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Grönländer und Färinger Geschichten


Übertragen von Erich von Mendelssohn

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1912


3. Die Seherin Thorbjörg

In diesem Jahre herrschte Mangel auf Grönland. Die Männer hatten wenig Beute von ihren Jagden mitgebracht, und einige waren gar nicht wiedergekommen.

Nun wohnte in der Gemeinde eine Frau, die Thorbjörg hieß. Sie war eine Seherin und wurde die kleine Völva genannt. Sie



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hatte neun Schwestern gehabt, und alle waren Seherinnen gewesen, aber nur sie allein war noch am Leben. Thorbjörg pflegte im Winter zu den Gelagen zu kommen, und besonders wurde sie von denen eingeladen, die begierig waren, ihr Schicksal oder den verlauf des Jahres zu erfahren.

Und da nun Thorkel der angesehenste Bauer war, so meinte man, daß es ihm obläge, in Erfahrung zu bringen, wann die herrschende schlechte Zeit aufhören würde. Thorkel entbot die Seherin zu sich, und für sie wurde alles aufs beste gerüstet, wie es solchen hohen Frauen gebührt. Ein Hochsitz wurde für sie errichtet und ein Polster wurde unter sie gelegt, in dem Hühnerfedern sein mußten. Als sie am Abend zusammen mit dem Manne kam, den man ihr entgegengesandt hatte, war sie so ausgestattet: einen gegürteten blauen Mantel trug sie, der bio unten zum Saume mit Steinen besetzt war. Um den Hals hatte sie Glasperlen. Eine Kappe aus schwarzem Lammfell, mit weißem Katzenfell gefüttert, hatte sie auf dem Kopfe. Einen Stab mit einem Knopf hielt sie in der Hand. Er war mit Messing eingelegt, auf dem Knopfe aber mit Sinnen. Um den Leib trug sie einen Gürtel mit Feuerzeug, und daran hing ein großer Ledersack, in dem sie die Zaubermittel hatte, die sie zu ihrer Kunst brauchte. An den Füßen trug sie rauhe Kalbfellschuhe mit langen Riemen, an deren Enden große Messingknöpfe saßen. Ihre Hände staken in Handschuhen aus Katzenfell, die innen weiß und haarig waren.

Als sie hereinkam, glaubten alle Leute sie ehrerbietig grüßen zu müssen, und sie erwiderte die Grüße, je nachdem die Leute ihr gefielen. Der Bauer Thorkel faßte die weise Frau bei der Hand und führte sie zu dem Sitz, der sie errichtet worden war. Dann bat Thorkel sie, ihre Augen über vieh und Volk und Häuser schweifen zu lassen. Sie sprach nur wenig.

Am Abend wurden Tische hingestellt; und da ist zu berichten, was für die Seherin bereitet worden war: ihr wurde Grütze aus Ziegenmilch gereicht, und für sie waren die Herzen aller Tiere angerichtet, die es dort gab. Sie hatte einen Messinglöffel, ein Messer mit Walroßzahngriff und zwei Kupferringen. Die Spitze war abgebrochen. Als die Tafel aufgehoben wurde,



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ging der Bauer Thorkel zu Thorbjörg und Sagte hie, was sie über das Haus und die Wohlfahrt der Leute dächte, oder wann er darüber die Wahrheit hören würde, wonach erste gesagt hatte, und was alle Leute zu wissen begehrten. Sie antwortete, sie könnte das nicht vor dem nächsten Morgen sagen, da sie darüber eine Nacht schlafen müßte.

Spät am nächsten Tage wurde alles das für sie hergerichtet, was sie den Zauber brauchte. Sie gebot, ihr einige Frauen herbeizuschaffen, die das Lied wußten, dessen sie bedurfte, um den Zauber zu vollenden, und das Vardlokkur heißt. Man konnte aber keine solche Frau finden. Da wurde im ganzen Gehöfte gesagt, ob nicht irgend einer das Lied wüßte. Gudrid antwortete: Ich hin weder zauberkundig, noch eine Seherin, aber meine Pflegemutter Haldis auf Island lehrte mich ein Lied, das sie das Schutzlied nannte. Thorbjörg antwortete: So bist du klüger, als ich erwartet hätte." Gudrid sagte: "Das ist ein Wissen und ein Tun, bei dem ich nicht helfen will, denn ich bin Christin." Thorbjörg antwortete: "Es verhält sich so, daß du den Leuten hier nützen könntest, ohne dadurch selbst schlechter zu werden, und ich halte mich an Thorkel um alles das zu bekommen, dessen ich bedarf."

Thorkel drang nun so lange in Gudrid, bis sie willig war, das zu tun, worum erste bat. Da setzten sich die Frauen im Kreise um den Zauberstuhl, auf dem Thorbjörg saß. Und Gudrid sang das Lied so schön, daß niemand von den Anwesenden meinte; jemals schöneren Gesang gehört zu haben. Die Seherin dankte ihr für das Lied und sagte, daß dieses viele Geister herbeigerufen hätte, die sie früher verlassen hätten, und ihr nicht mehr hätten untertan sein wollen, die jetzt aber wiedergekommen seien und das Lied schön gefunden hätten, -und viele Dinge stehen mir jetzt klar vor Augen, die früher für mich und alle andern verhüllt waren. Dir, Thorkel, kann ich sagen, daß das Mißjahr nicht länger als bis zum Winter dauern, und daß es mit dem Frühling besser werden wird. Die Seuche, die jetzt herrscht, wird auch bald verschwinden. Aber dich, Gudrid, werde ich gleich die Hilfe belohnen, die du uns gewährt hast; denn



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dein Schicksal liegt jetzt klar vor meinen Augen. Angesehen wird der Gatte sein, den du hier in Grönland bekommen wirst. Aber nicht lange wirst du dich seiner hier genen. denn deine Wege führen nach Island, und dort werden dir große und gute Nachkommen erstehen. Über ihnen strahlt so helles Licht, daß es mich blendet. So leb denn wohl, meine Tochter!" Später gingen die Leute zur Seherin, und jeder Sagte sie nach dem, wonach er am begierigsten war. Sie gab willig Antwort auf alle Fragen, und nur in wenigen Dingen hatte sie sich geirrt. Dann schickte man nach ihr von einem andern Gehöfte , und sie ging dorthin. Thorbjörn wurde jetzt geholt, denn er hatte nicht im Hause sein wollen, solange dort solch heidnisches Wesen getrieben wurde. Wie der Frühling kam, wurde das Wetter besser; wie Thorbjörg es vorher gesagt hatte. Da machte Thorbjörn sein Schiff fertig und fuhr nach Steilhang ing.

Erich begrüßte ihn herzlich und freute sich, daß er gekommen war. Thorbjörn und seine Leute blieben den Winter über bei ihm, und im Frühling gab Erich Thorbjörn Land auf Stokkaspitz , und dort baute dieser ein großes Gehöft, in dem er fürderhin wohnte.


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