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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Zweiundzwanzigster Band.

8. Brief.

S. 57. Induction — Fortleitung, nennt man diejenige Lehr- oder Beweisart, welche von einem bekannten Einzelnen ausgeht und so viel Gleiches nach einander hinzubringt, daß daraus das ihnen gemeinsame Allgemeine gefolgert werden kann. — Neben der Induction bediente sich Sokrates aber auch der Analogie, zufolge welcher aus der Gleichheit in Mehrerem aus Gleichheit des Ganzen geschlossen wird.Sehr treffend unterscheidet Wieland hier des Sokrates Lehrmethode von seiner Streitmethode, der Ironie, die man mit einander so sehr verwechselt hatte, daß wenig fehlte, man hätte allen Katecheten Ironie zugemuthet. Vielleicht hat man's gar gethan,Nur in dem, was Wieland hier von der Sokratischen Seelen-Entbindungskunst (Mäeutik) sagt, scheint er mir nicht erschöpfend: es ist jedoch hier der Ort nicht, das Gesagte zu berichtigen. Darum genüge die Bemerkung, daß diese zusammenhängt mit seinem Glauben an Präexistenz der Seelen und mit dem Satze, daß unser Erlernen ein Wiedererinnern sey. Bei der Untersuchung wird man von dem Satze ausgehen müssen, daß sich auch eine Seele nur von dem entbinden läßt, was sie in sich wirklich von Natur hat. Die Mäeutik kann sich daher nur auf mathematische und philosophische Erkenntnisse, nicht aber auf empirische und historische Kenntnisse beziehen, woraus von selbst folgt, daß man mit Induction und Fragkunst (Erotematik) dabei nicht auskommt.S. 63. Der folgende Dialog — Dieses Gespräch zwischen Sokrates und Euthydemus ist von Wort zu Wort das nämliche, welches im sechsten Abschnitt des vierten Buchs der Sokratischen Denkwürdigkeiten zu lesen ist. Aristipp sowohl als Xenophon erzählen es, als ob sie dabei zugegen gewesen, welches sehr wohl statt haben konnte, da Xenophon sich nicht eher als im vierten Jahre der hier und neunzigsten Olympiade von Athen entfernte, um unter den Griechischen Hülfstruppen, welche der jüngere Cyrus zum Behuf seiner Unternehmung gegen den König seinen Bruder angeworben hatte, Dienste zu nehmen. Xenophon und Aristipp konnten sich also etliche Jahre lang öfters in Gesellschaft des Sokrates gesehen haben, wiewohl die große Verschiedenheit ihrer Sinnesart und der Umstand, das Xenophon damals schon ein Mann von funfzig Jahren war, und überhaupt einen ganz andern Weg im Leben ging als Aristipp, Ursache seyn mochte, daß beide einander immer fremd und gleichgültig geblieben; nur mit dem Unterschied, daß

dieser Mangel an Sympathie Aristippen nicht verhinderte, dem Xenophon bei jeder Gelegenheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dieser hingegen in mehr als einer Stelle der Memorabilien elne Abneigung gegen jenen verräth, die sogar der Billigkeit Abbruch thut, welche man sonst in seiner Art, selbst von sehr tadelhaften Menschen zu urtheilen, wahrnehmen kann. W.