entschuldigung unsers Helden dienen oder nicht, den Umstand nicht aus der Acht lassen: "daß er von der schönen Danae nichts anders wußte, als was er gesehen hatte." Der Charakter,

den ihr die Welt beilegte, war ihm gänzlich unbekannt. Er hatte noch keinen Anlaß, und, die Wahrheit zu sagen, auch kein Verlangen gehabt, sich darnach zu erkundigen. Ihm war genug, daß er sie gesehen hatte. Ein sehr gewöhnlicher Irrthum schob das, was sie in seinen Augen war, dem, was sie selbst war, unter; sie war ihm das vollkommenste was er sich denken konnte: was kümmerte ihn das Urtheil der Welt von ihr?

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