Projektseite Wieland's Sämtliche Werke © arpa data gmbh
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Vierter Band.

Fünftes Capitel.

Der Anti-Platonismus in nuce.

Was ist das Schöne? Was ist das Gute? — Ehe wir diese Frage beantworten können, müssen wir, däucht mich, vorher fragen: was ist das, was die Menschen schön und gut nennen? Wir wollen vom Schönen anfangen. Was für eine unendliche Verschiedenheit in den Begriffen, die man sich bei den verschiedenen Völkern des Erdbodens von der Schönheit macht! Alle Welt kommt darin überein, daß ein schönes Weib das schönste unter allen Werken der Natur sey. Allein wie muß sie seyn, um für eine vollkommne Schönheit in ihrer Art gehalten zu werden? Hier fängt der Widerspruch an. Stelle dir eine Versammlung von so vielen Liebhabern vor, als es verschiedene Nationen unter verschiedenen Himmelsstrichen gibt; was ist gewisser als daß ein jeder den Vorzug seiner Geliebten vor den übrigen behaupten wird? Der Europäer wird die blendende Weiße, der Mohr die rabengleiche Schwärze

der seinigen vorziehen; der Grieche wird einen kleinen Mund, eine Brust, die mit der hohlen Hand bedeckt werden kann, und das angenehme Ebenmaß einer feinen Gestalt; der Afrikaner die eingedrückte Nase, die ölichte Haut und die aufgeschwollenen Lippen; der Perser die großen Augen und den schlanken Wuchs; der Seerer die kleinen Augen, den runden Wanst und die winzigen Füße, an der seinigen bezaubernd finden. Hat es vielleicht mit dem Schönen im sittlichen Verstande, mit dem was sich geziemt, eine andre Bewandtniß? Ich glaube nein. Die Spartanischen Jungfrauen scheuen sich nicht in einem Aufzuge gesehen zu werden, wodurch in Athen die geringste öffentliche Metze sich entehrt hielte. In Persien würde ein Frauenzimmer, das an einem öffentlichen Orte sein Gesicht entblößte, eben so angesehen werden, als in Smyrna eine die sich ohne alle Kleidung sehen ließe. Bei den morgenländischen Völkern erfordert der Wohlstand eine Menge von Beugungen und unterthänigen Gebärden, die man gegen diejenigen macht die man ehren will; wir Griechen finden diese Höflichkeit eben so schändlich und sklavenmäßig, als die Attische Urbanität zu Persepolis grob und bäurisch scheinen würde. Bei den Griechen hat eine Freigeborne ihre Ehre verloren, die sich den jungfräulichen Gürtel von einem andern als ihrem Manne auflösen läßt; bei gewissen Völkern jenseits des Ganges ist ein Mädchen desto vorzüglicher, je mehr es Liebhaber gehabt hat, die seine Reizungen aus Erfahrung anzurühmen wissen. Diese Verschiedenheit der Begriffe vom sittlichen Schönen zeigt sich nicht nur in besondern Gebräuchen und Gewohnheiten verschiedener Völker, wovon sich die Beispiele ins Unendliche häufen

ließen; sondern selbst in dem Begriffe, den sie sich überhaupt von der Tugend machen. Bei den Römern ist Tugend und Tapferkeit einerlei; bei den Athenern schließt dieses Wort alle Arten von nützlichen und angenehmen Eigenschaften in sich. Zu Sparta kennt man keine andre Tugend als den Gehorsam gegen die Gesetze; in despotischen Reichen keine andre, als die sklavische Unterthänigkeit gegen den Monarchen und seine Satrapen; am Kaspischen Meere ist der tugendhafteste, der am besten rauben kann und die meisten Feinde erschlagen hat; in dem wärmsten Striche von Indien hat nur der die höchste Tugend erreicht, der sich durch eine völlige Unthätigkeit, ihrer Meinung nach, den Göttern ähnlich macht.Was folget nun aus allen diesen Beispielen? Ist nichts an sich selbst schön oder recht? Gibt es kein gewisses Modell, wonach dasjenige, was schön oder sittlich ist, beurtheilt werden muß? Wir wollen sehen. Wenn ein solches Modell ist, so muß es in der Natur seyn. Denn es wäre Thorheit, sich einzubilden, daß irgend ein Pygmalion eine Bildsäule schnitzen könne, welche schöner wäre, als die berühmte Phryne, die sich der Vollkommenheit aller Formen ihrer Gestalt dermaßen bewußt war, daß sie kein Bedenken trug eine unendliche Menge von Augen zu Richtern darüber zu machen, als sie an einem Feste der Eleusinischen Göttinnen sich, bloß in ihre langen fliegenden Haare eingehüllt, öffentlich im Meere badete. Gewiß ist die Venus eines jeden Volks nichts anders als die Abbildung derjenigen Frau, bei welcher sich, nach dem allgemeinen Urtheile dieses Volks, die Nationalschönheit im höchsten Grade befinden würde. Aber welches unter so vieler !erler Modellen ist

denn an sich selbst das schönste? Wer soll unter so vielen, die an den goldnen Apfel mit anscheinend gleichem Recht Anspruch machen, den Ausschlag geben? Wir wollen es versuchen. Gesetzt, es würde eine allgemeine Versammlung angestellt, wozu eine jede Nation den schönsten Mann und das schönste Weib, nach ihrem Nationalmodell zu urtheilen, geschickt hätte, und wo die Weiber zu entscheiden hätten, welcher unter allen diesen Mitwerbern um den Preis der Schönheit der schönste Mann, und die Männer, welche unter allen das schönste Weib wäre. Dieß vorausgesetzt, sage ich, man würde gar bald diejenigen aus allen übrigen aussondern, die unter diesen wilden und gemäßigten Himmelsstrichen geboren worden wären, wo die Natur allen ihren Werken ein feineres Ebenmaß der Gestalt und eine angenehmere Mischung der Farben zu geben pflegt. Denn die vorzügliche Schönheit der Natur in den gemäßigten Zonen erstreckt sich vom Menschen bis auf die Pflanzen. Unter diesen Auserlesenen von beiden Geschlechtern würde vielleicht der Vorzug lange zweifelhaft seyn; allein endlich würde doch unter den Männern derjenige den Preis erhalten, bei dessen Landsleuten die verschiednen gymnastischen Uebungen ohne Uebermaß und in dem höchsten Grade der Vollkommenheit getrieben würden; und alle Männer würden mit Einer Stimme diejenige für die Schönste unter den Schönen erklären, die von einem Volke abgeschickt worden wäre, welches bei der Erziehung der Töchter die möglichste Entwicklung und Pflege der natürlichen Schönheit zur Hauptsache machte. Der Spartaner würde also vermuthlich für den schönsten Mann, und die Perserin für das schönste Weib erklärt werden. Der

Grieche, welcher der Anmuth den Vorzug vor der Schönheit gibt, weil die Griechischen Weiber mehr reizend als schön sind, würde nichtsdestoweniger zu eben der Zeit, da sein Herz einem Mädchen von Paphos oder Milet den Vorzug gäbe, bekennen müssen, daß die Perserin schöner sey; und eben dieses würde der Serer thun, ob er gleich das dreifache Kinn und den Wanst seiner Landsmännin reizender finden würde.Vermuthlich hat es die nämliche Bewandtniß mit dem sittlichen Schönen. So groß auch hierin die Verschiedenheit der Begriffe unter verschiednen Zonen ist, so wird doch schwerlich geleugnet werden können, daß der Preis der Sitten derjenigen Nation gebühre, welche die geistreichste, die ausgebildetste, die belebteste, geselligste und angenehmste ist. Die ungezwungene und einnehmende Urbanität des Atheners muß einem jeden Fremden angenehmer seyn, als die abgemessene, ernsthafte und ceremonielle Höflichkeit des Morgenländers. Das verbindliche Wesen, der Schein von Leutseligkeit, den jener seinen kleinsten Handlungen zu geben weiß, muß vor dem steifen Ernst des Persers, oder der rauhen Gutherzigkeit des Skythen eben so sehr den Vorzug erhalten, als der Putz einer Dame von Smyrna, der die Schönheit weder ganz verhüllt, noch ganz den Augen Preis gibt, vor der Vermummung der Morgenländerin, oder der thierischen Blöße einer Wilden. Das Muster der aufgeklärtesten und geselligsten Nation scheint also die wahre Regel des sittlichen Schönen, oder des Anständigen zu seyn, und Athen und Smyrna sind die Schulen, worin man seinen Geschmack und seine Sitten bilden muß.

Allein nachdem wir eine Regel für das Schöne gefunden haben, was für eine werden wir für das, was Recht ist, finden? wovon so verschiedene und widersprechende Begriffe unter den Menschen herrschen, daß eben dieselbe Handlung, die bei dem einen Volke mit Lorberkränzen und Statuen belohnt wird, bei dem andern eine schmähliche Todesstrafe verdient, und daß kaum ein Laster ist, welches nicht irgendwo seinen Altar und seinen Priester habe. Es ist wahr, die Gesetze sind bei dem Volke, welchem sie gegeben sind, die Richtschnur des Rechts und Unrechts; allein, was bei diesem Volke durch das Gesetz befohlen wird, wird bei einem andern durch das Gesetz verboten.Die Frage ist also: gibt es nicht ein allgemeines Gesetz, welches bestimmt, was an sich selbst Recht ist? Ich antworte Ja; und dieses allgemeine Gesetz, was könnt' es anders seyn als die Stimme der Natur, die zu einem jeden spricht: suche dein eigenes Bestes; oder mit andern Worten: befriedige deine natürlichen Begierden, und genieße so viel Vergnügen als du kannst. Dieß ist das einzige Gesetz, das die Natur dem Menschen gegeben hat; und so lang er sich im Stande der Natur befindet, ist das Recht, das er an alles hat, was seine Begierden verlangen, oder was ihm gut ist, durch nichts anders als das Maß seiner Stärke eingeschränkt; er darf alles, was er kann, und ist keinem andern etwas schuldig. Allein der Stand der Gesellschaft, welcher eine Anzahl von Menschen zu ihrem gemeinschaftlichen Besten vereiniget, setzt zu jenem einzigen Gesetze der Natur: suche dein eigenes

Bestes, die Einschränkung: ohne einem andern zu schaden. Wie also im Stande der Natur einem jeden Menschen alles recht ist, was ihm nützlich ist: so erklärt im Stande der Gesellschaft das Gesetz alles für unrecht und strafwürdig, was der Gesellschaft schädlich ist; und verbindet hingegen die Vorstellung eines Vorzugs und belohnungswürdigen Verdienstes mit allen Handlungen, wodurch der Nutzen oder das Vergnügen der Gesellschaft befördert wird.Die Begriffe von Tugend und Laster gründen sich also einestheils auf den Vertrag, den eine gewisse Gesellschaft unter sich gemacht hat, und insoferne sind sie willkürlich; anderntheils auf dasjenige, was einem jeden Volke nützlich oder schädlich ist; und daher kommt es, daß ein so großer Widerspruch unter den Gesetzen verschiedener Nationen herrschet. Das Klima, die Lage, die Regierungsform, die Religion, das eigne Temperament und der Nationalcharakter eines jeden Volks, seine Lebensart, seine Stärke oder Schwäche, seine Armuth oder sein Reichthum, bestimmen seine Begriffe von dem, was ihm gut oder schädlich ist. Daher diese unendliche Verschiedenheit des Rechts oder Unrechts unter den polizirten Nationen; daher der Contrast der Moral der glühenden Zonen mit der Moral der kalten Länder, der Moral der freien Staaten mit der Moral der despotischen Reiche, der Moral einer armen Republik, welche nur durch den kriegerischen Geist gewinnen kann, mit der Moral einer reichen, die ihren Wohlstand dem Geiste der Handelschaft und dem Frieden zu danken hat; daher endlich die Albernheit der Moralisten, welche sich den Kopf

zerbrechen, um zu bestimmen, was für alle Nationen recht sey, ehe sie die Auflösung der Aufgabe gefunden haben, wie man machen könne, daß ebendasselbe für alle Nationen gleich nützlich sey.Die Sophisten, deren Sittenlehre sich nicht auf abgezogene Ideen, sondern auf die Natur und wirkliche Beschaffenheit der Dinge gründet, finden die Menschen an einem jeden Orte so, wie sie seyn können. Sie schätzen einen Staatsmann zu Athen, an sich selbst, nicht höher als einen Gaukler zu Persepolis, und eine Matrone von Sparta ist in ihren Augen kein vortrefflicheres Wesen als eine Lais zu Korinth. Es ist wahr, der Gaukler würde zu Athen, und die Lais zu Sparta schädlich seyn; allein ein Aristides würde zu Persepolis, und eine Spartanerin zu Korinth, wo nicht eben so schädlich, doch wenigstens ganz unnützlich seyn. Die Idealisten, wie ich diese Philosophen zu nennen pflege, welche die Welt nach ihren Ideen umschmeissen wollen, bilden ihre Lehrjünger zu Menschen, die man nirgends für einheimisch erkennen kann, weil ihre Moral eine Gesetzgebung voraussetzt, welche nirgends vorhanden ist. Sie bleiben arm und ungeachtet, weil ein Volk nur demjenigen Hochachtung und Belohnung zuerkennt, der seinen Nutzen befördert, oder doch zu befördern scheint; ja, sie werden als Verderber der Jugend und als heimliche Feinde der Gesellschaft angesehen, und die Landesverweisung oder der Giftbecher ist zuletzt alles, was sie für die undankbare Bemühung davon tragen, die Menschen zu entkörpern, um sie in die Classe der mathematischen Punkte, Linien und Dreiecke zu erheben. Klüger als

diese eingebildeten Weisen, die, wie jener Citherschläger von Aspendus, nur in und für sich selbst musiciren, überlassen die Sophisten den Gesetzen eines jeden Volks, ihre Bürger zu lehren was Recht oder Unrecht sey. Da sie selbst zu keinem besondern Staatskörper gehören, so genießen sie die Vorrechte eines Weltbürgers; und indem sie den Gesetzen und der Religion eines jeden Volks, bei dem sie sich befinden, diejenige Achtung bezeigen, welche sie vor allen Ungelegenheiten mit den Handhabern derselben sichert, so erkennen und befolgen sie doch in der That kein andres als jenes allgemeine Gesetz der Natur, welches dem Menschen sein eignes Bestes zur einzigen Richtschnur gibt. Alles, wodurch ihre natürliche Freiheit eingeschränkt wird, ist die Beobachtung einer nützlichen Klugheit, die ihnen vorschreibt, ihren Handlungen die Farbe, den Schnitt und die Auszierung zu geben, wodurch sie denjenigen, mit welchen sie zu thun haben, am gefälligsten werden. Das moralische Schöne ist für unsre Handlungen eben das, was der Putz für unsern Leib; und es ist eben so nöthig, seine Aufführung nach den Vorurtheilen und dem Geschmack derjenigen zu modeln, mit denen man lebt, als es nöthig ist sich so zu kleiden wie sie. Ein Mensch, der nach einem gewissen besondern Modell gebildet worden ist, sollte, wie die wandelnden Bildsäulen des Dädalus, an seinen väterlichen Boden angefesselt werden; denn er ist nirgends an seinem Platz als unter seinesgleichen. Ein Spartaner würde sich nicht besser schicken die Rolle eines obersten Sklaven des Artaxerxes zu spielen, als ein Sarmata sich schickte Polemarchos (Kriegsminister) zu Athen

zu seyn. Der Weise hingegen ist der allgemeine Mensch, der Mensch, dem alle Farben, alle Umstände, alle Verfassungen und Stellungen anstehen; und er ist es eben darum, weil er keine besondern Vorurtheile und Leidenschaften hat, weil er nichts als ein Mensch ist. Er gefällt allenthalben, weil er, wohin er kommt, sich die Vorurtheile und Thorheiten gefallen läßt, die er antrifft. Wie sollte er nicht geliebt werden, er, der immer bereit ist sich für die Vortheile andrer zu beeifern, ihre Begriffe zu billigen, ihren Leidenschaften zu schmeicheln? Er weiß daß die Menschen von nichts überzeugter sind als von ihren Irrthümern, nichts zärtlicher lieben als ihre Fehler, und daß es kein gewisseres Mittel gibt sich ihr Mißfallen zuzuziehen, als wenn man ihnen eine Wahrheit entdeckt, die sie nicht wissen wollen. Weit entfernt also, ihnen die Augen wider ihren Willen zu eröffnen, oder einen Spiegel vorzuhalten, der ihnen ihre Häßlichkeit vorrückte, bestärkt er den Thoren in dem Gedanken, daß nichts abgeschmackter sey als Verstand zu haben; den Verschwender in dem Wahne, daß er großmüthig, den Knicker in dem Gedanken, daß er ein guter Haushalter, die Häßliche in der süßen Einbildung, daß sie desto geistreicher, und den Großen und Reichen in der Ueberredung, daß er ein Staatsmann, ein Gelehrter, ein Held, ein Gönner der Musen, ein Liebling der Schönen, kurz alles was er wolle, sey. Er bewundert das System des Philosophen, die einbildische Unwissenheit des Hofmanns und die großen Thaten des Generals. Er gestehet dem Tanzmeister ohne Widerrede zu, daß Cimon der größte Mann in Griechenland gewesen wäre, wenn er — die

Füße besser zu setzen gewußt hätte; und dem Maler, daß man mehr Genie braucht, ein Zeuxis, als ein Homer zu seyn. Diese Art mit dem Menschen umzugehen ist von unendlich größerm Vortheil als man beim ersten Anblick denken sollte. Sie erwirbt uns ihre Liebe, ihr Zutrauen, und eine desto größere Meinung von unserm Verdienste, je größer diejenige ist, die wir von dem ihrigen zu haben scheinen. Sie ist das gewisseste Mittel zu den höchsten Stufen des Glücks empor zu steigen. Meinest du, daß es die größten Talente, die vorzüglichsten Verdienste seyen, die einen Archonten, einen Heerführer, einen Satrapen, oder den Günstling eines Fürsten machen? Siehe dich in den Republiken um: du wirst finden, daß der eine sein Ansehen der lächelnden Miene zu danken hat, womit er die Bürger grüßt; ein andrer der ansehnlichen Peripherie seines Wanstes; ein dritter der Schönheit seiner Gemahlin, und ein vierter seiner brüllenden Stimme. Gehe an die Höfe: du wirst Leute finden, welche das Glück worin sie schimmern, der Empfehlung eines Kammerdieners, der Gunst einer Dame die sich für ihre Talente verbürgt hat, oder der Gabe des Schlafs schuldig sind, womit sie befallen werden, wenn der Vezier mit ihren Weibern scherzt. Nichts ist in diesem Lande der Bezauberungen gewöhnlicher, als einen unbärtigen Knaben in einen Feldherrn, einen Gaukler in einen Staatsminister, einen Kuppler in einen Oberpriester verwandelt zu sehen; ja, ein Mensch ohne alle sittlichen Verdienste kann oft durch ein einziges Talent, welches er vielleicht nicht einmal gestehen darf, zu einem Glücke gelangen, das ein andrer durch die größten Verdienste vergeblich zu erhalten gesucht hat.

Wer könnte demnach zweifeln, daß die Kunst der Sophisten nicht fähig seyn sollte, ihrem Besitzer auf diese oder jene Art die Gunst des Glücks zu verschaffen? — Vorausgesetzt, daß er die natürlichen Gaben besitze, ohne welche der Mann von Verstand allezeit dem Narren Platz machen muß, der damit versehen ist. Allein selbst auf dem Wege der Verdienste ist niemand gewisser sein Glück zu machen, als er. Wo ist das Amt, das er nicht mit Ruhm bekleiden wird? Wer ist geschickter die Menschen zu regieren, als derjenige, der am besten mit ihnen umzugehen weiß? Wer schickt sich besser zu öffentlichen Unterhandlungen? Wer ist fähiger Rathgeber eines Fürsten oder Demagog eines unabhängigen Volks zu seyn? Ja, wofern er nur das Glück auf seiner Seite hat, wer wird mit größerm Ruhm ein Kriegsheer anführen? Wer die Kunst besser verstehen, sich für die Geschicklichkeit und die Verdienste seiner Untergebenen belohnen zu lassen? Wer die Vorsicht, die er nicht gehabt, die klugen Anstalten, die er nicht gemacht, die Wunden, die er nicht bekommen hat, besser gelten zu machen wissen, als er?Doch, es ist Zeit einen Discurs zu enden, der für uns beide ermüdend zu werden anfängt. — Ich habe dir genug gesagt, um den Zauber zu vernichten, den die Schwärmerei auf deine Seele geworfen hat; und wenn dieß nicht genug ist, so würde alles überflüssig seyn, was ich hinzu thun könnte.Glaube übrigens nicht, Kallias, daß der Orden der Sophisten einen unansehnlichen Theil der menschlichen Gesellschaft mache. Die Anzahl derjenigen, die unsre Kunst ausüben, ist in allen Standen sehr beträchtlich, und du wirst unter hundert,

die ein großes Glück gemacht haben, schwerlich einen einzigen finden, der es nicht einer geschickten Anwendung unsrer Grundsätze zu danken habe. Diese Grundsätze machen (wiewohl sie aus Klugheit nicht laut bekannt oder eingestanden werden) die gewöhnliche Denkungsart der Höflinge, der Leute die sich dem Dienste der Großen gewidmet haben, und überhaupt derjenigen Classe von Menschen aus, die an jedem Orte die Ersten und Angesehensten sind, und (die wenigen Fälle ausgenommen, wo das spielende Glück durch einen blinden Wurf einen Narren an den Platz eines klugen Menschen fallen läßt) sind die geschickten Köpfe, die von diesen Maximen den besten Gebrauch zu machen wissen, allezeit diejenigen, die es auf der Bahn der Ehre und des Glücks am weitesten bringen.

—————