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DER WEG DER CHIRURGIE VOM HANDWERK ZUR WISSENSCHAFT

Rektoratsrede gehalten an der 101. Stiftungsfeier der Universität Bern

am 23. November 1935
von
PROF. DR. F DE QUERVAIN
PAUL HAUPT BERN
Akademische Buchhandlung vormals Max Drechsel 1936

In wiefern ist die Chirurgie, deren Name "Handwerk" bedeutet, auch Wissenschaft?

Die Geschichtskundigen unter Ihnen werden denken, diese Frage komme um ein Jahrhundert zu spät. Der Chirurg ist in Bern in der Tat vor 100 Jahren, beim Anlass der Gründung der Universität, endgültig von der gesetzlichen Vormundschaft der innern Medizin befreit und als selbständiges Mitglied der Fakultät: erklärt worden. Trotz dieses zeitlichen Abstandes lohnt es sich aber, einen Blick auf jenen Entwicklungsprozess zu werfen, welcher die Heilkunst für Jahrhunderte in zwei Lager gespalten und nach langen Kämpfen wieder vereinigt hat. Ein solcher Rückblick hat nicht nur historisches Interesse, sondern er ruft ganz von selbst einem Ausblick auf die zukünftige Entwicklung, deren Linien durch die Vergangenheit mitbestimmt sind.

Die Urmedizin kannte gewiss noch keine Unterscheidung der Heilhandlungen in solche verschiedener Dignität. Sowie aber ein Geistesleben zu keimen begann, stellten sich die Vertreter desselben über das Handwerk und bekundeten so den Vorrang des Geistes über die rohe Gewalt. Der Priesterarzt erhob sich damit ganz von selbst über den Heiltechniker. Der Nimbus des Mysteriösen sicherte ihm ein solches Privileg trotz der Unentbehrlichkeit des handwerksmässigen Arztes, der in körperlichen Nöten sicherer zu helfen verstand, als der Priesterarzt mit seinen Sprüchen.

Aus der objektiven Würdigung der Bedeutung der Chirurgie gingen wohl auch die strengen Examensvorschriften Zarathustras

für die Priesterärzte hervor, welche sich in der Chirurgie betätigen wollten. Die Chirurgie sollte durch ihre Eingliederung in den Rang der geistlichen Medizin gehoben oder es sollte der Priesterarzt durch die Ausbildung in der Chirurgie konkurrenzfähig gemacht werden.

Je mehr der Einfluss des Priesterstandes zurück ging, um so mehr verwischten sich die Kastenschranken zwischen Medizin und Chirurgie, und schon in den Schriften der hippokratischen Schule, 400-300 Jahre vor unserer Zeitrechnung, wird der Chirurgie, soweit es eine solche gab, eine ebenso grosse Beachtung zuteil, wie der inneren Medizin. Stammt doch der erste uns bekannte orthopädische Tisch von dem grossen Meister Hippokrates, oder wenigstens aus seiner Schule. In den alexandrinischen Schulen — vom dritten vorchristlichen Jahrhundert weg — finden wir keine Zeichen mehr von einer Hierarchie der verschiedenen medizinischen Fächer. Alexandrien übernahm das Erbe der alten griechischen Aerzteschulen sowohl nach ihrer praktischen, handwerksmässigen, wie nach ihrer wissenschaftlichen Seite hin, und die Grundlage zu einer Weiterentwicklung der Heilkunst im heutigen Sinne war gegeben.

Da trat aber die Weltgeschichte dazwischen, der Untergang des Römischen Reiches und der Aufstieg des Christentums. An die Stelle der Forschung traten andere Aufgaben. und andere Interessen. Anderthalb Jahrtausend lang beschränkte sich die Menschheit in der Heilkunde beinahe nur auf Sammeln und Weitergeben alten Gutes. Das Bedürfnis nach eigenem Erkennen und eigenem Lesen im Buche der Natur war bei den meisten geschwunden. Es genügte, dass Aristoteles, Theophrast, die Alexandriner geforscht, und dass Galen samt den Arabern das klassische Gut weitergegeben hatten. Jahrhundertelang fanden die Vertreter der Heilkunst ihre Befriedigung in dem scholastischen, geistreich sein wollenden, aber in Wirklichkeit oft geistesarmen Erörtern der alten Texte.

Das Bedürfnis einzelner freier Geister nach eigenem Forschen und eigenem Erkennen zerbrach an der Gewalt des Staates und der Kirche. Eine solche Entwicklung musste Chirurgie und

Medizin wieder auseinanderbringen, denn wo der Mediziner diskutierte, musste der Chirurg handeln. Dem "Schnittarzt" wurde vom Volksmunde bösartig der innere Mediziner als "Maularzt" gegenübergestellt. Salerno, die unchristlichste unter den Medizinschulen, hielt die Heilkunst am längsten zusammen. In Frankreich begann sie zuerst auseinander zu fallen, und zwar vor allem unter dem Einfluss von Paris. Die Chirurgie sank so in die Rolle der "niedrigsten Magd" der Medizin zurück. Der innere Mediziner hielt sich für den Arzt im eigentlichen Sinne, den "Medicus purus" und für den geistigen Erben der Alten. Paris wurde immer mehr und blieb weit über die Renaissance hinaus das geistige Zentrum der Scholastik und die hartnäckige Gegnerin der Gleichberechtigung der Chirurgie. Diese hatte aber unter Roger von Salerno, Wilhelm von Saliceto, Lanfranco und Arnaldo de Villanova schon einen solchen Vorsprung in der allgemeinen Achtung gewonnen, dass sie sich nicht einfach unterdrücken liess. Sie machte sogar, der Scholastik zum Trotz, im 13. Jahrhundert Paris zu ihrem Hauptquartier, und Arnaldo, wie Henry de Mandeville verliehen dem Collège de Saint Côme, der Pariser Chirurgenschule, seinen ersten Glanz. Diese Chirurgen und ihre Nachfolger, wie Guy de Chauliac, die gleichzeitig Aerzte im besten Sinne des Wortes waren, strebten alle nach der Wiedervereinigung von Medizin und Chirurgie. Jahrhundertelang dauerte der Streit. Die Chirurgie hätte darob verkümmern müssen, wenn sie nicht — zum Teil unter dem Zwang der Kriegsnotwendigkeiten — durch bedeutende Männer aus dem Stande der Feldscherer und der Bruchschneider, wie Ambroise Paré, Pierre Franco, immer wieder in die Höhe gebracht worden wäre. In ihrer praktischen Ausführung blieb sie allerdings, trotz vereinzelter Grössen, auch in Frankreich noch lange in den Händen von Ungebildeten.

Noch schlimmer stand es mit der mittelalterlichen und Renaissance-Chirurgie im deutschen Sprachgebiete, welchem eine Schule wie Paris fehlte und wo sich die Schärer,. Barbierer, die Bader, die wandernden Stein-, Bruch- und Starschneider, und endlich die Henker und Schinder in die Ausübung des Berufes

teilten und ihr vielerorts nicht einmal als "ehrlich" anerkanntes Gewerbe trieben. Auch unter ihnen bildete sich nach und nach eine Hierarchie aus. Dem sesshaften höheren Chirurgen und dem Barbier stand der ambulante Chirurg gegenüber, der seine Kunst von Land zu Land ziehend mit grosser Reklame an den Jahrmärkten ausübte. In der Schweiz trennten sich ferner die Schärer und Barbiere von den Badern. Bern unterscheidet im Inselspital schon früh den Schärer, den Bruchschneider und den Bader. Auch hier wurden die wandernden Bruchschneider nicht hoch eingeschätzt, und doch sei nicht vergessen, dass der erste bedeutende Chirurg in bernischen Landen, und gleichzeitig einer der Reformatoren der Chirurgie der Renaissance, Pierre Franco aus ihnen hervorging. Vom 17. Jahrhundert weg hebt sich, nicht zum mindesten Dank dem Wirken des Zürcher Chirurgen Felix Würtz und des Berner Stadtarztes Fabricius Hildanus, das Niveau des Chirurgen auch im deutschen Sprachgebiet, und damit wird auch hier der Ruf nach der Wiedervereinigung von Medizin und Chirurgie laut.

Das 18. Jahrhundert sieht allmählich den sozialen Aufstieg des Chirurgen. In Frankreich trägt das Lebenswerk des Ambroise Paré seine Früchte. Der Unterricht in der Chirurgie vervollkommet sich, und die französischen Chirurgen, gleich wie die englischen, zeichnen sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch wissenschaftliche Arbeiten aus, welche an Bedeutung denjenigen ihrer medizinischen Kollegen völlig ebenbürtig sind. Die Académie de Chirurgie in Paris blüht und wird 1743 im Rang einer Fakultät gleich gestellt. Chirurgen und Barbiere trennen sich, aber die medizinische Fakultät sträubt sich immer noch gegen die Vereinigung von Medizin und Chirurgie. Der Spott eines Molière hatte noch nicht durchgeschlagen, und die Fakultät war, wie richtig gesagt wurde, ein Stück der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts, das im 17. und wir dürfen sagen noch im 18. Jahrhundert liegen geblieben war, ein "meuble de stylo" von bester Form, das aber nicht mehr in die Zeit passte.

Anderswo stand es mit der offiziellen Anerkennung der Chirurgie nicht besser. Ein Freiburger Professor wurde, wie von Brunn berichtet, von der Studentenschaft mit Misshandlung bedroht, als er 1774 für die Vereinigung der Chirurgie mit: der Medizin eintrat, In Bern müssen die Chirurgen dem Medico ordinario, "vor unternehmen der Operation die Instrumente vorweisen, um zu sehen, ob sie darmit notbedürftig versächen und solche wohlgeschliffen, sauber und reingehalten werden." Diese Vorschriften gelten bis 1809!

Unterdessen waren in Frankreich durch die Revolution die alten medizinischen Institutionen abgeschafft und war die Chirurgie 1792 als selbständig und als mit der Medizin gleichberechtigt erklärt worden. Damit fiel die Vorschrift hinweg, dass die Chirurgen bei Operationen einen "reinen Arzt" beiziehen mussten, dessen einzige Funktion in der Regel eine finanzielle war — das Einziehen seines Honorars.

Politische Ereignisse hatten mit dem Beginn des Mittelalters zur Spaltung der Heilkunst geführt, eine politische Umwälzung besiegelte ihre Wiedervereinigung. Sie räumte mit jenem Kastengeist auf, welcher es dem "reinen Arzt" nicht nur verbot, einen operativen Eingriff vorzunehmen, sondern ihm selbst untersagte, den Patienten einer körperlichen Untersuchung mittelst des Tastsinnes zu unterziehen.

In Bern ging die Entwicklung etwas langsamer vor sich. 1809 wird zwar den beiden Spitalwundärzten das Zugeständnis gemacht, dass sie, statt vor einer wichtigen Operation das Inselkollegium zu beraten, diese Beratung unter sich vornehmen durften. Andererseits müssen sie aber die Geheilten dem Inselkollegium — also den reinen Aerzten vorstellen, und müssen als Nebenaufgabe nicht nur ihre eigenen Patienten, sondern auch diejenigen der medizinischen Abteilung rasieren! 1834 endlich werden sie von der inneren Medizin völlig unabhängig, und wird ihnen auch die innerliche Behandlung der Kranken auf ihrer Station gestattet, — das Rasieren dagegen abgenommen.

Damit hat sich auch bei uns der Kreislauf geschlossen, und innere

Medizin und Chirurgie stehen —ein zweitesmal in der Weltgeschichte — wieder im gleichen Rang, wie am Ausgang des Altertums. Die unmittelbare, notwendige Folge dieser Vereinigung war die Erteilung des gleichen Unterrichtes an alle Aerzte, mochten sie später innere Mediziner, Chirurgen oder Vertreter irgend eines anderen Spezialfaches werden. Die Sonderausbildung in den einzelnen Fächern musste nach der Staatsprüfung in Assistentenstelle an Krankenhäusern erworben werden. In dieser Phase stehen wir noch heute.

Bevor wir die Entwicklung der Chirurgie seit ihrer Wiedervereinigung mit der Medizin verfolgen, wollen wir noch einmal einen Blick rückwärts werfen und wollen sehen, wie sich von der Renaissance weg der Uebergang vom Handwerk zur Wissenschaft nicht nur in der sozialen Stellung und in der ärztlichen Hierarchie, sondern in der Berufsauffassung selbst vollzogen, und wie sich die Chirurgie das Recht zur Gleichberechtigung allmählich erworben hat.

Nicht mehr der Stand der Sterne ist seit dem Ausgang der Renaissance massgebend für die Entscheidung des Chirurgen, sondern der Allgemeinzustand des Kranken und das örtliche Verhalten des Uebels. Es muss abgewogen werden zwischen den Aussichten der unblutigen Behandlung und denjenigen des operativen Eingriffs. Dazu müssen aber die unmittelbaren und die Späterfolge der Operation festgestellt werden, und das erfordert ein sorgfältiges Verfolgen nicht nur vereinzelter Fälle, sondern grösserer Beobachtungsreihen. Ein bischen von diesem elementarsten, wissenschaftlichen Geist ist schon dem gewöhnlichen Handwerker eigen. Der Geselle ist froh, wenn er ein Paar Schuhe schlecht und recht zustande gebracht hat. Der erfahrene Meister denkt weiter, er denkt an Hühneraugen, Plattfuss, Hammerzehe, kurz an alles, was ihm der Kunde später vorwerfen könnte, wenn die Schuhe nicht richtig sässen. Sorgen über das Spätresultat machte sich der Stein-, Bruch-, Starschneider des Mittelalters und der Renaissancezeit kaum, wenn er von Ort zu Ort und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zog, um seine Künste anzupreisen. Die Spätkontrolle verlangt vom

Chirurgen Sesshaftigkeit Sesshaftigkeit und die Möglichkeit, von seinen auswärtigen Patienten Nachricht zu erhalten. Sorgfältige Indikationsstellung auf Grund des Zustandes des Kranken und auf Grund der gemachten Erfahrungen finden wir allerdings schon bei den grossen Chirurgen des Mittelalters; sie bleibt aber noch wahrend der Renaissance in den Händen weniger und fängt erst im 17. und 18. Jahrhundert an, sich zu verallgemeinern.

Der nächste Grad wissenschaftlichen Strebens äussert sich in dem Bedürfnis, nicht nur aus der Erfahrung am Lebenden zu lernen, sondern auch aus den Beobachtungen an der Leiche. Die Leicheneröffnung wird zum Gradmesser der Fortschritte der Heilkunde. Vesal, Pierre Franco, Hildanus machten die ersten öffentlichen Leicheneröffnungen in der Schweiz, und Hildanus weist 1624 mit allem Nachdruck auf die Bedeutung von solchem Studium am Toten für die Behandlung des Lebenden hin, wenn er sagt:

"Ist der Leib den Würmern verordnet, soll er in der Erden zerfallen und erfaulen, wie kann es dann unchristlich gehandelt sein, wann wir auff den Todten erfahren und erlernen, wie wir uns bey den Lebendigen in schwären Bresten und Zufällen halten müssen?"

Er rechnet es seinem Lehrer Griffon in Genf besonders hoch an, dass er vor schweren Operationen "vor dem Schnitt den bresthaften Ort an einem Toten fleissig anatomiert und besehen," und erwähnt "zum ewigen Ruhm der Stadt Genf," dass sie solchen anatomischen Studien, "so oft es von Nöten war, alle Beförderung getan."

Was Hildanus hier vom Studium der normalen Anatomie sagt, das gilt schon bei ihm nicht minder für die Erforschung der Krankheiten an der Leiche, für die pathologische Anatomie, und wir dürfen heute noch den Satz aussprechen, dass kaum etwas anderes in höherem Grade für das wissenschaftliche Interesse des Chirurgen spricht, als seine Anwesenheit bei den Autopsien.

Auch das höchste, aber empfindlichste Instrument der wissenschaftlichen

Forschung, das Experiment begann, besonders in Frankreich und in England, von den Chirurgen wieder zu Ehren gezogen zu werden, nachdem es seit dem Altertum sozusagen vergessen war. So war denn in der Tat der Chirurg zu Ende des 18. Jahrhunderts weit über den Handwerker hinausgewachsen und war dazu vorbereitet, als vollwertiges Mitglied in die medizinische Fakultät einzuziehen.

Die Entwicklung der Chirurgie hat nun im verflossenen Jahrhundert diese öffentliche Anerkennung in vollem Masse gerechtfertigt. Dies führen uns die bernischen bernischen Verhältnisse in vorbildlich klarer Weise vor Augen. Nach Hildanus war es bei uns zwei Jahrhunderte lang in der Chirurgie still geblieben. Auf den ersten gewaltigen Anlauf der wissenschaftlichen Chirurgie folgte eine Periode der reinen Handwerkschirurgie, und wenn zur Zeit der Akademie, von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert weg von Interesse an wissenschaftlichen Bestrebungen gesprochen werden konnte, so blühte dasselbe doch im Verborgenen und trug nur wenig zum allgemeinen Fortschritte bei. Nur für Albrecht von Haller müssen wir eine Ausnahme machen. Was er auf dem Gebiete der Anatomie, der Physiologie, der pathologischen Anatomie zur Chirurgie beitrug, das war Wissenschaft im höchsten Sinne. Haller war aber kein Chirurg und hat nie eine Operation am Menschen ausgeführt.

Nach der Gründung der Hochschule war es ein Deutscher, Hermann Demme, welcher den Impuls geben sollte. Sein wissenschaftlicher Sinn gab sich schon 1840 in seiner Rektoratsrede über Kropf und Kretinismus zu erkennen. Hat er auch selbst nicht viel Geschriebenes hinterlassen, so gehört ihm doch das Verdienst, in der sorgfältigen Untersuchung und Beobachtung der Kranken und unter Benützung aller technischen Fortschritte, zu denen auch die Narkose gehört, die wissenschaftliche Chirurgie in Bern heimisch gemacht zu haben. Sein Nachfolger, Albert Lücke, auch ein Reichsdeutscher, liess nun neben seinen Eigenschaften als hervorragender Praktiker in höherem

Grade auch die wissenschaftliche Forschung zur Geltung kommen, und zwar auch wieder auf dem in Bern sozusagen gegebenen Gebiete des Kropfes und dann auf demjenigen der Geschwulstlehre.

Die volle Entfaltung der Chirurgie als einer Wissenschaft erleben wir unter dem Berner Theodor Kocher. Alle Hilfsgebiete machte er dem wissenschaftlichen Fortschritt dienstbar, nicht zum Mindesten die unter seiner Mithilfe in Bern eingeführte Bakteriologie. In allen Zweigen der theoretischen Wissenschaften holt er sich Beistand, wenn es sich darum handelt, ein schwieriges Problem abzuklären. Wo er auch eingriff, gehörte er zu den Führern, handle es sich um die Kropfforschung, um die chirurgische Asepsis, um die Operationslehre.

Ueberall bedeutete das 19. Jahrhundert für den Chirurgen ein rasches Fortschreiten vom mechanischen Können zum beseelten Wissen, und es erlaubte umgekehrt dem inneren Arzte nun auch etwas mechanisches Können: er durfte bei der Untersuchung seiner Kranken nicht nur sehen, hören und riechen, sondern auch betasten, ohne sich dadurch gegen sein Standesbewusstsein zu verfehlen.

Der Fortschritt in der Chirurgie, den wir eben geschildert haben, ging vor allem in die Tiefe. Dazu kam aber unvermeidlich auch eine Entwicklung in die Breite. Die Antisepsis und die Asepsis, verbunden mit der Schmerzbetäubung erweiterten das Feld der chirurgischen Eingriffe derart, dass die grossen ärztlichen Zentren nicht mehr genügten, und dass eine Vermehrung der Arbeitsstellen, eine Dezentralisation, nötig wurde. Diese Dezentralisation droht sogar mancherorts den durch das allgemeine Interesse gebotenen Grad zu überschreiten.

Wie äussert sich nun der wissenschaftliche Geist bei den Chirurgen einer solchen kleineren, dezentralisierten Anstalt? Nicht notwendig darin, dass er selbst zu Forschung und Fortschritt direkt beiträgt, sondern darin, dass er dem Fortschritt folgt, in stetem Streben nach Erweiterung seines Erkennens und Könnens, im beständigen Zusammenhang mit pathologischer

Anatomie und Bakteriologie als den unentbehrlichen Hilfsmitteln der täglichen Arbeit und den Kontrollmitteln unseres Handelns. Umso besser, wenn er hierzu, wie das auch in unserem Lande häufig geschieht, noch Forscherarbeit fügt und, sei es auch mit den einfachsten Mitteln, zum allgemeinen Fortschritt beiträgt.

Nicht Professoren zu machen ist die Hauptaufgabe unserer Kliniken, sondern diesen wissenschaftlichen Geist zu pflanzen, der für jeden Chirurgen auch in dem bescheidensten Wirkungskreise, die Grundbedingung erfreulicher Arbeit ist. Auch heute noch kann der Chirurg, und zwar trotz seines Spezialistentitels, in den Handwerksbetrieb früherer Jahrhunderte zurücksinken, wenn er sich der Routine ergibt und das Streben nach neuem Erkennen und immer besserem Können in sich verkümmern lässt.

Soll ich nun, wie der geneigte Zuhörer vielleicht erwarten wird, meinen Vortrag mit einem Halleluja auf die wieder unabhängig und wissenschaftlich' gewordene Chirurgie schliessen? Gewiss nicht. Wir wollen uns vielmehr die Frage vorlegen, wie die Entwicklung nun wohl weitergehen wird, sowohl in Bezug auf die Selbständigkeit des Chirurgen, als auf sein wissenschaftliches Forschen.

Ein Jahrhundert lang hat sich der Chirurg seiner Selbständigkeit gefreut und durfte in der Vorstellung leben, dass er mit einigen kleinen Abstrichen die ganze Heilkunst nicht nur als ratender, sondern auch als ausführender Heilkundiger beherrschte. Er hat die Fähigkeit des manuellen Helfens nicht als eine Herabwürdigung, sondern im Gegenteil als einen Vorzug, als einen Ruhmestitel eingeschätzt. Und nun geht die Entwicklung der Heilkunst derart in die Breite, dass seit einem guten Vierteljahrhundert die Chirurgie selbst anfängt, in Unterfächer zu zerfallen, und dass ihren Vertretern der Ueberblick sogar über das eigene Gebiet immer schwerer wird. Dem Privatchirurgen bleibt der einfache Ausweg, sich für ein besonderes Gebiet, z. B. Nervenchirurgie, Knochenchirurgie, Lungenchirurgie zu spezialisieren. Hat aber das Geschick den Mann an

einen Posten gestellt, wo er das ganze Gebiet übersehen, beherrschen und vielleicht auch lehren muss, so geht die Aufgabe an die Grenzen dessen, was dem Einzelnen noch möglich ist.

In dem Masse wie die operativen Indikationen sich erweitern, greift ferner die Chirurgie in Diagnostik, Indikationsstellung und Therapie auf die verschiedensten Gebiete der innern Medizin über, welche für den Chirurgen noch vor einem Vierteljahrhundert mehr oder weniger abseits lagen. Die diagnostischen Methoden verfeinern sich am Krankenbett, im Laboratorium und im Röntgeninstitut, und damit wird auch die Indikationsstellung subtiler, weniger summarisch als früher. Kurz, die Einzelheiten fangen an, über den Erfassungsbereich des Chirurgen hinaus zu gehen. Er muss also beim inneren Mediziner, den wir uns hier noch als eine Einheit vorstellen wollen, Hilfe suchen, nachdem er hundert Jahre lang von Gesetzes wegen von ihm unabhängig gewesen war. Soll dies nun wieder in der alten Form geschehen, in welcher der Chirurg auf Kommando operierte, wo ihm sogar die Art der Operation vorgeschrieben wurde, und wo der innere Mediziner nachsah, ob die Messer gut geschliffen seien? Ein solches Operieren auf Befehl, auch ohne Gesetzesparagraph, wäre des Chirurgen unwürdig. Schon in der Diagnostik gibt ihm die aus der operativen Kontrolle gewonnene Erfahrung einen Vorsprung, auf den er im Interesse des Kranken nicht verzichten darf. Für die Operation geht der innere Mediziner von dem Wünschbaren aus, der Chirurg muss die Durchführbarkeit beurteilen, das Einzelne des Eingriffes mit seinen Gefahren und Tücken, und muss sich auf Grund seiner Erfahrung ein Urteil über das Endresultat bilden können. Er hat also bei der Indikationsstellung das letzte Wort zu sprechen.

Aus der früheren hierarchischen Unterordnung einerseits und der theoretisch wiedergewonnenen Unabhängigkeit andererseits ist so ein freies Zusammenarbeiten geworden, in welchem der Kranke von den Erfahrungen der beiden Nutzen zieht, und in welchem der Horizont und das Wissen des Chirurgen wie des inneren Mediziners erweitert wird.

Welches ist endlich die Zukunft des Chirurgen als wissenschaftlichen Forschers?

Noch vor 50 Jahren waren die Methoden verhältnismässig einfach, und ein gutes Stück Forschungsarbeit konnte vom Chirurgen neben seiner Berufstätigkeit mit einfachen Mitteln geleistet und geleitet werden, um so mehr als die Zahl der Operationen damals noch eine bescheidene war. Heute haben sich die Anforderungen der praktischen Tätigkeit gewaltig gesteigert, aber auch die meisten Forschungsmethoden haben sich kompliziert.

So ist die medizinische Statistik zu einer Sonderwissenschaft geworden, in welche der Forscher sich einarbeiten muss. Manche frühere Statistik ist unbrauchbar, weil entweder die Fragestellung nicht richtig war, oder weil wichtige Punkte ausser acht gelassen wurden. Richtig durchgeführt, gibt die Statistik uns die unbestechliche Kontrolle unserer Leistungen, und zahlenmässige Begriffe treten mehr und mehr an die Stelle jener unbestimmten Eindrücke und übereilten Verallgemeinerungen, deren die Medizin noch so voll ist. Eindrücke und Einzelbeobachtungen sind wertvoll für die wissenschaftliche Fragestellung und können der Forschung eine neue Richtung geben, sie bedürfen aber der zahlenmässigen Ueberprüfung, wenn sie allgemeine Gültigkeit erhalten sollen.

Die Anwendung der Physik und der Chemie, der Biologie in der Laboratoriumsforschung verlangt ein immer neues Sicheinarbeiten, welches zum Pflichtkreis des Physiologen und des Pathologen gehört, für welches aber der Chirurg inmitten seiner praktischen Tätigkeit die nötige Musse oft nicht mehr findet. Sie verlangt auch Apparate und Einrichtungen, welche ihm nicht immer zugänglich sind. Darum zucken bisweilen Chemiker, Physiker und auch Physiologen die Achseln über Arbeiten, welche aus klinischen Instituten hervorgegangen sind. Sie können bis zu einem gewissen Grade Recht haben. Den Kliniker mag es dann trösten, dass die Vertreter der theoretischen Fächer oft auch an eigenen Resultaten aus früherer Zeit Kritik üben müssen — abgesehen noch von der Kritik der Andern.

Soll der praktisch tätige Chirurg dieser vielfachen Hindernisse wegen auf Forschungsarbeit ganz verzichten und seine mühsam erworbene Stellung wieder aufgeben?

Einen solchen Schluss darf man nicht etwa aus der Tatsache ziehen, dass von den Kliniken unabhängige Forschungsinstitute gegründet worden sind. Solche Institute bestehen in verschiedenen Ländern, und sie leisten der Wissenschaft unersetzliche Dienste. Hätten wir aber nur sie, so würde die Forschung ein grosses Defizit verzeichnen. Es gibt nun einmal Probleme, welche sich nur im Zusammenhang mit dem klinischen Beobachtungsmaterial lösen lassen. Dieses Material gibt Anlass zur Fragestellung und gibt auch die Möglichkeit zur Beantwortung von Fragen, für welche das Laboratorium nicht zuständig ist. Dass die Klinik da, wo ihre eigenen Mittel versagen, Unterstützung bei den theoretischen Instituten suchen muss — und sie bei uns stets in bereitwilligster Weise erhalten hat —, das setzt den Wert ihrer Arbeit nicht herunter, sondern erhöht ihn im Gegenteil. So ging die Erforschung des Hirndruckes durch Kocher von der Fragestellung am Krankenbette aus und gehörte zum Teil in das Gebiet der klinischen Beobachtungen, zum Teil aber in dasjenige des physiologischen Experimentes. Sie wurde naturgemäss unter Mithilfe des physiologischen Institutes durchgeführt. Die Erforschung der Schilddrüsenfunktion erhält ihre Hauptanregung von der Klinik und verlangt sorgfältige Beobachtung am Menschen. Sie kann aber physiologischer, physiologisch-chemischer, pathologisch-anatomischer Untersuchungen nicht entbehren, und so wird ein Teil der Arbeit in den Kliniken und in ihren Laboratorien geleistet, ein anderer Teil in theoretischen Instituten oder mit Unterstützung derselben. Aus solchem Zusammenarbeiten geht für alle Beteiligten eine viel grössere Anregung hervor, als durch die Trennung von Klinik und Forschung.

Nicht alle Forschungsarbeit bedarf übrigens komplizierter Einrichtungen und teurer Apparate. Die Untersuchung mit den einfachsten Mitteln ist auch wissenschaftlich, wenn die Fragestellung richtig ist. So stellt die jahrelange Verfolgung unserer

klinischen Patienten an sich schon eine Forschungsquelle dar, welche nicht versiegt und wo immer wieder neue diagnostische, pathogenetische und therapeutische Fragen gelöst werden müssen. Auch wenn noch mehr reine Forschungsinstitute gegründet werden, so bleibt doch die Klinik immer noch ein wissenschaftliches Zentrum erster Ordnung, und es wild auch in Zukunft eine ihrer Hauptaufgaben sein, am Fortschritt mitzuarbeiten. Sie bedarf solcher Arbeit nicht nur wegen des zu erwartenden Erkenntnisgewinns, sondern zur Aufrechterhaltung ihres Willens zum Fortschritt. Jede Routine bedeutet Stillstand und — dem Fortschreitenden gegenüber —Rückschritt. Im Willen zum Fortschritt liegt nicht nur ein intellektuelles Moment, sondern auch eine ethische Pflicht dem Kranken gegenüber. In diesem Sinne spricht der grosse Mystiker Paracelsus das Wort aus: "Der höchste Grund der Arznei ist die Liebe," und er denkt dabei wohl an das Wort jenes andern grossen Mystikers Paulus: "Und wenn ich alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse besässe und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts." Darum ist auch jeder Irrtum, jeder Misserfolg, den wir am Krankenbett zu verzeichnen haben, nicht bloss ein wissenschaftliches Unterliegen, sondern zugleich eine Frage an den Chirurgen als Menschen, wie in in einem nächsten Falle seine Aufgabe besser erfüllen könnte.

Nun hat aber auch das wissenschaftliche Streben seine Grenzen. Je weiter sich der Rahmen der chirurgischen Probleme spannt, um so schwerer wird es dem Einzelnen, überall mitzuarbeiten. Jeder muss sich bestimmte, umgrenzte Gebiete auswählen, die er nicht nur allgemein beherrscht, sondern zu deren Fortschritt er im besonderen beiträgt, und wo er in Lehre und Praxis wegleitend wirken kann.

Diese Auflösung der chirurgischen Forschung in einzelne Teilgebiete, die wieder mit Teilgebieten anderer Fächer, vor allem der inneren Medizin parallel gehen, stellt uns vor eine neue Frage und vielleicht auch an den Beginn einer neuen Entwicklung. Entwicklung. Wird die Heilkunst nicht mit der Zeit die Unterscheidung nach den therapeutischen Mitteln —

innere Medizin, operative Chirurgie und heute noch Strahlentherapie — aufgeben und sich theoretisch richtiger nach Organen und Organsystemen orientieren?

Eine solche Neuorientierung hat zum Teil schon begonnen. Die Gebiete der Augen-, der Ohren- und Kehlkopfkrankheiten haben sich seit mehr als 50 Jahren von der Chirurgie abgetrennt und sind zu Sonderfächern geworden. Lungenspezialisten und Neurologen haben angefangen, auf ihren eigenen Gebieten auch zu operieren. Endokrinologen operieren Kröpfe. Die Urologen haben sich schon längst emanzipiert, und die Magen-Darm-Aerzte gehen den gleichen Weg. Die Begriffe Chirurgie und innere Medizin scheinen damit ihren trennenden Charakter zu verlieren zugunsten der Organheilkunde.

Eine solche Neuordnung verspräche auf dem Gebiete der Forschung wesentliche Vorteile. Sie müsste aber zur Katastrophe für den Kranken werden, wenn sie dazu führte, dass der Arzt den Blick aufs Ganze verlöre. Wie oft sind nicht mehrere Systeme erkrankt, oder lässt sich die Haupterkrankung erst nach eingehender allgemeiner Untersuchung feststellen! Zu wie viel Organspezialisten müsste ein Patient gehen, bis er denjenigen fände, der nicht nur glaubt, der richtige zu sein, sondern der es wirklich ist?

Einer solchen grundsätzlichen Neuordnung stellt sich noch ein Weiteres entgegen: die sehr verschiedene Eignung des Menschen für praktische Dinge. Es kann einer ein vorzüglicher Theoretiker, Forscher, Pharmako- oder Psychotherapeut sein, der praktischen chirurgischen Ader aber völlig entbehren. So wird die beste Organisation sowohl der Wissenschaft wie der Praxis wahrscheinlich immer ein Kompromiss zwischen dem bleiben müssen, was theoretisch als erstrebenswert erscheint und dem, was mit der Leistungsfähigkeit des Menschen im Allgemeinen und der Begabung des Arztes im Einzelnen vereinbar ist.

Welches auch die Organisation der Zukunft sei, so müssen wir feststellen, dass die Chirurgie immer weniger ein scharf

abgegrenztes Arbeits- und Forschungsgebiet darstellt. Ueber ihrem Sonderhimmel wölbt sich der Himmel der ganzen Heilkunst und über diesem die Sphäre des gesamten Naturerkennens von dem die Heilkunst nur ein Teilstück ist. Alles wird endlich überspannt von der Sphäre des Geistigen, von der wir nicht wissen, was sie ist, von der wir aber empfinden, dass sie ist. In dieser Sphäre trifft sich der Arzt als Künstler mit dem Arzt als dem Mann der Wissenschaft und mit dem Arzt als dem Träger der Menschenliebe

Nur der Chirurg erntet den vollen Dank des Kranken, der ihm auch aus dieser Sphäre etwas zu vermitteln vermag, und nur durch eine solche Hilfeleistung macht sich das "Handwerk" des Chirurgen in vollem Masse des Privilegs würdig, in die Universitas literarum aufgenommen zu sein.