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C.M. Wieland's Werke.

Fünfundzwanzigster Band.

Zusatz.

Diese Erzählungen erschienen anfangs unter dem Titel: Moralische Erzählungen, wiewohl sie (wie der Augenschein lehrt) nichts weniger als Nachahmungen der Contes moraux des berühmten Marmontel sind, welche der junge Dichter damals noch nicht kannte. Man hat aber dieses Beiwort schon in der Ausgabe von 1770 weggelassen, weil es den eigenen Charakter derselben nicht bezeichnet und sie weder von den spätern Erzählungen und Mährchen des Verfassers selbst, noch von den meisten Compositionen andrer Dichter, die in dieses Fach gehören, gehörig unterscheidet; denn in gewissem Sinne kann man sogar die Erzählungen des Bocaccio und die Mährchen der Dame D'Aulnoy moralisch nennen. Eher möchte sich das Beiwort empfindsam (sentimental Tales) für sie geschickt haben, wenn (außerdem, daß dieses Wort durch einen zu häufigen Mißbrauch eine Art von Zweideutigkeit bekommen hat) ein solcher Titel ihnen nicht ein gewisses air de prétention gegeben hätte, das ihre kunstlose Einfalt und Unschuld gerade so kleiden würde, wie ein Hofgala-Kleid ein ehrliches Landmädchen oder eine Geßner'sche Schäferin. Man muß sich zur Empfindsamkeit, eben so wenig als zur Grazie, durch einen Aushängeschild anheischig machen.

Man hat es also bei der allgemeinen Benennung bewenden lassen, und dieß um so mehr, da schwerlich jemand, der sie lesen wird, verlegen seyn kann, das, was sie von allen andern Erzählungen unterscheidet, auszufinden, und da gerade das, was ihren Werth ausmacht, auch den Grund enthält, warum es sehr schwer seyn dürfte, ihre specifische Differenz durch ein einziges Beiwort auszudrücken.Der Verfasser gesteht übrigens, daß er sich nicht erwähren kann, vor andern Producten seiner Jugend diese Erzählungen mit einer gewissen Vorliebe anzusehen, weil er sich der glücklichen Gemüthsstimmung, in welcher sie aus seiner Seele hervorgingen, in der jetzigen Epoche seines Lebens nicht ohne Rührung und Vergnügen erinnern kann. Er hat es sich auch daher nicht versagen wollen, sie von den verschiedenen Jugendfehlern, die ihnen noch häufig anklebten, so viel ihm möglich war, zu befreien; und er hofft, daß ihm diese Bemühung wenigstens bei den beiden letzten (Serena und Selim) geglückt sey, die ihm derselben vorzüglich werth zu seyn schienen.Geschrieben am 16 Junius 1797.

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