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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DIE GESCHICHTE DES ZWEITEN SCHEICHS

Wisse, o Herr der Könige der Dämonen, daß diese beiden Hunde meine Brüder sind, und ich bin der dritte. Als mein Vater gestorben war und uns ein Erbe von dreitausend Goldstücken hinterlassen hatte, tat ich einen Laden auf, in dem ich verkaufte und kaufte, und ebenso taten meine beiden Brüder je einen Laden auf. Aber ich trieb mein Geschäft noch nicht lange, da verkaufte mein älterer Bruder, einer von diesen beiden Hunden, den Vorrat seines Ladens für tausend Dinare; und nachdem er Waren und Handelsgut gekauft hatte, zog er fort. Ein ganzes Jahr blieb er fern von uns; aber eines Tages, als ich in meinem Laden saß, siehe, da trat ein Bettler vor mich hin, und ich sprach zu ihm: ,Allah gebe dir!' Da fragte er weinend: ,Kennst du mich denn nicht mehr?' Und erst jetzt schaute ich ihn sorgfältig an, und siehe, es war mein Bruder; da stand ich auf und hieß ihn willkommen; dann bot ich ihm einen Platz in meinem Laden an und fragte ilm, wie es ihm ergangen sei. ,Frage mich nicht', erwiderte er; ,meine Waren waren, und mein Stand schwand!' So führte ich ihn in das Bad, kleidete ihn in eins meiner eigenen Gewänder und ließ ihn bei mir wohnen. Und als ich meine Rechnung und die Gewinne in meinem Geschäft festgestellt hatte, da fand ich, daß ich tausend Dinare gewonnen hatte, so daß das Grundkapital sich auf zweitausend belief. Und ich teilte es zwischen meinem Bruder und mir und sprach zu ihm: ,Nimm an, du habest keine Reise gemacht und seiest nicht in die Ferne gezogen!' Er nahm den Anteil in heller Freude hin und tat auch seinerseits wieder einen Laden auf; und so vergingen einige Tage und Nächte. Danach aber machte sich mein zweiter Bruder, jener andere Hund, auf und verkaufte seine Waren und all sein Gut und wollte auf Reisen



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gehen; und er ließ sich, ob wir ihn auch zu halten suchten, nicht mehr halten. Er kaufte Handelsgut und zog mit den reisigen Leuten davon. Und er blieb ein volles Jahr fern von uns. Dann kam er zu mir, wie sein älterer Bruder zu mir gekommen war; und als ich zu ihm sagte:, Mein Bruder, riet ich dir nicht davon ab zu reisen?' da weinte er und rief: ,Mein Bruder, dies ist eine Fügung des Schicksals: hier stehe ich, verarmt, ohne einen einzigen Dirhem zu besitzen, und nackt, ohne ein Hemd auf dem Leibe.' So nahm ich ihn, o Dämon, führte ihn in das Bad, zog ihm ein neues Gewand von meinen eigenen Kleidern an und brachte ihn in meinen Laden; dann aßen und tranken wir. Darauf sprach ich zu ihm: ,Mein Bruder, ich pflege meine Rechnung bei jedem Jahresanfang aufzustellen; und was ich an Überschuß finde, soll zwischen mir und dir geteilt sein.' So machte ich mich denn, o Dämon, an die Abrechnung meines Geschäfts, und als ich den Betrag von zweitausend Dinaren fand, dankte ich dem Schöpfer -Preis sei ihm, dem Erhabenen! —, gab meinem Bruder tausend und behielt tausend für mich. Da ging er hin und tat einen Laden auf, und so lebten wir viele Tage. Nach einer Weile aber begannen meine Brüder mich zu drängen, ich solle mit ihnen reisen; doch ich lehnte es ab und sprach: ,Was gewannet ihr durch eure Reise, daß ich durch sie gewinnen sollte?' Und da ich nicht auf sie hören wollte, so blieben wir jeder in seinem Laden und verkauften und kauften wie zuvor. Sie aber drängten mich zur Reise jedes Jahr, ohne daß ich eingewilligt hätte, bis sechs Jahre verstrichen waren; da endlich gab ich ihnen nach, indem ich sprach: ,O meine Brüder, wohlan, ich will nun mit euch reisen; jetzt laßt uns sehen, wieviel Geld ihr besitzet.' Ich fand aber, daß sie keinen Deut mehr hatten; vielmehr hatten sie alles verschwendet, da sie sich dem Prassen und Trinken und den Vergnügungen



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hingegeben hatten. Aber ich sprach kein Wort zu ihnen, sondern ich stellte noch einmal die Rechnung meines Geschäfts auf und verkaufte all mein Gut und alle meine Waren; und als ich mich im Besitze von sechstausend Dinaren sah, war ich erfreut und teilte sie in zwei Hälften und sagte zu meinen Brüdern: ,Diese dreitausend Dinare sind für mich und für euch zum Handel. Die anderen dreitausend Dinare will ich vergraben, für den Fall, daß es mir so ergehen sollte, wie es euch ergangen ist; dann werd e ich kommen und die dreitausend Dinare holen, und wir können damit wieder unsere Läden auftun.' Damit waren beide zufrieden; und ich gab einem jeden seine tausend Dinare und behielt die gleiche Summe für mich, nämlich tausend Dinare. Dann kauften wir passende Waren ein, rüsteten alles zur Reise, mieteten ein Schiff, und nachdem wir unsere Waren eingeschifft hatten, zogen wir aus und fuhren Tag für Tag, einen ganzen Monat lang, bis wir in einer Stadt ankamen, wo wir unsere Waren verkauften; und für jedes Goldstück verdienten wir zehn. Und als wir uns wieder zur Reise wandten, fanden wir an der Meeresküste ein Mädchen in zerrissener und zerschlissener Kleidung; und sie küßte mir die Hand und sprach: ,O Herr, leben in dir Freundlichkeit und Güte, die ich dir vergelten kanne' Und ich erwiderte: ,Gewiß; siehe, ich liebe das Wohltun und gute Werke, auch wenn du sie nicht vergiltst.' Sie darauf: ,Nimm mich zum Weibe, o mein Herr, und bringe mich in deine Stadt, denn ich habe mich dir ergeben; drum tue eine Freundlichkeit an mir, ich bin von denen, die taugen für gute Werke und Wohltat: ich will sie dir vergelten, und möge mein Aussehen dich nicht beirren!' Als ich ihre Worte hörte, neigte sich mein Herz ihr zu, denn also wollte es Allah, der Allmächtige und Glorreiche; und ich nahm sie und kleidete sie und bereitete ihr im Schiff eine schöne Lagerstatt



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und erwies ihr Achtung und Ehrerbietung. So segelten wir weiter, und mein Herz hing sich an sie mit inniger Liebe, und ich trennte mich von ihr weder Tag noch Nacht und dachte mehr an sie als an meine Brüder. Doch sie wurden eifersüchtig und neideten mir meinen Reichtum und die Fülle der Waren, die ich hatte, und ihre Augen verschlangen gierig meinen ganzen Besitz. Da berieten sie sich, mich zu ermorden und meinen Besitz an sich zu nehmen, und sagten: ,Wir wollen unsern Bruder töten, und all sein Gut ist unser'; und Satan zeigte ihnen diese Tat in so schönen Farben, daß sie mich ergriffen, während ich zur Seite meiner Frau schlief, und uns beide aufhoben und ins Meer hinabwarfen. Als aber meine Frau aus dem Schlaf erwachte, da schüttelte sie sich und wurde alsbald zu einer Dämonin. Und sie hob mich auf und brachte mich auf eine Insel und verließ mich auf kurze Zeit; dann am Morgen kehrte sie zurück und sagte: ,Hier bin ich, deine Sklavin, die dich mit Hilfe Allahs des Erhabenen aufgehoben und vom Tode gerettet hat. Wisse, ich bin ein Dämonenkind; als ich dich sah, liebte mein Herz dich nach dem Willen Allahs, denn ich glaube an Allah und seinen Propheten -Gott segne ihn und gebe ihm Heil! Daher kam ich zu dir, wie du mich sahest, und du vermähltest dich mit mir, und siehe, jetzt habe ich dich vor dem Versinken gerettet. Aber ich bin ergrimmt wider deine Brüder, und es ist mein fester Entschluß, sie zu töten.' Als ich nun ihre Geschichte hörte, staunte ich und dankte ihr für das, was sie getan hatte, und sprach dann zu ihr: ,Meine Brüder aber sollen nicht umkommen.' Darauf erzählte ich ihr alles, was mir mit ihnen begegnet war, von Anfang bis zu Ende; und als sie es vernommen hatte, sprach sie: ,Heute nacht will ich über ihr Schiff hinfliegen und es versenken und sie so umkommen lassen.' Doch ich sprach: ,Ich bitte dich bei Allah, tu das nicht,



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denn das Sprichwort sagt: O du, der du Gutes tust an dem, der Böses getan, der Missetäter hat genug an seiner Tat. Und sie sind doch immer noch meine Brüder.' Sie antwortete: ,Bei Allah, es ist mein fester Entschluß, sie zu töten.' Und ich bat sie flehentlich. Darauf hob sie mich empor und flog mit mir fort, bis sie mich schließlich auf dem Dache meines Hauses niedersetzte. Dann tat ich die Türen auf und holte hervor, was ich in der Erde vergraben hatte; und nachdem ich die Leute begrüßt hatte, tat ich meinen Laden wieder auf und kaufte mir Waren. Als nun der Abend kam, kehrte ich nach Hause zurück; dort fand ich diese beiden Hunde angebunden, und als sie mich sahen, sprangen sie auf mich zu und winselten und hängten sich an mich; aber ehe ich noch wußte, was geschehen war, sprach mein Weib zu mir: ,Dies sind deine Brüder!' Da fragte ich: ,Und wer hat ihnen das angetane' und sie erwiderte: ,Ich habe meiner Schwester eine Botschaft geschickt, und sie hat sie so verwandelt, und sie sollen erst nach zehn Jahren erlöstwerden.' Und jetzt bin ich hier angekommen auf dem Wege zu jener Schwester, die sie erlösen wird, nachdem sie zehn Jahre in diesem Zustand zugebracht haben. Da sah ich diesen jungen Mann, der mir berichtete, was ihm widerfahren ist; und ich beschloß, nicht weiterzuziehen, bis ich gesehen hätte, was zwischen ihm und dir geschehen würde. Solches ist meine Geschichte.'

Da sprach der Dämon: ,Wahrlich, dies ist eine seltsame Geschichte, und deshalb ,schenke ich dir ein Dritteil seines Blutes und seiner Schuld.' Nun hub der dritte Scheich, der Mann mit der Mauleselin, an: ,Ich kann dir eine Geschichte erzählen, wunderbarer als diese beiden; willst du mir dann den Rest seines Blutes und seiner Schuld schenken, o Dämone' Der erwiderte: ,Jawohl.' Da begann der Alte


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