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Kapitel 

SPIELMANNS GESCHICHTEN DER SAHEL

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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MIT EINER KARTE DER SAHARA UND

EINER BILDERTAFEL / TITEL- UND

EINBANDZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


Ritter und Spielmann

Sahara -Sahel -Sudan -Schneide ein Profil durch das nordwestliche Afrika parallel den Längengraden, so liegen vor dir von Norden nach Süden folgende Regionen.

I Ein mehr oder weniger schmales Gelände, geschmückt mit der Vegetation und dem Leben des Mittelmeeres.

2. Die Sahara, bald ein Steinmeer, bald mächtige Sanddünen zeigend, hier und da wohl auch eine Oase.

3. Die Sahel, eine weite spiegelartige Fläche, ein grasiges Steppenland, überweht von wohltuender Luft, in seiner Einförmigkeit nur selten unterbrochen durch einen Sumpf, einen See, eine Lache, in einem entweder schon seit langem ausgetrockneten oder jährlich nur für kurze Zeit von einem fließenden Wasser in Anspruch genommenen Bette.

4. Der Sudan, eine Baumsteppe, die unmerklich mit anschwellendem Buschwerk aus der Sahel herauswächst, die in der Regenzeit von mächtigen Graswäldern bedeckt ist, die ununterbrochen fließende Gewässer aufweist, die eine dichte Bevölkerung zu ernähren vermag und demnach alljährlich dem den Farmbau vorbereitenden weithin sich wälzenden Grasbrande unterworfen wird.

5. Das Gestade des Atlantischen Ozeans, die Landschaft der Guineaküste, früher bedeckt mit der Hyläa, dem riesenhaften und oft unheimlich mächtigen Urwalde der Tropen, der heute allerdings schon vielerorts durch die immer weiter nach Süden vordrängende sudanische Landschaft und Völkersickerung, durch die Jahr um Jahr gegen seine gewaltigen Mauern aufbäumenden Steppenbrände arg bedrängt, vielerorts nur noch in schützenden Taischluchten (Galeriewaldungen) oder auf schwer zugänglichen Höhenspitzen erhalten, vielerorts aber auch schon vollkommen vernichtet ist.

Diese fünf Zonen ziehen sich mit den schmalen Küstenstreifen nach außen und den breiten Bändern im Innern wie ein Regenbogen von Osten nach Westen, nicht überall gleich an Maß, aber überall wesentlich gleich an Sinn, der Breite nach durch den Norden Afrikas. Allenthalben, gleichwohl ob ich im Westen in Timbuktu oder im Osten in Kordofan die Sahel durchwandere, finde ich ihre große freie, erhebende Schönheit, gewissermaßen als Spiegelbild des einheitlich tagsüber blau und nachts im prächtigen Sternenglanze wie eine Kuppel sich darüber wölbenden Himmels. Sahel nannten die Araber diese Zone, und sie lobten und loben, liebten und lieben sie mehr denn jedes andere Gebiet. Vom Norden kommend, erreicht der Wanderer hier die "Küste", das Land der Viehzucht, von Süden kommend hat er mit ihrem Betreten die Landschaft der "Masse" verlassen - der Masse, die sich ausdrückt in großen



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Staatsbildungen, aber auch in Mensch und Vieh verheerenden Seuchen. Die Sahel ist das Land der Entwicklung der Persönlichkeit, so wie der Sudan das der Auswirkung der Persönlichkeit ist. Mit unendlich gesteigerter Gewalt wirkt das Phänomen der Gestaltungskraft der Landschaft in diesen Ländern; — unendlich gesteigert im Verhältnis zu den Kräften, denen wir in nordischen Landen unterworfen sind.

Erst diese Sahara! Riesenhaft in ihrer stummen Unendlichkeit, der Farbenpracht von Himmel und Fels und Sandmeer, in der nur an wenigen Orten grünliche Oasen wie verloren erscheinen. Der lebendige Tod in effigie! Das ist eine Welt, in der sich Herrlichkeit der Natur und Unmöglichkeit der Zivilisation hart und unvereinbar gegenüberstehen. Hier werden nicht Individuen, sondern Stämme und Völker in bitterstem Kampfe, in härtester Notwendigkeit gestählt, aber - niemals kulturell schöpferisch sein können. Es ist die Landschaft der Zucht.

Die Sahel ist dagegen die Zone der Erziehung. Der Kameireiter der Sahara ist errettet beim Anblick der Oase. Der durch die Sahel sprengende Reiter kennt diese Sorge nicht. Er ist unterworfen dem wundervollen Bildwechsel herbstlicher Bäume und des Aufblühens, sowie eines unendlich wohltuenden Balsamduftes der Frühlingszeit. Das Land kann nicht große Menschenmassen, aber unzählige Herden von Vieh ernähren, eine Art des Reichtums, der dem zufällt, der stark und tüchtig ist. Das Ringen um den Besitz dieser beweglichen Schätze und um die Wasserstellen, die Menschen und Tier erquicken, fordert Persönlichkeiten und entwickelt Charaktere. Das Land mag vielleicht nicht an sich die Menschen schichten, wohl aber ist es ungemein geeignet, eine Schichtung nach Fähigkeiten zu erhalten und immer wieder zu beleben. So sind denn aus dieser Sahel stets die Staatsbildner in die Baum- und Farmsteppe des Sudan eingedrungen. Die Sahel erzieht zur Tat.

Wenn diese Tatmenschen nach dem Süden in die scheinbar unendlich ausgedehnten fruchtbaren Länder eintraten, dann lösten sie Kräfte aus, die dort unten durch eine immerwährend und ununterbrochen wirkende Bauernschaft, in Arbeit, —fleißiger, zusammenfassender, notwendiger, aber lohnender, —zu allen Zeiten stets und bedingungslos aufgespeichert wurden und werden. Den Viehmassen und der Erziehung zu Persönlichkeit und Tat in der Sahel stehen die dem Boden abgerungenen Farmen und die damit erfolgende Erziehung zur Arbeit gegenüber. Denn der Sudan gibt nicht ohne Arbeit, ohne sorgfältige, pflichtgetreue, aus Notwendigkeit vollzogene Arbeit. Solche Arbeit führt aber ihrerseits wieder zu einem zweiten, zur Religiosität, die den Sahelen fehlt; — jener tiefen, inneren Religiosität, deren volkskundliche Ausflüsse im fünften



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Bande gewürdigt werden und die ihre Träger sehr wohl zu Höherem vorzubereiten imstande ist.

Die Sahelen am Südrande der Sahara waren niemals stark in religiösem Wesen. Ihre Seelen sind nicht fähig zu mythischen Schöpfungen. Wohl aber hat diese Zone zu allen Zeiten einen guten Nährboden für Entwicklung der irdischen Heldenverehrung abgegeben, und so wurden sie gar leicht zu Barden und Epensängern - sobald nur einmal von außen das Samenkorn solcher Bildungen in sie hinein gelegt wurde. Und dies ganz besonders, als solcher Same in ein Paradies wie Faraka fiel.


Faraka.

Die Zone der Sahel zieht sich vom Senegal bis zum Nil hin - in großer Einförmigkeit. Eine bedeutsame - und nun aber auch gleich gewaltig bedeutungsvolle Abweichung erfährt ihre Physiognomie nur eigentlich an einer Stelle. Zwei von Süden, aus urwald- und regenreichen Küstengebieten der Guinea entspringende Flüsse, der Oberniger und der Bani treten dem Norden zustrebend nicht weit voneinander in die Sahel ein, laufen eine Zeitlang nebeneinander her, vereinigen sich und gelangen so bis in die Sahara, durch die der Nigerstrom dann seinen Weg nach Osten nimmt, um dem aufsaugenden Wüstenklima, nach Süden zueilend, wieder zu entfliehen.

Dieser Bogenlauf des Niger nach der Vereinigung mit dem Bani ist verhältnismäßig jung. In alter Zeit liefen Oberniger und Bani in einem Inlandsumpfsee von der Art des heute ja noch bestehenden Tsadsees aus. Oberniger-Bani bildeten so ein etwas gefährliches System, denn da damals der Abfluß des Niger nach Osten noch fehlte, überschwemmten die von der Guineaküste in der Regenzeit herabströmenden Wassermengen das Land auf Hunderte von Kilometern. Der in vorgeschichtlicher Zeit stattgehabte Durchbruch nach Osten hat eine Entlastung, gewissermaßen ein Ventil geschaffen. Aber auch heute noch treten die Überschwemmungen zwischen Oberniger und Bani alljährlich ein und zeigen dann eine kaum durch Inseln unterbrochene Spiegeifläche von (an einigen Stellen) mehr als ioo Kilometern.

Dies bedeutet aber heute keine Katastrophe mehr, sondern eine den Anwohnern sehr nützliche Bewässerung, die ähnliche Bedeutung hat wie die Schwellungen des Nil in Ägypten oder früher die des Euphrat-Tigris in Mesopotamien. Und so entsteht hier ein zweites, ein afrikanisches Mesopotamien.

Dieses zwischen Oberniger und Bani gelegene Land heißt Faraka. Faraka ist die große, gewaltige, kulturgeschichtlich nach seiner Bedeutung kaum abmeßbar bedeutsame Unterbrechung, die Insel in der Sahel. Eine Insel im wahren Sinne des Wortes: im Osten und



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Westen von den meeresweiten Steppen der Sahel, im Norden von der Sahara selbst und im Süden vom hier der westlichen Hylaea nahen Sudan, also von allen Seiten von Einförmigkeiten umgeben, selbst aber ein seelenvoll eigenartiges Dasein während und durch den Zusammenfluß der es umgebenden Einförmigkeiten einen Reichtum bietend, der um so gewaltigere Wirkungen hervorbringt, je größer die Gegensätze zwischen jenen sind.

Die Natur vereinigte hier die Eigenarten dreier ja man könnte sagen von vier - Zonen, um solchen Reichtum zu erwecken, der denn auch jeden, der Oberniger oder Bani herabfährt, in seinen naturnotwendigen Folgeerscheinungen bezaubern muß. Denn wenn die großen Ortschaften oder gar Städte im Sudan oder noch weniger in der Sahel durchaus nicht sehr dicht gesät sind, so gleitet das Fahrzeug auf den Wasserwegen Farakas doch an einer langen Kette ansehnlicher, zuweilen großer Ortschaften vorbei, fällt der Blick der Fahrenden, je weiter er nach Norden kommt, immer häufiger auf Ruinen, überschreitet der Fuß bei jedem Landen Topfscherben - ja oft und wo keine Farmen sind, kilometerweite Scherbenfelder - und fallen oft hohe, die Überschwemmungskanten krönende rote Hügel auf, die nichts anderes sind, als die mächtigen Erdpyramiden, in denen die Gebeine längst verstorbener Fürsten und Könige schlummern.

Das ist Faraka, das ist das Land, in dem vormals der Bardengesang blühte und "homerische"Sänger gleich isländischen Skalden die Laute schlugen, wie nur je in einem nordischen Gebiet. Das ist das Land, das mir noch vor zwölf Jahren die Spielmannslieder gewährte, in denen die geschichtliche Wesenheit vieler Jahrhunderte schlummert.


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