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Kapitel 

MÄRCHEN AUS KORDOFAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1923

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS / JENA



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TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE MIT EINER KARTE


18. Der Verarmte

Ein Mann war jung, sehr jung und reich, sehr reich. Der Mann lebte in einer Stadt, und es gab nichts, was ihm fehlte und was ihn betrübte. Er hatte Freunde, die waren jung wie er selbst, und er lud sie häufig zu sich ein. Er verkehrte aber nur mit jungen Leuten, die sehr gut zu essen verstanden und von guter Familie waren wie er selbst.

Eines Nachts träumte der junge Mann. Er träumte, daß er eines Tages alles, was er habe, verliere und nun ein armer Mann sei, der mit Wassertragen ein oder zwei Piaster verdienen und davon leben müsse. Der junge Mann träumte das und erwachte dann. Als er erwacht war, sah er den Traum noch sehr deutlich und er dachte über den Traum nach. Der junge Mann sagte: "Nach dem Traum ist es sicher, daß ich eines Tages arm werde und daß ich dann mein



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angenehmes Leben und den Kreis meiner Freunde verlieren werde. Dann werde ich mir in schwerer Weise meinen Unterhalt verdienen müssen. Das wird mir aber leichter zu erlernen fallen, wenn das Unglück mich in der Jugend packt, als wenn ich ihm im Alter anheimfalle. Ich werde also meinem Unglück entgegenreiten und werde versuchen, es auf solche Weise möglichst bald zu überwinden. Vielleicht werde ich dann als älterer Mann wieder von seiner Last befreit."

Der junge, reiche Mann nahm zwei Beutel und füllte sie mit Gold und Silber. Er schloß sein Haus zu, bestieg einen Esel und ritt von dannen. Nachdem er viele Tage geritten war, kam er mit seinem Gelde und mit seinem Esel an den Nil. Der Nil war aber gerade hoch, und so konnte er einen Teil, den man sonst wohl durchreitet, nur in der Weise passieren, daß er weiter oberhalb auf einem Boote mit seinem Esel und seinen Geldsäcken übersetzte. Es war ein kleines Boot, und der Esel ward nach einiger Zeit unruhig. Nach einer Weile konnte der junge Mann die Kette, an die er den Esel befestigt hatte, nicht mehr halten. Der Esel kam über den Rand des Bootes und versank mit beiden Säcken, in denen Gold und Silber war. Als der junge Mann an das andere Ufer des Nils kam, hatte er nichts mehr.

Der junge Mann betrat das Ufer und sagte: "Wie hatte ich recht, daß ich der Erfüllung meines Traumes entgegenritt. Ich bin noch jung und werde mich jetzt schnell an die Beschwerden des Wassertragens gewöhnen."

Der junge Mann ging also auf die Stadt zu, die vor ihm lag und suchte bei einem andern armen Manne Unterkunft. Am andern Tag lieh er sich einen Wassersack und begann bei den Leuten der Stadt sein Wasser auszubieten.

Die Leute der Stadt mochten den jungen Mann bald gern leiden, denn er wußte jede Sache nach der Art und den Bewegungen einer guten Erziehung anzufassen. Er war nicht aufdringlich und schrie nicht wie die andern Wasserträger in lärmender Weise. Er bettelte nicht. Also nahmen die reichen Leute ihm lieber das Wasser ab als andern seines Berufes. Unter denen, denen er täglich das Wasser ins Haus zu bringen hatte, war ein sehr reicher Mann, der hatte sechs Töchter, und diese sechs Töchter sollten nach einiger Zeit heiraten.

Der reiche Mann rief eines Tages seine sechs Töchter zusammen und sagte: "Meine Töchter, ihr seid in dem Alter, in dem die Frauen



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heiraten sollen. Nun ist es vielfach Sitte, daß die Väter bei der Verheiratung ihrer Töchter auf das Geld ihrer Schwiegersöhne sehen. Ich bin nun so wohlhabend, daß das bei mir nicht so sein soll. Ihr könnt euch unter den jungen Männern die auswählen, die euch am besten gefallen. Ich werde eine Azurne (Fest) veranstalten; beachtet nun, wie ein jeder sich dabei benimmt, und werft dann dem, der euch als Ehemann paßt, euer Taschentuch (kord. = machrem; arab. =mandil) zu." Die Töchter dankten ihrem Vater und baten ihn, ja alle Leute der Bekanntschaft zu dem Feste zu laden. Die ersten fünf Mädchen hatten sich aber schon in fünf junge Burschen verliebt und wußten schon, wem sie ihre Taschentücher zuwerfen wollten. Der Vater sagte: "Ich werde sicherlich alle Bekannten unseres Hauses zu der Azurne einladen. Und da es ein großes Freudenfest unserer Familie ist, sollen auch alle niederen Leute, bis zum ärmsten Wasserträger herab, ihren Anteil an der Azurne haben."

Der reiche Mann bereitete die Azurne so vor, wie er es seinen Töchtern gesagt hatte. Es waren viele Leute da, und an dem Essen beteiligten sich alle jungen Männer, und auch den Zuträgern des Hauses bis zum niedrigsten Wasserträger hatte man Zutritt gewährt, so daß sie an dem großen Essen teilnehmen und jeder nach seinem Belieben von allen Speisen wählen und genießen konnte. Die ersten fünf Mädchen, die sich schon in ihre Burschen verliebt hatten, sahen nur eine jede auf ihren Erwählten. Die Jüngste aber, die noch keinem Manne zugetan war, blickte aufmerksam von einem zum andern. Die Jüngste sah, wie mancher von den wohlgekleideten und reichen Burschen gierig in die Schüsseln griff und herunterschlang, was ihm unter die Finger kam. Sie sah, wie mancher von den angesehenen Burschen, die für etwas Außerordentliches galten, sich sein Kleid beschmutzte. Sie sah, daß mancher, der mit viel Geräusch von der Bedeutung und dem Alter seiner in einer allen andern unbekannten, fernen Stadt wohnenden Familie zu sprechen pflegte, die großen und häßlichen Hände der Bauern hatte. Sie sah aber auch auf den Wasserträger, der unten am Ende des Raumes saß. Sie sah, daß er mit Wahl in die einzelnen Schüsseln griff. Sie sah, daß er jene Gerichte bevorzugte, die reiche Leute als etwas Besonderes zu genießen pflegen. Sie sah, daß er schöne kleine Hände hatte. Sie sah, daß er mit den kleinen Händen in geschickter Weise in die Schüsseln griff und ohne Mühe jede Beschmutzung seiner einfachen Kleider vermied. Sie sah, daß er nicht viel aß, nach



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Art der armen Leute, die die Gelegenheit benutzen müssen, um für einige Zeit vorzusorgen. Sie sah, daß er in geschickter Wahl in guter Reihenfolge gerade so viel von den angebotenen Speisen nahm, als einem wohlhabenden Manne gut bekommt und ihm angenehme Stunden nach dem Genusse bereitet. Sie sah, daß der Wasserträger ein schöner und junger Mann war.

Nach dem Fest erhob sich der Vater und sagte: "Nun sollen meine sechs Töchter aus eurer Mitte sich Männer erwählen. Jede mag dem, den sie zum Gemahl begehrt, ihr Taschentuch zuwerfen. Ein jeder, den meine Töchter wählen, soll mir als Schwiegersohn willkommen sein. Ich werde einem jeden ein würdiges Haus in meinen Gärten anweisen."

Danach winkte der reiche Mann den Sklaven (=Abd). Die Sklaven trugen die Schüsseln und Wasserkannen und Tücher hinaus. Dann warf eine der sechs Töchter des reichen Mannes nach der andern dem Manne ihr Taschentuch zu, den sie als Gatten erwählt hatte.

Die ersten fünf Töchter warfen ihre Taschentücher den Männern zu, in die sie sich schon verliebt hatten. Die Leute hatten das schon vorher gewußt, und da es angesehene junge Männer waren, so hatte der Vater nichts weiter hierzu zu sagen. Niemand hatte aber bis dahin gehört, daß die Jüngste, die sechste Tochter des reichen Mannes, irgendeinem Manne besonders nachgesehen, über ihn in anerkennender Weise gesprochen oder überhaupt irgendeinen Mann beachtet habe. Der Vater und alle seine Leute sahen daher besonders aufmerksam auf die sechste Tochter und waren neugierig zu sehen, was diese nun tun werde.

Die sechste Tochter saß still da und sagte gar nichts. Der Vater und alle Leute warteten. Der Vater sagte: "Wen wählst du denn nun, meine jüngste Tochter?" Die Tochter sagte: "Mein Vater, bestimme du mir einen würdigen Gatten!" Der Vater sagte: "Nein, meine Tochter, ich werde dies nicht tun. Ich habe dies Fest veranstaltet, damit ihr alle jungen Männer sehen und ihre Art untereinander vergleichen könnt. Deine fünf älteren Schwestern haben ihre Gatten so gewählt. Du sollst es nun auch tun!" Die Tochter sagte: "Ich werde dann tun, wie du es willst. Ich verstehe dich aber so, daß jede von uns den Mann wählen soll, der ihr als der Beste an guten Sitten und passendste nach ihrem Sinn und Herzen erscheint!" Der Vater sagte: "Du hast mich recht verstanden." Die sechste Tochter nahm ihr Taschentuch in die Hand und wandte sich um.



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Sie wandte sich von der Tafel der angesehenen Leute ab und warf ihr Taschentuch nach dem Ende des Raumes. Das Taschentuch fiel in den Schoß des armen Wasserträgers.

Der reiche Mann ward sehr zornig. Der reiche Mann sagte: "Was hast du getan?" Die jüngste Tochter sagte: "Ich habe das getan, was du von mir verlangt hast. Ich habe mir den zum Gatten erwählt, der mir der Beste an guten Sitten erscheint und der meinem Sinn und Herzen am meisten zusagt." Der Vater ward noch zorniger und sagte: "Du hast das nicht getan. Du hast einen gemeinen Mann gewählt. Du hast dir einen elenden Menschen genommen, mit dem die angesehenen Männer deiner Schwestern sicher nicht aus einer Schüssel essen wollen." Die jüngste Tochter sagte: "Deine sechs Töchter sind verschieden. Die Sinne deiner sechs Töchter sind verschieden. Daher müssen auch die Männer deiner sechs Töchter verschieden sein. Mein Mann wird nicht danach drängen, mit seinen Schwägern gleich genommen zu werden, ebensowenig wie ich es verlange, daß meine Schwestern in mir das Spiegelbild ihres Geschmacks sehen." Der reiche Mann sagte: "Jeder soll haben, was er will. Meine sechste Tochter hat recht, wenn sie jedem anderes Maß anlegt. Meine ersten fünf Schwiegersöhne sollen also auch in Zukunft nach ihrem Maße wohnen und leben und mein sechster nach dem seinen."

Darauf wies der reiche Mann seinen ältesten fünf Töchtern und ihren Gatten ein großes, schönes Haus in einem weiten Garten an. Unten waren viele Pferde und Sklaven. Oben duftete jeder Diwan von Rosenöl, und über die Betten waren kostbare Stoffe gelegt. Dem Wasserträger und seiner jüngsten Tochter ließ er aber eine elende Lehmhütte auf dem Hofe unter den Sklaven anweisen. Wenn es regnete, floß das Wasser an den Wänden herab; es war feucht in dem Haus und roch nach Moder; und als Bett wurde dem jungen Ehepaar eine alte Matte angewiesen, die vorüberziehende Djellaba als verbraucht weggeworfen hatten.

Kurze Zeit danach wurde der reiche Mann sehr krank. Man rief einen erfahrenen Arzt, der untersuchte den Kranken eingehend. Danach sagte er zu dem reichen Kranken: "Ich habe jetzt ganz eingehend alles untersucht und muß dir sagen, daß du eine ganz ungewöhnliche Krankheit hast, die wohl nur aus einem großen Kummer gekommen sein kann. Ich glaube dir also sagen zu müssen, daß du sterben wirst, wenn du nicht sehr bald die gute Milch einer Gazelle (bei allen Stämmen von Dar For bis nach dem Roten Meer



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als Gasal bezeichnet) trinkst. Merke dir aber, daß es fette Milch sein muß, und daß nicht mehr viel Zeit verstreichen darf, damit auch dies nicht zu spät kommt." Der reiche Mann sagte: "Daß meine Krankheit dem Kummer entspringt, mag wohl wahr sein. Wie soll ich aber die Milch einer Gazelle erhalten?" Der Arzt sagte: "Wie kannst du danach fragen, da du doch deinen sechs Töchtern Männer gegeben hast? Kann es für deine Schwiegersöhne etwas Angenehmeres geben, als für dich, ihren Wohltäter, eine Gazelle zu fangen und zu melken?" Der reiche Mann sagte: "Ich danke dir; du hast recht."

Der reiche Mann ließ den fünf Schwiegersöhnen, die in dem schönen Palast im Garten wohnten, sagen, was der Arzt angeordnet hatte. Darauf ergriffen die fünf Schwiegersöhne ihre Lanzen und ihre Wurfhölzer und bestiegen ihre Pferde, um hinaus auf die Gazellenjagd zu reiten. Der arme Wasserträger stand an der Türe seines Lehmhauses und sah seine Schwäger von dannen reiten. Er sah einige Sklaven vorbeikommen und fragte: "Wo reiten die Herren hin?" Die Sklaven sagten: "Der alte Herr ist krank, und der Arzt hat gesagt, daß nur fette Gazellenmilch ihn wieder gesund machen könne." Der junge Wasserträger ging in das Haus. Er nahm einige Ledersacke (= ssaen) von dem Haken, hing sie über, nahm einen Stock und Stricke und sagte zu seiner Frau: "Meine Frau, ich gehe hinaus, um das zu bringen, was deinen Vater wieder gesund machen kann." Danach ging der junge Wasserträger zu Fuß hinaus in die Steppe, dahin, wo viele Gazellen vorüberwechselten.

Der junge Wasserträger legte an mehreren Stellen seine Fallen. Er achtete darauf, wo seine Schwäger zur Gazellenjagd hingeritten waren und baute überall da eine Falle auf, wo die von den Jägern verfolgten Tiere auf ihrem Wechsel vorbeikommen mußten. Die fünf Jäger verfolgten inzwischen auf der weiten Steppe die Gazellenrudel. Sie kamen überall erst an die Böcke, die rundum die Ricken und Kitzen bewachten. Die fünf Jäger töteten viele mit Speeren und Wurfhölzern. Dann stiegen sie ab um zu sehen, wieviel milchende Tiere unter den erlegten seien. Sie sahen, daß es lauter Böcke und alte Ricken waren, aber nicht ein einziges milchendes Muttertier darunter. Sie stiegen wieder auf und ritten den andern Rudeln nach. Die Rudel waren aber inzwischen weit weggerannt. Die Jäger sahen kein Tier mehr. Sie folgten den Spuren der entronnenen Tiere. Sie hatten nicht eine Schale Gazellenmilch gefunden.



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Als die fünf Reiter die Böcke mit Speeren und Wurfhölzern töteten, sprangen die Rudel auf ihrem Rückwechsel von dannen. Die milchenden Tiere liefen voran und kamen dahin, wo der junge Wasserträger seine Fallen aufgestellt hatte. Der junge Wasserträger fing so drei milchende Gazellen. Er molk sie sogleich. Er schöpfte die beste, fette Milch oben ab und füllte sie in seinen Ssaen. Den Ledersack steckte er dann zu sich.

Nach einiger Zeit kamen die fünf Reiter an, die den Spuren der weggelaufenen Gazellen nachgeritten waren. Sie sahen den Wasserträger und seine drei milchenden Gazellen. Sie sagten: "Gib uns die Milch der Gazellen. Dir ist sie doch unnütz, denn unser Schwiegervater wird von dir nichts annehmen." Der Wasserträger sagte: "Es ist wahr. Hier habe ich Milch von Gazellen. Ich wäre bereit, euch diese zu geben, wenn ihr mir erlaubt, einem jeden das Halaga-numatrak (liegendes Kreuz in einem Kreis), ein Brandzeichen, mit dem früher vielfach die Sklaven gezeichnet wurden) in den Hintern zu brennen." Die fünf Reiter sagten: "Du elender Wasserträger! Was wagst du uns zuzumuten!" Der junge Wasserträger sagte: "Wenn man auf der Straße schimpfen hört, kommt das nie von den Leuten mit den feinen Sitten, und wenn jemand um etwas bitten will, pflegt es nicht klug zu sein, mit einem Schimpfwort seine Rede zu beschmutzen."

Die fünf Reiter traten beiseite. Die fünf Reiter sagten: "Es wäre eine schlechte Sache, wenn dieser Bursche das brächte, was unseres Schwiegervaters Leben rettet, während wir nichts bringen." Die fünf Reiter sagten: "Was kommt es auf ein kleines Körpermal an!" Die fünf Reiter kamen zu dem Wasserträger zurück und sagten: "Wir sind damit einverstanden. Gib uns diese Beutel voll Milch und brenne uns das Halaga-nu-matrak in den Hintern." Der Wasserträger gab den fünf Schwägern darauf die Milch, von der er das Beste abgeschöpft hatte, und brannte ihnen dann mit einem Messer das Halaga-nu-matrak in den Hintern. Darauf nahmen die fünf Reiter die Säcke mit Gazellenmilch und ritten schnell der Stadt zu. Der arme Wasserträger folgte ihnen aber mit der Sahne in der Ledertasche zu Fuß und langsam gehend nach.

Die fünf Schwiegersöhne kamen schnell in die Stadt geritten. Der Arzt empfing sie und ließ sich die Gazellenmilch reichen. Der Arzt goß die Milch aus und sagte: "Diese Milch wird eurem Schwiegervater nichts nützen. Denn einmal ist es keine fette Milch, und dann ist sie bei dem schnellen Reiten schlecht geworden. Ich werde sie



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aber dem Kranken geben und werde sehen, ob sie ihm nicht vielleicht doch nützt." Der Arzt ging zu dem kranken Vater der sechs Frauen hinein und sagte: "Fünf deiner Schwiegersöhne haben Gazellen gefangen und ihre Milch gewonnen. Trinke sie und sieh, ob sie dir nützt." Der Kranke sagte: "War der Wasserträger unter den fünf Leuten, die die Milch gebracht haben?" Der Arzt sagte: "Nein, der Wasserträger ist nicht unter ihnen gewesen." Der Kranke sagte: "Dann gib mir die Milch!" Der Arzt reichte dem Kranken die Milch, und der Kranke trank sie. Dann legte er sich wieder hin und sagte: "Ich fühle es, diese Milch nützt mir auch nichts; ich will mich also darauf vorbereiten zu sterben. Laßt mich allein!" Der Arzt und die Leute gingen hinaus.

Nach einiger Zeit kam der Wasserträger in die Stadt. Er ging in das Haus des Schwiegervaters und traf da den Arzt. Er fragte den Arzt: "Geht es meinem Schwiegervater besser?" Der Arzt sagte: "Nein, es geht deinem Schwiegervater nicht besser. Deine fünf Schwäger brachten ihm Gazellenmilch. Sie war aber mager und vom Reiten verdorben. Der Vater hat sie getrunken, aber sie hat ihm nichts genützt. Nun weiß er, daß er sterben muß und er bereitet sich darauf vor." Der junge Wasserträger zog seinen Ledersack mit fetter Milch heraus und sagte: "Kann ihm denn diese Milch auch nicht mehr helfen?" Der Arzt goß die Milch aus und betrachtete sie. Der Arzt sagte: "Oh, diese Milch ist ganz anders; sie ist fett und unverdorben. Sie ist ausgezeichnet. Nun wird dein Schwiegervater genesen. Ich werde sie ihm sogleich bringen!"

Der Arzt ging schnell zu dem Kranken hinein. Der Kranke hörte ihn kommen und sagte: "Laßt mich doch jetzt allein, damit ich Ruhe zum Sterben finde!" Der Arzt sagte: "Es wird mir verziehen werden, wenn ich dich störe. Du brauchst aber nicht zu sterben, denn eben ist die richtige fette und unverdorbene Gazellenmilch gebracht worden." Der Vater wandte sich um und sagte: "Wer hat sie gebracht?" Der Arzt sagte: "Es ist der Gatte deiner jüngsten Tochter, der sie gewann und brachte!" Der reiche Mann sagte: "Kann ich denn nicht in Ruhe sterben? Der Kummer darüber, daß meine jüngste Tochter diesen Wasserträger zum Manne genommen hat, hat mich krank gemacht, so daß ich sterben muß. Wie kann ich nun durch das, was dieser Mann mir bringt, gesund werden?" Der Arzt sagte: "Der Irrtum ist die schlimmste Krankheit der Menschen; er führt viele unkluge Menschen zum Tode! Willst du nun auch durch ihn sterben? Denn wie soll die Medizin, wenn sie



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sonst gut ist, nur dadurch schlecht werden, daß ein unbeliebter Mann sie trug? Warum willst du deinen ersten fünf Töchtern dich durch den Tod entziehen, weil der Mann deiner sechsten Tochter dir die Möglichkeit, wieder gesund zu werden und weiter zu leben, reichte?" Der kranke Mann hob den Oberkörper und sagte: "Mein Arzt, gib mir die Milch. Ich will sie versuchen."

Der Arzt gab dem kranken reichen Manne die Milch. Der kranke reiche Mann versuchte sie. Der kranke reiche Mann sagte: "Diese Milch ist gut." Der kranke reiche Mann trank die Milch. Der kranke reiche Mann sagte: "Ich werde nicht sterben. Ich werde gesund werden. Diese Gazellenmilch des Wasserträgers hat mich gesund gemacht." Der reiche Mann legte sich wieder zurück und sagte: "Mein Arzt, welches nanntest du die schlimmste Krankheit der Menschen?" Der Arzt sagte: "Den Irrtum!" Der reiche Mann sagte: "Laß meine jüngste Tochter kommen."

Der Arzt ging hinaus und sandte einen Sklaven über den Hof. Nach einiger Zeit trat die jüngste Tochter in den Raum, in dem ihr Vater lag. Der Vater sagte: "Du bist es, meine jüngste Tochter! Komm, setze dich auf den Teppich neben mein Angareb!" Die Tochter setzte sich bei ihrem Vater nieder. Der reiche Mann sagte: "Meine Tochter, ich bitte dich, mir eins zu sagen: Wie kamst du dazu, den armen Wasserträger zu deinem Gatten zu wählen, wo du ihn doch vorher weder gesehen noch gekannt hast?"

Die sechste Tochter sagte: "Mein Vater, du hattest gesagt, wir sollten alle Männer ansehen, die bei dem Fest waren, und sollten den zum Gatten wählen, der uns der Beste an guten Sitten und einer jeden am meisten ihrem Herzen und Sinn passend schiene. Ich achtete beim Essen auf alle Männer. Ich achtete auf die Reihenfolge, in der sie die Gerichte auswählten; ich achtete auf die Masse, die ein jeder verzehrte; ich achtete auf die Reinlichkeit beim Essen; ich achtete auf die Schönheit der Hände; ich achtete darauf, mit welchen Augen ein jeder das Essen, die Umgebung und deine Töchter ansah. Dann wählte ich den armen Wasserträger." Der Vater fragte seine Tochter: "Was sahst du an dem armen Wasserträger?" Die Tochter sagte: "Seine Sitten waren die eines wohlerzogenen, gemäßigten Mannes aus guter Familie. Seine Hände waren so schön, wie es sie nur im Hause eines vornehmen Vaterhauses geben wird. Seine Augen waren treu und klug wie die eines Mannes, der eine gute Mutter hatte." Der reiche Mann sagte: "Was hat dir dieser Mann gesagt, seit du mit ihm verheiratet bist?" Die



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Tochter sagte: "Mein Mann hat mir nichts gesagt, denn es ist nicht meine Sache, ihn zu fragen." Der Vater sagte: "Wessen Sache ist das?" Die Tochter sagte: "Es ist die meines Vaters." Der Vater sagte: "In diesem hast du recht. Ich danke dir, meine Tochter!" Die sechste Tochter des reichen Mannes ging.

Der Vater rief seine ersten fünf Schwiegersöhne herein und sagte: "Ihr habt meine ersten fünf Töchter geheiratet. Ihr kennt mein Haus schon lange. Ihr habt einen Schwager. Diesen kennt ihr erst, seit ihr selbst verheiratet seid. Was könnt ihr mir über diesen, euren Schwager, sagen?" Die fünf Schwiegersöhne sahen sich an. Der erste Schwiegersohn sagte: "Er war früher Wasserträger." Der zweite Schwiegersohn sagte: "Er ist ein schmutziger Mann." Der dritte Schwiegersohn sagte: "Er weiß sich nicht zu benehmen." Der vierte Schwiegersohn sagte: "Er wird ein früherer Sklave sein." Der fünfte Schwiegersohn sagte: "Du hast ihm ja auch ein Haus unter den Sklaven gegeben." Alle Schwiegersöhne sagten: "Sicherlich, er ist ein Sklave." Der reiche Mann sagte: "Laßt den früheren Wasserträger kommen." Ein Sklave lief hinaus.

Nach einiger Zeit kam der frühere Wasserträger. Der reiche Mann sah ihn von seinem Angareb aus an. Der reiche Mann sagte: "Tue mir den Gefallen und zeige mir deine Hand." Der frühere Wasserträger reichte dem Manne seine Hand. Der reiche Mann sagte: "Ich danke dir, doch sage mir bitte noch, was du hierzu meinst: Die Gatten meiner ersten fünf Töchter, die hier stehen, sagen, du seist ein Sklave. Sage mir, bitte, was du hierzu meinst!" Der frühere Wasserträger sagte: "Ich will dir dieses gern beantworten. Ich bitte dich aber um deine Gerechtigkeit." Der reiche Mann sagte: "Meiner Gerechtigkeit kannst du gewiß sein, denn eben noch habe ich mich auf den Tod vorbereitet gehabt und eben erst habe ich gelernt, daß der Irrtum die schlimmste Krankheit der Menschen ist."

Der frühere Wasserträger sagte: "Wenn du also Gerechtigkeit walten lassen willst, so bitte ich dich um folgendes: Wenn deine andern Schwiegersöhne mir nachweisen können, daß ich oder einer meiner Väter je ein Sklave war, so will ich ihnen von heute bis zu meinem Ende dienen. Wenn ich ihnen aber nachweisen kann, daß sie die Sklavenzeichen meiner Familie tragen, dann sollen sie mir dienen." Der reiche Mann sagte: "Diese Forderung ist gerecht. Wie soll die Sache nun entschieden werden ?" Der frühere Wasserträger sagte: "Alle Sklaven meiner Familie tragen das Halaga-nu-matrak



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auf dem Hintern. Laß deinen ersten fünf Schwiegersöhnen die Hosen ausziehen und nach dem Halaga-nu-matrak sehen."

Die ersten fünf Schwiegersöhne sagten zornig: "Wie kann dieser Wasserträger etwas Derartiges verlangen?!" Der reiche Mann sagte: "Ich finde es gerecht, daß, wenn ihr jenen seiner Niedrigkeit bezichtigt, ihr erst eure höhere Reinheit beweist." Die Schwiegersöhne wollten sich weigern. Die Schwiegersöhne schrien. Die Schwiegersöhne rannten hinaus. Der reiche Mann sandte seine Sklaven hinter ihnen her. Die Sklaven fingen die fünf Schwiegersöhne. Sie zogen den fünf Schwiegersöhnen die Hosen aus.

Der reiche Mann sagte zu dem Wasserträger: "Nimm diese fünf Diener aus meiner Hand. Ich will für dich und deine Frau, welche meine klügste Tochter ist, das Haus im Garten herrichten lassen. Jene, deine Diener, können aber von nun ab im Sklavenhof wohnen." Der Wasserträger sagte: "Ich danke dir. Ich bitte dich aber, mir für zwei Monate Urlaub zu erteilen, damit ich zu meinem Hause zurückkehren kann." Darauf fiel dem reichen Manne ein, was seine Tochter ihm gesagt hatte. Der reiche Mann sagte: "Willst du mir erzählen, wo du zu Haus bist?"

Der junge Mann sagte: "Ich bin der Sohn reicher Leute. Meine Eltern starben früh. Ich führte ein annehmliches Leben, bis mir vor einiger Zeit träumte, ich verlöre mein ganzes Besitztum und müsse mein Leben als Wasserträger notdürftig fristen. Als ich erwachte, sagte ich mir, daß es besser sei, wenn ich meinem Schicksal entgegenreite, und daß ich ein schweres Arbeitsleben je früher um so leichter kennenlernen müsse. Ich lud viel Geld in die Taschen eines Eselsackes, schloß mein Haus und ritt, ohne von meinen Freunden Abschied zu nehmen, fort. Als ich weit gekommen war, erreichte ich den Nil. Das Wasser des Nils war hoch, und so mußte ich mit dem bepackten Esel in ein Boot steigen. Unterwegs riß sich mein Esel los, ich konnte die Kette nicht mehr halten. Der Esel stürzte ins Wasser und ging mit meinem Gelde unter. Mir aber fiel, sowie ich am andern Ufer des Nil diese Stadt betrat, mein Traum ein, und ich begann mich an das Leben eines Wasserträgers zu gewöhnen, das ich dann führte, bis mich deine Tochter zu ihrem Manne erkor. Das ist mein Leben, und ich hoffe, daß damit der schwerste Teil desselben, der mir auch das reichste Gut eingetragen hat, zu Ende ist. Denn deine kluge Tochter ist von allen Gütern, die mir jemals zufallen können, das beste."

Als der junge Mann dies erzählt hatte, fiel der reiche Mann ihm



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um den Hals und sagte: "Mein lieber Sohn, jetzt erst sehe ich, wie wahrhaft recht du hast und wie klug meine sechste Tochter ist. Tue aber, wie es dir paßt. Kehre, wann du es willst, in dein Land zurück und sieh nach dem Deinen. Gestatte mir nur, daß ich dich für einige Monate begleite, um deine eigene Heimat kennen und mich an eurem Glück erfreuen zu können." Der junge Mann sagte: "Das ist ein schöner Wunsch. Wir können, wenn es dir recht ist, in wenigen Tagen aufbrechen."

Der reiche Mann stellte eine Karawane zusammen, die nach wenigen Tagen über den Nil ging. Die fünf ersten Schwiegersöhne begleiteten die Karawane auf ausdrücklichen Befehl des reichen Mannes als Diener des sechsten Schwiegersohnes. Als der reiche Mann mit seinem Schwiegersohn den Nil an der flachen Stelle unterhalb des Fährbootes durchschritten hatte, beugten sie sich nieder, um sich im Flusse zu waschen. Dabei aber griff der reiche Mann das Ende einer Kette, die aus dem Sande des niedrigen Flusses herausragte. Der Schwiegersohn sah das Ende der Kette in der Hand seines Schwiegervaters und rief: "Seht doch! Seht doch!" Der Schwiegervater sagte: "Was hast du, mein Sohn, daß du so erregt bist?" Der junge Mann sagte: "Oh, mein Vater, was bin ich glücklich, daß ich dir hier schon die Wahrheit meiner Erzählung beweisen kann. Dies ist die Kette, die um den Hals des Esels befestigt war, als er mit meinem Gelde in den Fluß stürzte und versank. Laß die Kette doch ganz herausziehen." Der Schwiegervater rief seine Sklaven und die Diener seines Schwiegersohnes herbei. Alle warfen den Sand beiseite, und zuletzt kam am andern Ende der Kette unter dem Sand der Kopf des Esels zum Vorschein. Nachdem man noch weiter gegraben hatte, konnte man den ganzen Leib des Tieres herausziehen, und da zeigte es sich, daß er noch mit den Säcken voll Gold und Silber beladen war, in denen nicht ein Piaster fehlte.

Als die junge Frau das sah, fiel sie ihrem Manne um den Hals und sagte: "Ich habe mich also nicht geirrt, als ich damals den Wasserträger heiratete."

Die Karawane setzte ihre Reise fort, bis alle in den Ort des jungen Mannes kamen. Als er vor sein Haus kam, fand er Diener darin und Leute. Er sah, daß alles in bestem Zustand war. Seine Freunde hatten nach seiner stillen Abreise für sein Haus gesorgt, alles instand gehalten und durch sorgfältige Beaufsichtigung die Besitztümer des jungen Mannes vermehrt.



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So sah der Schwiegervater sogleich, welcher guten Gesellschaft der Gatte seiner Tochter angehörte, und um diese näher kennenzulernen, bat er seinen Schwiegersohn, bald eine große Azurne zu veranstalten. Der junge Mann war hierzu gern bereit und ordnete mit Hilfe seiner über seine Rückkehr glücklichen Freunde alles aufs beste an. Die junge Frau bat um die Erlaubnis, daran teilzunehmen. Die andern fünf Schwiegersöhne des reichen Mannes mußten aber beim Herumreichen der Platten bedienen.

Der junge Mann hatte alles aufs beste hergerichtet. Es gab ein ausgezeichnetes Essen und duftenden Scherbett. Während des Essens beobachtete der reiche Mann sorgfältig die Hände aller Anwesenden und Gäste. Als die Azurne vorüber war, sagte er zu seiner Tochter: "Mein Kind, du hast auch darin recht gehabt. Es waren heute viele schöne Hände eifrig und geschickt beim Essen zwischen Schüssel und Mund tätig. Keine Hand war aber so geschickt und so schön, wie die deines Mannes."


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