Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Die Geschichte von dem starken Grettir dem Geächteten


Übertragen von Paul Herrmann


Mit 8 Ansichten und einer Karte

Verlegt bei Eugen Diederichs in Jena 1913


Einleitung

Die einzige Strafe der Urzeit war der Tod. Wie aber behalfen sich die jungen Staaten, wenn sie eines Übeltäters dessen Schuld erwiesen war, nicht habhaft werden konnten: Er wurde aus der Gemeinschaft des Staates ausgestoßen, ausgestoßen aus dem Frieden des Gesetzes. Die Gleichsetzung des vertriebenen mit dem Wild des Waldes, das zu vernichten ein verdienstvolles Werk war, die Acht also war die eigentliche Urstrafe. Einen solchen Geächteten, der bußlos getötet werden darf, schildert uns Nestor bei Homer:

Stammpflicht; heiliges Recht, ja den heimischen Herd hat vergessen,

Wen's nach schrecklichem Streit unter Landesgenossen gelüstet.

Einen solchen Friedlosen traf im alten Rom das Exilium, die Entfernung von der Heimat, und die Untersagung des gemeinsamen Wassers und Feuers. Deutlich zeigt die altgermanische Sprache, was aus einem solchen Unglücklichen wurde, den Mord oder Widersetzlichkeit in die Wälder, in die Wüste, aufs Wasser oder ins Gebirge gescheucht hatte. Das alte Wort für Wolf ("Warg") bezeichnet nicht nur den Friedlosen, der wie ein würgender Wolf im Walde umherstreift, sondern auch den gewerbsmäßigen Räuber; so ist auch der Bandit ursprünglich ein ,bannitus ', ein Geächteter. Für die heute am meisten übliche Strafart, die der Freiheitsberaubung; für die Gefängnisstrafe hatte das älteste Strafrecht keinen Platz.

Wie kommt es, daß Heldendichtung, volkslied und volkssage mit vorliebe den Achter verherrlichen und sein Leben im wilden Walde, auf dem ungestümen Meere, in den Höhlen des Hochgebirges mit romantischem Schimmer verklären: Ist nicht noch beute an vielen Orten der Wildschütz eine gefeierte Persönlichkeit , wie Rabin Hood ein Wilderer und zugleich ein Outlaw ' war, der der furchtbaren Strenge der normannischen Jagdgesetze manches Schnippchen schlug: Das natürliche Empfinden des volkes fühlt sehr wohl heraus, daß ein Achter nicht unedel zu sein braucht und kein verräter; es hat warme



Thule-Bd.05-000.05 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Anteilnahme für die starke Persönlichkeit, die durch irgendeine Tat mit dem Staate in Zwiespalt geraten ist und doch im innersten Grunde nicht Unrecht zu haben braucht. Und dann der Kampf des einen in der Ode wider alle und auch gegen die Natur. Immer muß er gegen Überfälle gewappnet, stets auf der Hut sein; er bedarf weniger Schlafes als ein Vogel, weniger Nahrung als das scheue Wild, unablässig muß er auf neue Mittel sinnen, seinen Verfolgern zu entgehen, muß er ein Heer von Mühsalen und Leiden aushalten können; blitzschnell muß er oft handeln und ohne zu zucken dem Tode ins Auge sehen können. Aber auch der rauhe Achter trägt ein liebendes Herz in der Brust. Mit dämonischer Gewalt zieht es ihn zur geliebten Frau, zu den Kindern, nach der Heimat. Die verfemten Haimonskinder; die sich in den Ardennen versteckt halten, schleichen auf ihre väterliche Burg und besuchen, vom unwiderstehlichen Zwange getrieben, mit den Gefahren zu spielen, die Wettrennen van Paris. So kommt manch abenteuerlicher und manch humoristischer Zug in die Geschichten von den Achtern, und ihre Geistesgegenwart sowie ihre Verschlagenheit feiert immer neue Triumphe.

Je ferner Erzähler und Hörer der Zeit standen. in der die Achter ihr gehetztes Leben führten, desto romantischer und übermütiger kannten ihre Abenteuer erdichtet und vorgetragen werden. Je fortgeschrittener die Zeit war, desto weniger konnte sie das ursprüngliche Elend der Verfemten, ihre furchtbare Tragik nachfühlen. Wollen wir ein lebenswahres, von keiner Romantik vergoldetes Bild von den Taten und Empfindungen des Achters haben, sie müssen wir uns nach einer Überlieferung umsehen, die die nackte, raube Wirklichkeit noch selbst vor Augen hatte, die genug Beispiele aus eigener Erfahrung kannte, um aus ihnen ein der Wirklichkeit entsprechendes Porträt des ruhelos umhergejagten Achters zu zeichnen. Diese Bedingungen treffen bei uns Germanen allein für das alte Island zu, und die isländischen Sagas geben uns ein unverfälschtes, herb tragisches und psychologisch tief und wahr entworfenes Gemälde des heldenhaften Ächters.

Zunächst ist zu bemerken, daß die altisländische Acht eine unmittelbare



Thule-Bd.05-000.06 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Strafe war; sie ward verhängt, auch ohne daß der Täter daran gedacht hatte, einem zuerst ergangenen Urteile sich durch Flucht oder Ungehorsam zu entziehen.

Aus dem Mutterlande hatten die Isländer die Gestalt des Achters in ihre neue Heimat, in das vulkanische Eisland mit hinübergenommen. In Norwegen hieß der mit strenger Acht Bestrafte "Waldmann", die strenge Acht hieß "Waldgang". Aber das dürftige, kaum mannshohe Birkengestrüpp Islands konnte nicht, wie das weite, undurchdringliche Wäldergewirr Norwegens, dem Achter zum Unterschlupf dienen. Der alte Name blieb zwar, aber der"Waldmann"verbarg sich jetzt in dem menschenleeren Hochlande, den einsamen Tälern zwischen den unzugänglichen Gletschern, auf den unbewohnten Inselhorsten. Von der strengen Acht, dem Waldgang oder der Friedlosigkeit ist die milde Acht zu unterscheiden, die Bezirks- und Landesverweisung oder Verbannung. Die strenge Acht war in den isländischen Sagas nur die Folge von Gerichtsurteil, die milde Acht fast nur die Folge von Vergleich. Der altisländische Gerichtsgang war eine stilisierte, an bestimmte Formen gebundene Fehde; im Rechts-, wie im Waffenstreite ließ man List und Gewalt naiv walten. Es gab keinen verbörenden Untersuchungsrichter; nicht der Urteiler leitete den Prozeß, sondern die Parteien. Um den Gegner fiedlos zu machen, mußte der Kläger sich an das Volk wenden, das Thinggericht dahin bringen, daß es verfügte, der Schuldige dürfte von niemand gehegt, von jedem erschlagen werden. Die Senge Acht wurde also durch Gerichtsurteil verhängt. Die Landesverweisung dagegen war in der Regel ein privater vertrag zwischen den Parteien, eine Art verklausulierter Friedensschluß'. Der Waldmann war ohne weiteres verfolgbar, der Landesverwiesene nur, wenn er den vertrag nicht hielt; dann wurde die milde Acht zur strengen. Der Waldgänger konnte nach zwanzig Jahren der Acht ledig sein, vielleicht sogar schon, wenn nur ein geringer Teil des zwanzigsten Jahres verstrichen war. Die Bezirksacht, die verwesung des Schuldigen aus einer isländischen Landschaft größeren oder kleineren Umfanges, wurde von großen Herren, von den Goden verhängt und erfolgte durch Schiedsspruch



Thule-Bd.05-000.07 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

auf bedingte Zeit. Die Landesverweisung war lebenslänglich oder auf bedingte Zeit, meist auf drei Jahre, und die Fehde mit dem verbannten war damit erloschen; sie begann aber von neuem, wenn der verwiesene dem Acht spruche nicht nach kam. Mit der gerichtlichen Erwirkung des Waldgangsurteils war die Sache noch nicht erledigt, der Verletzte erhielt dadurch offiziell das Recht, seine Rache durchzuführen, und erst wenn diese voll erreicht war, wenn der Friedlose vernichtet war, war der Ehre des Gekränkten genug geschehen. Darum brachten die Angehörigen den Achter heimlich aufs Schiff, ohne daß der Achtleger es gewahr wurde, oder sie versteckten ibn, oder er wählte selbst die Einsamkeit. Der Landesverwiesene aber brauchte sich nicht verstohlen einzuschiffen und sich nicht tagscheu in Schlupfwinkeln und in der Einöde zu verbergen. Beim Waldgange kannte das Strafgericht der altisländischen Familiengeschichten keine Buße, sondern nur bei der milden Acht; zu deren Wesen gehörte die Zahlung einer bestimmten Summe; Landesverweisung und Buße zusammen machten erst die volle Strafe aus, bewirkten aber, daß der Kläger von der strengen Acht absah.

Der Waldgang erlosch, wie bemerkt, nach Ablauf von zwanzig Jahren; nicht einmal ächtungswürdige Taten, in diesem Zeitraume verübt, änderten daran etwas. Aber von keinem einzigen altisländischen Waidmanne weiß die Saga zu melden, daß er zwanzig Jahrein der gräßlichen Einsamkeit gehaust habe, und daß seine Acht damit vorüber gewesen sei. Nur der berühmte Achter des achtzehnten Jahrhunderts Berg-Eyvind, dessen Charakter und Schicksale die deutsche Bühne in dem Schauspiele des isländischen Dichters Johann Sigurjonson unlängst vorgeführt hat, soll zwanzig Jahre in der Wildnis gelebt haben und auf Grund dieses Rechtssatzes frei geworden sein-Der altisländische Waldgang aber war in Wahrheit eine vernichtung des Bestraften. Der andere Ausweg, daß der Achtleger die Begnadigung schenkte, kam nur sehr selten vor (Kap. si und Kap. 62 a. E.). Das Schicksal des Friedlosen lag also in der Hand des verletzten, nicht in der Hand des volkes; der Feind des Achters war die klägerische Partei, nicht das



Thule-Bd.05-000.08 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Volk Die Anschauung, daß der Ächter sich gegen die Gesamtheit vergangen hätte, war den Isländern durchaus Seind. Darum trieb nicht einmal der auf unsern Helden Grettir gesetzte Preis die unbeteiligten Bauern zum Kampfe gegen ihn, sondern nur die persönlich Geschädigten, darunter die von ihm gebrandschatzten Landleute und die von ihnen Angeworbenen unternahmen die Angriffe (Kap. 73 ff.).

Fragen wir endlich noch, welche Personen die strenge Acht traf; so zeigt es sich, daß es überwiegend vornehme Isländer waren. Die Gründe, die zu ihrer verurteilung führten, waren mannigfach , aber für das nicht altisländisch gebildete Rechtsgefühl nicht immer recht verständlich. Über Thorgeir wird der Waldgang verhängt, weil er bei dem Streite um den Wal, also in offenem Kampfe, den Thorgils getötet hatte (Kap. 27). Grettir ward über das ganze Land geächtet, weil er angeblich die Söhne des Thar in Norwegen nächtlich verbrannt hatte (Kap. 46) : es ist ein ganz gemeiner Justizmord, dem er zum Opfer fällt. und der norwegische König Olaf der Heilige hat selbst das Gefühl, daß Grettir von einem niederträchtigen Mißgeschick verfolgt wird. Grettirs erbittertster Gegner am Ende seines Lebens, Thorbjörn Angel, ward wegen Zauberei und Erschlagung des halbtoten Grettir angeklagt und lebenslänglich mit Waldgang belegt (Kap. 84). Flosi ward auf dem Allthing (Kap. 12) und Thorbjörn (Kap. 10) zu milder Acht und Zahlung bober Buße verurteilt, der erste um Fehdetaten willen, der andere wegen Totschlag. Grettir, der einen Seien Diener des Goden Thorkel, der ihn vermutlich hatte bestehlen wollen, nach einem Wortwechsel erschlagen hatte, wurde auf drei Jahre des Landes verwiesen (Kap. 16). Wir Heutigen, so weit wir uns unser natürliches Rechtsempfinden gewahrt haben, vermögen nicht einzusehen, warum bald strenge, bald milde Acht verhängt wurde, bei denselben verbrechen und bei Totschlagen, , die sogar in ehrlichem Kampfe vorgekommen waren.

Hier klafft ein Riß zwischen altisländischem und modernem Rechtsbewußtsein. Daß es keine Abstufung der Achtgrade nach der Schwere der Missetaten gibt; ist uns unfaßbar. In Island konnte vielmehr ein und dieselbe Missetat Rache haar



Thule-Bd.05-000.09 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

rufen oder vergleich oder gerichtliche Verfolgung."Es gab keine Taten, die ein für allemal Waldgangsfälle oder "Verbannungsfälle" oder "Bußfälle" waren; das hing von der Macht der beiden Parteien ab, von dem Willen des verletzten, den Ansprüchen , die er an die Vergeltung stellte. Das Recht war nur für den da, der es zu erobern wußte; auch ein Unschuldiger konnte verurteilt werden, wenn keiner zur Antwort da war (Kap. 46). Der altisländische Prozeß war eben eine Fehde; es wurde mehr nach Leidenschaft als nach den Gesetzen gehandelt (Kap. 46).

Über diese Auffassung der alten Isländer muß man sich klar sein, wenn man die großen Ächtergeschichten verstehen will, die sie hervorgebracht haben. Im achten Bande von ,Thule' werden fünf Geschichten von Achtern und Blutrache veröffentlicht werden. Der vorliegende fünfte Band enthält die Geschichte von dem starken Grettir, dem Geächteten, die umfangreichste und abenteuerlichste, die tragischste und psychologisch tiefste von allen diesen Sagas.

Der Dichter Grettir Asmundarson, d. h. Sohn des Asmund, ist eine geschichtliche Persönlichkeit. Er wurde im Jahre 996, also vier Jahre vor der Einführung des Christentums, in Bjarg in Nordisland geboren, mußte wegen Totschlags Island auf drei Jahre verlassen (1011 —1014), wurde wegen Verdachtes , die Söhne des Isländers Thorir in Norwegen in einem Hause verbrannt zu haben, 1016 mit strenger Acht belegt und führte fortan das Leben eines Achters, anfangs in der Nähe der Menschen im Westlande auf Reykholar, am Isafjördr und am Hvammsfjördr, dann im innern Hochlande, 1018 —1021, auf der Arnarvatnsheidi, bis 1024 auf Fagraskogar bei Björn, darauf abermals im innern Hochlande, im Thorisdalr; dann streifte er drei Jahre lang (1025—1028) im Ost- und Nordlande unstet und flüchtig umber. Im Herbst des Jahres 1028 begab er sich nach dem Inselhorste Drangey mit seinem jüngeren Bruder und einem Knechte und wurde hier im Jahre 1031 getötet.

Die Erinnerung an die zahllosen Abenteuer des starken Achters und gewandten Stegreifdichters hat im volke fortgelebt. Nicht



Thule-Bd.05-000.10 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

bloß der rohe Stoff dieser Erzählungen hat sich im volksmunde erhalten, sondern diese Geschichten sind schon früh, einige sogar vielleicht zu Lebzeiten Grettirs, sicherlich bald nach seinem Tode, von ,kundigen' Männern mündlich zusammengestellt und so überliefert worden. Manche neue Heldentat wurde hinzugedichtet, manche neue Strophe ihm in den Mund gelegt, allerlei Lokalsagen wurden auf ihn übertragen, immer üppiger rankten sich mythische und märchenhafte Züge um seine Gestalt. So fand in der letzten Hälfte des 13. Jahrhunderts der uns unbekannte Dichter; der einen historischen Roman von dem starken Grettir, dem Geächteten, schrieb, eine nicht nur inhaltlich, sondern auch dem Wortlaute nach gedächtnismäßig festgehaltene Saga vor. Dieser ihm überkommenen mündlichen Fassung drückte er natürlich sein eigenes dichterisches Gepräge auf; seine Aufgabe mußte es sein, in der Fülle der Gesichte den tragenden, zusammenhaltenden Gedanken zu finden. Nur so kannten die zahlreichen Erlebnisse Grettirs von den Kinderjahren bis zum einsamen Tode, die vielen Geschichten, erlebte und erdichtete, wirkliche und mythisch -märchenhafte, ein richtiges Kunstwerk werden. Der geschichtliche Kern mußte von der dichtenden Phantasie umgemodelt werden; die Poesie ist eben philosophischer und steht höher als die Geschichte, sagt Aristoteles.

Schon die im ganzen nicht sonderlich interessante vorgeschichte (Kap. 1—13) gibt uns einen Einblick in die Art und Anschauung des Verfassers. Sie beginnt mit der Aufzählung der vorfahren und Verwandten des Önund Holzfuß, des Urgroßvaters Gettirs. Önund war ein gewaltiger Wiking und kämpfte in der Schlacht im Hafrsfjördr gegen König Harald, wobei er ein Bein einbüßte. Auf den Hebriden schloß er Freundschaft mit Ofeig Grettir, verlobte sich mit dessen Tochter Asa und nahm später Land auf Island an der Nordwestküste des Hunafloi von Eirik Snara. von seiner ersten Frau hatte er zwei Söhne, Thorgeir Flöskubak und Ofeig Grettir, von seiner zweiten Gattin Thordis hatte er einen Sohn, Thorgrim Härukoll. Der Sohn des letzteren und dessen Gattin Thordis war Asmund Härulang. Dieser hatte in Norwegen aus erster Ehe



Thule-Bd.05-000.11 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

einen Sohn Thorstein Dromund, den späteren Rächer Grettirs. Auf Island heiratete er Asdis, die ihm zwei Töchter und drei Söhne gebar, Ätti, Grettir und Jllugi.

vergleicht man diese Vorgeschichte mit den ärmlich fließenden geschichtlichen Quellen, so sieht man, daß der verfasser sehr frei, aber mit großem Geschick zu Werke geht: er bringt seine Helden mit Personen zusammen, die nie etwas miteinander zu tun gehabt haben, und dichtet ihnen nach vorhandenen literarischen Mustern Erlebnisse und Taten an. Nicht ohne Grund wird der Erzähler Grettirs Angehörigen in reichem Maße verse in den Mund gelegt haben. Ob diese echt oder unecht sind, gehört nicht hierher. Der verfasser will jedenfalls, daß diese verse von den Leuten herrühren, die erste dichten läßt und damit muß er eine bestimmte Absicht verbunden haben. von Grettirs Urgroßvater Önund führt er vier Strophen an (i, 3, 4, 5), von seinem Vater eine (10); von seiner Mutter Asdis hebt er hervor; daß sie die Schwester des Skalden Jökul Bardarson ist, und diese selbst dichtet eine Strophe, als sie den Tod ihres Sohnes erfährt (67); sogar seinem Halbbruder Thorstein wird ein Vers in den Mund gelegt (68). Wir sollen also lernen, daß Grettir nicht nur aus einer stolzen, angesehenen Häuptlingsfamilie stammt, sondern aus einem Geschlechte, in dem die Gabe der Dichtkunst zu Hause war.

Noch deutlicher tritt die Absicht des Erzählers, den Charakter seines Helden gewissermaßen durch Vererbung von vornherein zu erklären und glaubhaft zu machen, in Asmunds Jugendgeschichte hervor (Kap. 13). Asmund hatte wenig Lust zu häuslichen Arbeiten, und darum war das verhältnis zwischen ihm und seinem Vater kalt; von seinem Vater nur kärglich unterstützt unternahm er Seereisen, hielt sich längere Zeit in Norwegen auf, ging nach dem Tode der ersten Frau abermals aufs Meer und wurde erst ein tüchtiger Landwirt, als er sich mit Asdis 'auf Island vermählte. —

Dieselben Verhältnisse kehren zwischen Asmund und seinem zweiten Sohne Grettir wieder: Grettir ist das Ebenbild seines vaters, aber roher und abstoßender. Mit einer kurzen Charakteristik schlägt der Erzähler den grundlegenden Akkord an: Es



Thule-Bd.05-000.12 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

ließ sich schwer mit ihm umgehen, während er heranwuchs; er war karg mit Reden und rauh im Umgang, und schnell zu Gewalttätigkeiten bereit in Worten und Werken. Sein Vater hatte keine sonderliche Liebe zu ihm, aber seine Mutter liebte ihn sehr. Grettir war von Aussehen ein schöner Mann, er hatte ein breites und kurzes Antlitz, rote Haare und viele Sommersprossen, er entwickelte sich nur langsam, solange er noch im Kindesalter war," und der Erzähler schließt das vorspiel : "Häufig dichtete er Lieder und kurze Verse, meist spottenden und kränkenden Inhalts."

In drei charakteristischen, uns freilich etwas grell und disharmonisch anmutenden Sätzen wird dann das Hauptmotiv vorbereitet, Grettirs Unbändigkeit und Trotz, seine Neigung zu Gewalttätigkeiten in Worten und Werken. Der zehnjährige Grettir wird vom Vater beauftragt die Gänse zu hüten; aber ungeduldig darüber, daß ihm die alten zu schwierig, die jungen zu langsam sind, tötet er diese, zerbricht jenen die Flügel. Er soll dem Vater den Rücken reiben, da nimmt er einen Wollkamm und fährt dem Alten damit über das bloße Fleisch (oder kratzt ihn, wie die Strophe besagen kann, mit den Nägeln blutig). Als er die Rosse hüten soll, ärgert er sich darüber, daß die Lieblingsstute des Vaters so spät in den Stall will; in häßlich roher Weise schneidet er ihr in den Rücken und reißt ihr die Haut los. Als der Vater seinem Lieblinge den Rücken streichelt, behält er die Haut in der Hand. Der Vater will ihm fortan keine Arbeit mehr aufgeben. "Grettir aber verübte noch viele Bubenstreiche, die nicht aufgezeichnet sind."

Bezeichnend für Grettir ist, daß er den ersten und zweiten War- und Moritzstreich mit einem selbstgedichteten verse begleitet und daß er stets ein knappes Sprichwort zur verfügung hat. Als er den Vater blutig gekratzt hat, entschuldigt er sich mit dem Sprichwort, das für sein ganzes Leben gilt: "Übel ist es, den zu reizen, der niemals weicht.

Ein Mensch mit einem solchen Charakter kann unmöglich glücklich werden, die Überzeugung prägt sich uns sofort ein. Wir finden es ganz in Übereinstimmung mit seinem Charakter, daß er ein gefährlicher und gefürchteter Spielkamerad wird, daß



Thule-Bd.05-000.13 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

er beim Ballspiele Streit anfängt und als er dabei von Mem älteren und stärkeren übel zugerichtet wird, die Rache auf später verschiebt. Wir sind keineswegs überrascht, daß der Fünfzehnjährige bereits seinen ersten Totschlag verübt.

Sicherlich hat der Dichter bei der Jugendgeschichte des Topfguckers " Grettir; der langsam heranwächst; für träge gilt und nicht arbeiten will, später aber der starke" Grettir wird, an die "Koblenbeißer" der beimischen Sagas gedacht. Andererseits gemahnen Grettirs Knabenstreiche doch auch sehr an die Jugendstreiche des starken Hans, wie wir sie aus diesem Märchen und dem vom Barren sohn kennen, und vielleicht lassen sich gerade dadurch die übertrieben rohen Züge unserer Erzählung erklären. —

Mit der Landesverweisung Grettirs hört seine Jugend auf. Der mit Recht verbitterte Baier rüstet ihn für die Reise nach Norwegen nur dürftig aug, die Mutter aber —Sorgenkinder sind der Mutter oft am meisten ans Herz gewachsen —gibt ihm zum Abschiede ein siegbringendes Schwert, den Jökulsnaut . Auf der stürmischen Überfahrt liegt Grettir faul und untätig auf dem Schiffe und spottet in versen über die Mannschaft , die schwer zu arbeiten hat. Erst ein kluges Wort des Schiffsherrn, das ihn an die heimlich verehrte Steuermannsfrau erinnert, reißt ihn aus seiner Trägheit heraus, er hilft beim Wasserschöpfen mit solcher Kraft; daß acht Mann zu tun haben, das Wasser auszugießen, das er heraufbringt: auch das ist eine Krafttat deo starken Hans, geschickt auf nordische verhältnisse übertragen.

Das Schiff scheitert, und Grettir findet bei dem Häuptling Thorsinn auf einer Insel am Ausgange deo Moldefjordes Aufnahme . Er erbricht den Grabhügel, in dem Kar, der Vater seines Wirtes, beigesetzt ist, und erbeutet das Schwert Karsnaut. von Grettirs letzter Zufluchtsstätte Dranges kommt es nach dem Tode des Helden in den Besitz seines Mörders Thorbjörn und verrät diesen, als er in Byzanz mit der Waffe prahlt. Mit List besiegt Grettir zwei Berserker, die das Gehöft Thorfinns heimsuchen, befreit so Norwegen von einem großen Übel und tötet; durch den ehrgeizigen, aber mißgünstigen Björn gereizt,



Thule-Bd.05-000.14 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

einen Bären, der das Land unsicher macht. Später erschlägt er Björn im Zweikampfe und dessen beide Brüder; die ibn hinterrücks überfallen. Diese aber sind Gefolgsmannen des Jarl Svein, und nur dem energischen Auftreten seiner Freunde verdankt es Grettir, daß ihn der Jarl nach Island zurückfahren läßt. Mit Schätzen reich beladen, mit Ruhm und Ehre geschmückt betritt Grettir den heimatlichen Boden. Die Befürchtungen, die der Vater um ibn gehabt hat, scheinen grundlos gewesen zu sein; Grettir hat sich bewährt, er hat bewiesen, daß er sich glückliches Leben schmieden kann. wenn er will, und freundschaftlich nimmt ihn der Vater auf. Während Grettir in Norwegen durch das Erbrechen des Grabhügels und seine Kämpfe gegen die Berserker berühmt geworden war, wird jetzt der Kampf mit Gespenstern und übernatürlichen Wesen seine Spezialität. Sobald Grettir wieder daheim ist, ein Jahr nur, verlassen ihn die guten Geister, die Dämonen bekommen die Oberhand. Sein Übermut und Hochmut wächst, seine Unbändigkeit schwillt; es gibt nichts, das ihm unausführbar erscheint. Das erste, wao er zu Hause anstellt, ist, daß er zeigt, daß er nicht vergessen bat:

Rasch ist der Knecht zur Rache,
Der Feige fürchtet sich,

aber der wahre, Seie Mann genießt seine Rache kalt. Grettir läßt seinen alien Gegner, der ihn einst beim Ballspiele übel behandelt hai, seine Überlegenheit fühlen, und nur das zufällige Dazwischentreten des Bardi verhütet das Äußerste. Am liebsten möchte Grettir jetzt mit diesem anbinden, zumal da er durch ihn von einem Fehdezuge ausgeschlossen wird, aber Bardi schlägt den Zweikampf aus. An diesem Gegner hätte Grettir lernen können, daß Tapferkeit sich sehr wohl mit Friedensliebe vereinen läßt, ibn aber führt die rohe Kraft, der Einsicht bar, ins verderben. Bei einer Pferdehatz wird er von einem Manne gereizt, er zerbricht ihm drei Rippen, und die Folgeist das Gefecht auf dem Hrutafjardarhals. Der starke gewalttätige Thorbjörn Ochsenkraft trennt die Kämpfenden, erntet aber wenig Dank von Grettir, und als Thorbjörns spottlustiger Freund Thorbjörn Ferdalang einige hämische Bemerkungen macht, artet das gespannte verhältnis zwischen beiden Parteien in offene Feindschaft aug.



Thule-Bd.05-000.15 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Eingehend und sorgfältig wird dann die Tat vorbereitet, die Grettirs höchster Ruhm und tiefstes Unglück werden soll, der Kampf mit dem gespenstischen Widergänger Glam. Der Unhold unterliegt zwar endlich nach furchtbarem Ringen, aber sterbend flucht er dem Sieger: Achtung solle ihn treffen, einsam werde er leben müssen, seine Taten sollen sich ihm in Unglück und Mißgeschick wandeln, immer sollen ihm die Augen des Sterbenden vor schweben und ihn schrecken."von Stund an war in der Hinsicht mit ihm eine große Veränderung vorgegangen, daß er so furchtsam vor der Finsternis geworden war, daß er nirgends hingeben mochte, sobald es finster wurde. Er sah allerlei seltsame Gesichte, und es war später eine Redensart geworden, daß Glam denjenigen, die anders sehen, als es wirklich ist Augen leiht oder ihnen das Glamgesicht gibt". Die Nachricht, daß König Olaf tapfere Jünglinge für sein Gefolge sucht, bestimmt ihn, nach Norwegen zu fahren; vorher aber erschlägt er Thorbjörn Ferdalang, der mit frechem Spott Grettirs totkranken Vater begeifert hat.

Grettirs Kampf mit Glam ist der Höhepunkt des Romans, aller Glanz der Darstellung ist auf dieses Kapitel verwendet, unmittelbar daneben liegt die Peripetie. Von einer richtigen Würdigung gerade dieser Szenen hängt das verständnis der fallenden Handlung ab.

Die Bedeutung von Grettirs Kampf mit Glam liegt nicht auf stofflichem Gebiete. Die Überwindung eines gespenstischen Toten im Ringkämpfe ist ein beliebtes Abenteuer starker Männer, wenn auch das Grauen hier noch dadurch gesteigert wird, daß Glam nicht ein gewöhnlicher menschlicher Widergänger ist, sondern, wie die Schilderung seiner gewaltigen Größe zeigt, ein Riese. Auch darauf kommt es nicht in erster Linie an, inwieweit die Szene Motive aus dem Bärensohnmärchen enthält; oder die magischen Schauer des winterlichen Nordlichtes, den schreckenerregenden, spukhaften Eindruck des Vollmondes in Winternächten malt. Ohne Frage hat der Erzähler den alien Aberglauben gekannt, daß des Toten Auge den Lebenden fasziniert: dem Augenblicke, da Glam fällt, blickt er in den Mond, und in eben diesem Augenblicke erscheinen seine Augen



Thule-Bd.05-000.16 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Grettir als das Furchtbarste, was er je gesehen hat. Ohne Frage auch hat der Erzähler aus eigener Erfahrung gewußt, warum Grettir sich immer fürchtet, wenn es zu dunkeln anfing,

Die Angst vor dem Dunkel, die bei uns und bei Kindern vorkommt, , die künstlich graulich gemacht werden, ist noch heute eine bei vielen einfachen Isländern erscheinende Eigentümlichkeit. Auf meinen wiederholten Reisen in die abseits gelegenen Teile Islands, wohin noch keine moderne Aufklärung gedrungen ist, bin ich mehrfach gefragt worden, ob man auch bei uns das Gefühl der "Furcht vor der Finsternis" kennt. Man muß an die Grauen der isländischen Winternacht denken, um diese Angst nachempfinden ;u können; z. B., obwohl Steinpyramiden den kurzen Weg bezeichnen. der vom Hofe nach dem Schafställe führt, ereignet es sich doch oft, daß sich die Knechte und Mägde in der rabenschwarzen Finsternis, bei Schneegestöber und Sturm, verirren und stundenlang umhertasten, ja selbst den Tod finden, Nun stelle man sich einen Mann vor, der dazu verdammt ist, fünfzehn Jahre fern von den Menschen zu leben, darunter mindestens fünf Jahre allein in grauenhafter Einöde, allein mit seinen Gedanken, immer ins undurchdringliche Dunkel gebannt: Je länger diese entsetzliche Zeit währt, um so größer wächst natürlich die Furcht vor dem Alleinsein in der Finsternis. Das ist der furchtbarste Fluch, der den Achter treffen kann: gegen feindliche Wien scheu und Naturgewalten kann er sich mit seinen Kräften wehren. aber diesem unheimlichen, nicht zu fassenden Feinde gegenüber, der gespensterhaft immer wieder auf ihn los schleicht, der plötzlich wieder da ist, wenn er kaum verscheucht war, ist er ohnmächtig, da helfen weder Unbändigkeit noch Stärke. Ein moderner Mensch würde vielleicht wahnsinnig werden , der isländische Kecke wird zermürbt. sein Trotz wird zertrümmert , jetzt erst wird der Friedlose wirklich friedlos, Glams Fluch geht in Erfüllung.

In jedem Menschen, sagt Jonas Lic, Norwegens tiefster Romandichter, sind Trolle, Unholde, um deren Modelle man nicht in verlegenheit zu sein braucht. Auch in Grettir steckt ein Troll, und dieser Troll ist nicht nur sein Trotz und seine zügellose Heftigkeit, sondern im tiefsten Innern, keinem als ihm selbst bekannt



Thule-Bd.05-000.17 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

und erst spät ihm zum Bewußtsein gekommen, das verlangen, unter Menschen zu sein, die Furcht vor dem Alleinsein in der Finsternis. Glams Fluch wird nicht darum für Grettir verhängnisvoll, weil die Aussage eines Unholds, der Fluch eines Sterbenden immer in Erfüllung geht, sondern weil er die schwache Seite von Grettirs Charakter trifft, der für solche Suggestionen in hohem Maße empfänglich ist. Darum wird ihm unmittelbar nach der Weissagung der Rat gegeben, sich selbst zu beherrschen, dann könne sich Glams Fluch nicht erfüllen, — denn dann braucht er die Menschen nicht zu meiden.

Aber schon vor dem Kampfe mit Glam siebt eine bedeutungsvolle Szene, die nicht übersehen werden darf. Als Grettir in Ruhe und Frieden den Winter auf Bjarg sitzt, beklagt er sich immer; daß er nirgends Gelegenheit finden könne, seine Kräfte zu erproben (Kap. 31 a. E.). Als er mit seinem Oheim Jökul über den Spuk spricht, rät ihm dieser dringend und herzlich, von dem tollkühnen Wagnis abzulassen: Glück und Tapferkeit sind zwei ganz verschiedene Dinge, Worte, die als Motto für die ganze Saga gelten können. Grettir unternimmt gleichwohl das gefährliche Abenteuer. Aus Mitgefühl für den so schwer geplagten Bauer: vielleicht; denn Grettir ist im Grunde gutmütig und warmherzig, immer bereit, andern zu helfen und "anderer Schwierigkeiten zu lösen" — aber was ihn in Wahrheit in den Kampf mit Glam treibt, das ist sein ruheloser Ehrgeiz , sein kecker Trotz, der ihn von einem Unglück ins andere reißt, sein unbändiges verlangen, überall mit im Spiele sein zu müssen. Dieser dämonische Zug zwingt ihn, sich immer mit Unholden und Trollen abzugeben, unwiderstehlich reizt es ihn, sich mit solchen Ungeheuern zu messen, und je furchtbarer sie sind, um so lieber nimmt erdas Ringen mit ihnen auf. Und dadurch, daß er sich überhebt bei solchen widernatürlichen Kämpfen, bekommen die Dämonen Macht über ihn. Darum wird sein Geschick, das bisher hell und herrlich gewesen war; von jetzt an eine ununterbrochene Kette von Unglücksschlägen. —

Sogleich nach seiner Ankunft in Norwegen soll Grettir merken, daß das Schicksal jetzt furchtbar gegen ihn ausholt. Wie der starke Hans im Märchen von seiner Umgebung, die ihn ver



Thule-Bd.05-000.18 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

derben möchte, an einen gefährlichen Ort geschickt wird, um Feuer zu holen, so schwimmt der gutmütige Grettir, obwohl er ahnt, daß sie es ihm übel lohnen werden, für die Kaufleute, die jammern, vor Nässe und Frost sterben zu müssen, über den Sund und holt Feuer. Aber als Grettir, der in seinem gefrorenen Schwimmanzuge wie ein Troll aussieht, in das Haus eintritt , wollen ihm die Söhne des Isländers Thorir wehren, Feuer zu nehmen und schlagen auf ihn los; er verteidigt sich mit Feuerbränden und kehrt glücklich zu seiner Reisegesellschaft zurück. Am nächsten Morgen stellt sich heraus, daß das Haus in Flammen aufgegangen ist. Wie die Entstehung des Asylbrandes in Ibsens "Gespenstern" absichtlich nicht erklärt wird, so läßt uns auch hier die Saga im Unklaren. wodurch das Haus eingeäschert ist. Beide Dichter aber, der moderne wie der alte, verwerten den Zufall für ihre Zwecke. Um nicht selbst in Verdacht zu kommen, verdächtigen die Kaufleute Grettir und bezichtigen ibn überall der Neidingstat, die er mit der verbrennung der Thorirssöhne begangen habe. Mit diesem tragischen Ereignisse erreicht Grettirs Unglück seinen Höhepunkt, die Tücke des Fatums hat ihn gepackt und läßt ihn nicht wieder los. Grettir fühlt sich nicht einmal als unfreiwillige Ursache des Mordbrandes und ist bereit, sich vor König Olaf dem Heiligen durch Gottesgericht zu reinigen. Über als er zu diesem Zwecke durch den Dom von Drontheim schreitet, ist es, als ob die Wildheit in seiner Seele in der Gestalt des Burschen aus ihm herausspringt , der ihn verspottet, und den er an geweihter Statt zu Boden schlägt. Deutlich und unverhüllt tritt hier der Grundgedanke hervor: durch seine Unbändigkeit, sagt der König, hat Grettir das Gottesgericht unmöglich gemacht; " aus Unbesonnenheit kommt immer Böses" er kann ihm nicht mehr helfen: "ich glaube, es wird dir schwer fallen, gegen dein Unglück zu kämpfen."

Auf der Reise zu seinem Bruder Thorstein tötet Grettir den Berserker Snaekoll, der eine Bauerntochter tns Unglück stürzen will, und in einer rührenden Szene verspricht der Bruder; böser Ahnungen voll, ihn zu rächen (Kap. 44 ). Inzwischen ist auf Island Grettirs Vater gestorben, der noch auf seinem Toten



Thule-Bd.05-000.19 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

bette die treffenden Worte äußert, das ihm Grettirs Leben auf ein rollendes Rad gelegt zu sein scheine. Grettirs Bruder Atli ist von Thorbjörn Ochsenkraft getötet, und er selbst ist auf dem Allthing geächtet worden, Thorir hat einen Preis auf seinen Kopf gesetzt — durch einen Justizmord ist Grettir immer aus der Gesellschaft der Menschen ausgestoßen. —

Und doch empfinden wir; dank der Kunst des Erzählers, diese Ausstoßung nicht als einen plumpen Schlag, der ihn unverdient träfe. Wir haben das Gefühl: nicht erst das Gericht auf dem Allthing, sondern Grettirs eigener Sinn hat ihn friedlos unter den Menschen gemacht. Und nun geschieht etwas sehr Merkwürdiges, das für die stolze Höhe der Darstellungskunst des Dichters spricht: langsam, aber immer herzlicher wendet sich unsere Teilnahme dem Geächteten zu, nicht weil er so elend und jämmerlich gehetzt wird, sondern weil Grettir erst jetzt Gelegenheit hat, sich richtig zu entfalten. Die Überfälle und Straßenräubereien, die er begehen muß, um sein Leben zu fristen, sind die notwendige Folge seiner Lage. Aber er ist ein ganzer Mann, Reue kennt er nicht. Je grausamer und ungerechter der ungehobelte Bursche verurteilt worden ist, je mehr seine verfolger ihre kleinliche Bosheit und Niedertracht an den Tag legen, im Gegensatze zu seiner Gradheit und Hochherzigkeit je mehr sein Leiden gesteigert wird und die Hoheit seines Charakters sich offenbart; — um so mehr gewinnt er unsere Sympathie. So rauh er sich in seinem Gebahren zeigt; so warm empfindet er erwiesene Wohltat. Ein Freund körperlicher Arbeit ist er auch jetzt noch nicht aber seine Kühnheit ist ohnegleichen. So schwer er sich früher an Menschen angeschlossen hat, so stark betrachtet er jetzt die Einsamkeit als schlimmste Strafe. Gutmütig redlich, hilfsbereit den Schwachen gegenüber, ausdauernd, geduldig im Leiden, mit einem derb humoristischen Scherz oder einem witzigen, beißenden Spott auf den Lippen, mit einer treffenden Antwort auf der Zunge —so steht der vom Glück verlassene und von den Feinden verfolgte Mann jetzt vor uns.

Sobald er den Boden der Heimat betritt, erfährt er seine Achtung und des Bruders Ermordung. Bevor der verfasser aber Grettirs Rache an Thorbjörn und dessen Sohn erzählt, schiebt



Thule-Bd.05-000.20 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

er ein kleines humoristisches Stück ein, die sogenannten Södulkollu-Stropben . Der Held unserer Sage ist eben ein Dichter, und wenn er auch nicht, wie fast alle seine berühmten Volksgenossen, Fürstenskalde geworden ist, so ist er dafür um so schlichter und volkstümlicher geblieben. Die Art und Weise, wie er und der Bauer sich an versen überbieten, ist ein regelrechter Sangeswettkampf, ein Wettdichten, wie es noch heute auf Island viel geübt wird, und Grettir zeigt sich hier als ein überaus gewandter Stegreifdichter.

Vor seines Feindes Freunden flieht Grettir von Hof zu Hof, bis er auf Keykholar für den Winter Unterkunft findet. Wie Gott Thor und der starke Hans trägt er einen Stier auf dem Rücken fort. Fast wäre er auf dem Allthing des nächsten Jahres von der Acht bereit worden, aber Thorirs Zorn und Haß ist noch zu frisch und heiß. Am Isafjördr wird er von den Bauern gefangen genommen, aber die Godenfau reitet ihn und gibt ihm eine volle Ehrenerklärung: "Das war ein rechtes Mißgeschick, daß diese Jammerkerle dich greifen sollten !", und zu den Bauern sagt sie: "Das ist nicht euereins Sache, einen Grettir ums Leben zu bringen, denn er ist ein berühmter wann aus großem Hause, mag er auch ein Unglücksmann sein" (Kap. 52). Den Winter über bleibt Grettir bei einem verwandten am Hvammsfjördr, beschließt aber dann indie Einsamkeit ;u gehen, nach der Arnarvamsheidi im inneren Hochlande. —

In der Einsamkeit des Hochlandes, wo der friedlose Grettir die nächsten Jahre von Fischfang, auch wohl von Plünderung ahnungsloser Reisender lebt, stößt ab und zu ein zweiter Schier zu ihm, "dunkle Gestalten, denen der Sippenanhang und das Standesgefühl fehlen, die den edlen Achter, den Friedlosen aus guter Familie, vor dem niedrigen verbrechertum bewahren". Grettir schart nicht, wie ein anderer berühmter Achter, Verbrecherhaufen um sich und wird nie zu einem Auswurf der Gesellschaft, obwohl er furchtbar Glams Fluch empfindet, er vermag kaum noch die Einsamkeit und das Dunkel der Nacht zu ertragen. "Die Wüste wächst — weh dem, der Wüsten birgt! (Nietzsche).

Als sein erbitterter Gegner Thorir mit achtzig Mann gegen



Thule-Bd.05-000.21 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

ihn heranzieht, deckt ihm ein gewaltiger Mann, namens Hallmund, den Rücken und nimmt ihn zu sich in seine Behausung am Fuße des Balljökull, wo seine Tochter beider Wunden pflegt. Dann weilt er drei Jahre bei Björn im Hitardalr, der gewohnheitsmäßig Friedlose bei sich wohnen hatte und sich von einigen Waldmänner eine Befestigung um seinen Hof hatte bauen lassen. Hier versetzt Grettir dem Prahlhänse Gisli eine tüchtige Tracht Prügel und verteidigt sich gegen die Übermacht der Moorleute. Da unter den Gefallenen auch Freunde und verwandte Björns sind, muß er abermals den Fuß von hier wenden und zieht sich von neuem in das innere Hochland zurück, in den Thorisdalr, in die Märchenwelt der Halbriesen. Doch die Einsamkeit verscheucht ihn auch von hier, drei Jahre zieht er im Ost- und Nordlande umher und vollbringt im Bardardalr noch einmal eine ganz von Märchen umrankte Heldentat, indem er einen weiblichen Unhold, der in der Nacht den Hof eines Bauern besucht und die Bewohner tötet, in seiner Höhle unter einem Wasserfalle aufsucht und nach hartem Kampfe bewältigt. Weil er aber vor den Nachstellungen Thorirs keine Ruhe findet, muß er sich nach einem sicheren Aufenthalt umsehen; als solcher wird ihm der einsame Inselhorst Drangey im Skagafjördr angewiesen. Er nimmt Abschied von der Heimat und von der Mutter, und diese — wie die große Mutter der Makkabäer, das ganze Weib ein brechend Mutterherz —läßt tapferen Sinnes ihren jüngsten Sohn Jllugi ihn begleiten, damit er nicht allein zu sein braucht. Den beiden Brüdern schließt sich der feige Schwätzer Glaum an, aus reiner Gutmütigkeit von Grettir mitgenommen. und wieder wird ihm eine in ihren Beweggründen edle Tat zum verhängnis.

Schon die Begegnung Grettirs mit Hallmund auf dem Kjölr, dann der Besuch bei diesem am Balljökull, trägt einen mythischen Charakter und ist die vorbereitung für Grettirs Aufenthalt im Thorisdalr: der von den Menschen verfemte findet Aufnahme bei den Halbriesen. In diesem leisen Hinübergleiten in die Märchenwelt liegt ein neuer Zug, der unsere Saga von den andern Ächtergeschichten unterscheidet und vorbildlich für eine neue, jüngere Gruppe von Ächtersagen geworden ist. Die



Thule-Bd.05-000.22 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Im Thorisdalur



Thule-Bd.05-000.23 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa



Thule-Bd.05-000.24 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Verfemten wurden nicht bloß bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein in die Schrecken der Steinwüste ausgestoßen — die mindestens 3400 gsm umfassende Lavawüste in Ostisland hat daher ihren Namen Odadahraun "Lavafeld der Missetaten" —sondern die Phantasie bevölkerte die weiten Einöden mit ganzen Familien von Achtern. Man dachte sich hier bis ins vorige Jahrhundert hinein blühende Täler, wo die Ächter mit Weib und Kind wohnten, paradiesische Oasen mit silbernen Bächen und singenden vögeln; sie hatten eigene Kirchen und Priester, und vieh so stattlich und schön, wie es das bewohnte Land nicht aufzuweisen hatte; sie holten sich Frauen von den Menschen. So hatten die Geächteten ganz das Wesen der Elfen angenommen, und die Geschichte vom starken Grettir ist das älteste Beispiel dafür, daß ein Ächter zu Elfen und Riesen in Verbindung tritt, die ihr eigenes vieh und Hauswesen haben.

Naturgemäß haben die Achter, die in das unwirtliche Hochland fliehen mußten, auch die Kenntnisse der Isländer von dem Hochlande, den Einöden und Gletschern etwas bereichert. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß das fruchtbare, geheimnisvolle Thoristal mitten zwischen den Eismassen und unzugänglichen Felsen wirklich zuerst von Grettir entdeckt worden ist; aber fest steht, daß diese genaue Beschreibung nur von einem Manne herrühren kann, der selbst in diesem Talkessel gewesen ist. Zwei isländische Geistliche des 17. Jahrhunderts, haben zuerst das Tal wieder aufgesucht, dann hat 1835 Islands unermüdlicher Kartograph es eingehender durchforscht. Es liegt genau nördlich vom Gletscher Skjaldbreid, und die rechte von den drei Gletscherzungen in der Mitte unseres Bildes bildet weit und breit die einzige Abstiegmöglichkeit vom steilen Thoristalsgletscher ; deshalb darf man diese Zunge als Grettirs Abstiegstelle betrachten. Gras findet sich nirgends, auch keine Andeutung von Gesträuch, aber eine üppige Moos- und Algen- flora. Das Tal hat frisches, klares Quellwasser und mag für einen Menschen mit bescheidenen Ansprüchen recht wohl bewohnbar sein. Freilich darf nicht verschwiegen werden, daß ein deutscher Forscher den Thorisdalr nicht hier, sondern in der Nähe gefunden zu haben glaubt: er schiebt sich in einer Länge



Thule-Bd.05-000.25 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

von 10 km und in einer Breite von 1-3km zwischen den isolierten Thorisdalsjökull und das Hauptmassiv des Langjökull M, und man kann ibn von Nordwest und Süd trockenen Fußes erreichen, ohne die Gletscher betreten; vulkanische Spuren aber, heiße Quellen, auffallende Felsenfärbungen fehlen auch hier völlig, ebenso jede Spur von Pflanzenwuchs; etwa in der Mitte der felsigen Querwand Thorishöfdi muß die Höhle des Riesen zu suchen sein; das Tal macht wirklich den Eindruck, als sei es auf allen Seiten, wie die Saga beschreibt; von überhängenden Gletschern umschlossen, da man die beiden Zugänge nicht siebt.

Ebenso muß der Verfasser die kleine Landzunge am Arnarvatn, auf der Grettirs Hütte stand, die übrigens noch heute zu sehen ist, wenn sie auch von den Bauern immer wieder erneuert worden ist, aus eigener Anschauung gekannt haben. Der ,Aarsee' ist im allgemeinen flach, höchstens 2 m tief, bei Grettishöfdi aber ist seine Tiefe am größten, dort beträgt sie fast 4 m: hier allein hat also Grettir unbemerkt vor seinem falschen Besucher unter Wasser schwimmen können.

Weniger genau sind die Angaben des Verfassers über das Nordland (Kap. 65, 66) und das östliche Nordland (Kap. 63); hier ist er offenbar nicht so gut zu Hause, hier finden sich einige unrichtige geographische Angaben.

Der Verfasser unserer Saga, die so reich wie keine zweite der Familiengeschichten an phantastischen Abenteuern ist, hai also auf der andern Seite einen ungewöhnlich scharfen Blick für die Wirklichkeit gehabt und darf sogar als einer der ältesten und zuverlässigsten Zeugen für naturgetreue topographische Beschreibungen des Hochlandes gelten.

Endlich kann auch die genaue Beschreibung von Grettirs letzter Zufluchtsstätte, der Felsenklippe, in ihren bis in das kleinste richtigen Angaben ebenfalls nur von einem Augenzeugen herrühren. —

Die Freude des Erzählers an dem Reichtum der Geschichten, die ihm zur Verfügung standen, verleitet ihn dazu, Grettir einmal von Drangey aus einen Abstecher nach der im Süden der Insel liegenden Landschaft Hegranes machen zu lassen.



Thule-Bd.05-000.26 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Er verdirbt sich damit freilich die starke Wirkung, die Grettirs kühnes Schwimmen nach dem Festlande hat, von wo er Feuer holen will, aber die Episode gibt ibm Gelegenheit, seine Kenntnis der Friedensgelübde an den Mann zu bringen (Kap. 72), eines ältesten Reste nordischer Poesie, der weit in die vor isländische Zeit zurückgehen kann,

Dreimal versucht der starke, aber rohe Thorbjörn Angel, der die Felsenklippe von den Bauern gekauft hat, Grettir von seinem Horst fortzubringen. Eine gütliche überredung hat natürlich keinen Erfolg. Als durch die Unachtsamkeit des Knechtes das Feuer auf der Insel ausgegangen ist, entschließt sich Grettir zu seiner letzten kühnen Tat: er durchschwimmt das Meer, das an der schmalsten Seite eine Meile breit ist. Aber in der warmen Stube des Gehöftes, von wo erdas Feuer holen will, überwältigt ihn die Müdigkeit, er schläft im leichten Schwimmanzug ein. So finden ihn die Bauerntochter und eine Magd in der Frühe; diese macht sich lustig über den Mann, der oben so stark, in der Mitte so schwach sei; Grettir aber, der ihre Worte gehört hat, ergreift sie und beweist ihr, daß er auch in der geschmähten Leibesgegend stark genug ist. Der Bauer gibt ihm Feuer und rudert ihn auf die Insel zurück.

Auch diese Erzählung, ein Seitenstück zu dem ersten Feuerholen Grettirs, das für ihn die Ouelle allen Unglücks werden sollte, mag aus dem Märchen stammen, wo man sich über den schlafenden Starken lustig macht. Eigenartig isländisch aber sind die beiden Strophen, die Grettir bei dieser Gelegenheit spricht. Die Isländer hatten, wie die ?libener zur Zeit des Aristophanes, eine besondere Freude an derben erotischen Witzen. Überliefert aus dem Altertum uns so gut wie nichts davon, und heutigen Tags, wo dieses echt bäuerliche Behagen an fern ellen Späßen noch unvermindert fortlebt, haben sich die Männer und Burschen, die der isländischen ,Jugendwehr ' angehören, dem ,verein der jungen Männer', sogar eidlich verpflichtet dergleichen Zoten nicht weiter zu geben. Daß wir also eine Probe davon aus alter Zeit haben, verdanken wir wieder dem Sammeleifer unseres verfassers.

Vielleicht hat noch eine andere Erwägung ibn veranlaßt, die



Thule-Bd.05-000.27 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Episode von der lüsternen Magd einzuflechten. Zwar ist überhaupt in den Sagas selten von Ehebruch, Entführung und verführung die Rede, aber in der Geschichte vom starken Grettir spielt der von Frauen ausgeübte Reiz doch eine zu nebensächliche Rolle. Auffallend ist, daß sich der Dichter die Gelegenheit entgehen läßt, zwischen Grettir und Thorirs Tochter oder Hallmunds Tochter ein Liebesverhältnis anzuspinnen; denn gerade die Töchter der Riesen haben ja nach Menschenjünglingen ein besonders heißes verlangen — oder ist dieses Motiv bei der Fülle des Stosses nur nicht recht herausgearbeitet worden: Der volksmund erzählte, so wird endlich nachdrücklich hervorgehoben (Kap. 67 a. E.), daß Grettir mit der Bäuerin Steinvör, deren Hof er von dem unheimlichen Spuk befreit hatte, einen ungewöhnlich starken Sohn gezeugt hätte. Vielleicht waren das unserem verfasser nicht genug Liebesabenteuer , und er malte darum mit mönchischer Lust diese Szene mit der Magd aus —zuzutrauen wäre es ihm, wenn der Schluß der Saga von ihm herrühren sollte, der zuerst die junge Bettschwester, dann die alte Betschwester so greifbar deutlich vor uns hinstellt.

Den zweiten vergeblichen Versuch, Grettir unschädlich zu machen, unternimmt Thorbjörn mit Hilfe des gewandten Kleiterers Haering. Im folgenden Jahre bemühen sich Grettirs Freunde auf dem Allthing das Ende seiner Acht zu erwirken, und im Winter darauf gelingt es Thorbjörn durch die Zauberkünste seiner Amme Thurid, Grettir eine lebensgefährliche Wunde beizubringen und den Halbtoten vollends zu erschlagen.

Mit vollendeter Kunst sind die letzten Tage des Helden geschildert , die ganze Hoheit seines Charakters offenbart sich uns zum Schlusse noch einmal ergreifend. Der unbändige; jäh auffahrende Grettir ist durch das Schicksal und das lange Alleinsein aufgerieben. Er schlägt den faulen Knecht nicht nieder, wie er es früher getan hätte und jetzt auch hätte tun sollen, sondern müde und milde; mit verzeihender Großmut begnügt er sich mit dem Tadel: Das Böse hat gesiegt. Zweimal hast du uns Unglück gebracht: das erstemal, als das



Thule-Bd.05-000.28 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Feuer ausging, das zweitemal. als du dieses Unglücksholz herbrachtest; geschieht es zum drittenmal, so wird es dein und unser aller Tod." Und das drittemal kommt bald, der elende Wicht ist zu faul, die Leiter einzuziehen, Thorbjörn ersteigt den Horst und klopft ungestüm gegen die Hütte, in der der Todwunde liegt, von seinem Bruder treu behütet. Jllugi wähnt, es sei der Widder, ihr guter Freund, das einzige Tier von dem vieh, das sie auf der Insel am Leben gelassen hatten: "Der Widder will herein," und der Schwerwunde lächelt zum letzten Male: "Er stößt mächtig mit seinen Hörnern gegen die Tür — da wird die Tür entzwei geschlagen, und der Tod tritt herein. Rührend, wie der sterbende Held an der armseligen Kreatur hängt; er, den die Menschen nicht mögen, und der sie meiden muß ! Und als die Mörder von der Insel ziehen, was lassen sie dort zurück: Was bleibt übrig von all dem leidenden Heldentum, das für alle Zeiten einen unvergänglichen Glanz auf dies Felseneiland geworfen hat: Ein Stück vieh, ein Schaf — eine unsäglich bittere Ironie, würdig des Magus des Nordens!

von dem Augenblick an, wo Grettir der erbärmlichsten Hinterlist der gemeinen Zauberei erliegt, da sein Meuchelmörder seiner feigen Niedertracht mit dem rohen Hohne gegen die edle Mutter des Erschlagenen die Krone aufsetzt; gehört ihm die volle, ungeteilte Sympathie des Lesers. Mit Genugtuung sieht er, daß Grettirs Überwinder doppelt verklagt wird, und nicht nur des Kopfgeldes verlustig geht, sondern durch Schiedsspruch des Landes verwiesen wird. Mit Freude sieht der Leser, ohne daß auch nur im geringsten auf seine rührende Sentimentalität spekuliert wird, daß dem Helden seine Ehre im Grabe dadurch widerfährt, daß er auf wunderbare und vielbesprochene Art und Weise im fernen Byzanz von seinem Halbbruder gerächt wird, der seinem Gelübde getreu dem Mörder nachgereist ist und ibn mit Grettirs altem Siegsschwerte erschlägt.

Auf Grettir passen Hebbels für einen unendlich größeren Dichter, aber weniger heldenhaften Mann, bestimmten Verse :

Er war ein Dichter und ein Mann wie Einer,
Er brauchte selbst dem Höchsten nicht zu weichen,



Thule-Bd.05-000.29 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

An Kraft sind Wenige ihm zu vergleichen,
An unerhörtem Unglück, glaub ich, Keiner. —

Wo die alte Saga aufgehört hat, wie sie unserem Erzähler zu Ohren gekommen war, darüber kann man im Zweifel sein. Zwar wird sie schwerlich mit Ende von Kapitel 84, mit der Bestattung der Brüder ihren Abschluß gehabt haben, denn dann fehlte der ausklingende Akkord, die Rache in Konstantinopel . Aber mit der Vollziehung der Rache durch Thorstein, mit dessen Befreiung aus dem Gefängnis durch Spes und der Aufahme in ihr Gefolge sind eigentlich alle Handlungen zu Ende geführt worden (Kap. 87 a. E.). Gleichwohl schließt die Dichtung damit nicht, sondern spinnt den Faden der Erzählung noch weiter und läßt Thorstein und seine Gattin Spes zunächst in Konstantinopel, dann in Norwegen noch mancherlei Abenteuer erleben.

Dieser Nachtrag bringt nicht wenige Überraschungen.

Zunächst " von Tristan und Isolde kenn ich ein traurig Stück" . Die altisländische Greitissaga enthält am reinsten von allen alten Zeugnissen die novellistische Wendung vom zweideutigen Eid, der in die alte Tristandichtung aufgenommen ist; sie muß den Schwank in derselben Form gekannt haben, wie er dem verlorenen Tristanroman von 1150 vorlag: eine des Ehebruchs angeklagte Frau erbietet sum Reinigungseide, auf dem Wege zum Gericht wird sie von ihrem als Narr oder Bettler verkleideten Geliebten umarmt; und schwört Daun, sie sei nie von einem anderen Manne als ihrem rechtmäßigen Gatten und diesem Bettler, wie ja alle Anwesenden gesehen hätten, umarmt worden.

Daß unser Erzähler, der es in so trefflicher Weise verstanden hat, aus den verschiedensten Bestandteilen eine zusammenhängende und gut unterhaltende Sage zu schreiben, ein Geistlicher von widfjördr gewesen sei, wird wohl nicht mit Unrecht angenommen . Aber niemals bat, bis auf ganz geringfügige Kleinigkeiten , der Stand des verfassers auf die Darstellung abgefärbt; dürften wir diesen Schluß nicht aus ganz allgemeinen Erwägungen ziehen, aus dem Roman selbst würden wir kaum zu dieser Annahme kommen. Das Nachwort jedoch verrät, namens



Thule-Bd.05-000.30 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

lich am Ende von Kapitel 91 und 92, in jeder Zeile den geistlichen verfasser : durch reichliche Gaben erlangt man Vergebung der Sünden; Spes und Thorstein - junger Tannhäuser, alter Parsifal! kommen zu der Einsicht, mehr nach der Welt Weise als nach Gottes Wort gelebt zu haben, pilgern deswegen nach Rom, beichten dem Papste, erhalten Vergebung aller Sünden und beschließen ihr Leben in steinernen Zellen unter Beten und Fasten.

Alle waren sich darüber einig so schließt der Komme Ausgang dieser schlüpfrigen Geschichte —, daß Thorstein und Spes wahre Glückskinder gewesen waren (Rap. 92 a E.). Schon vorher war von Thorstein gesagt worden; "Thorstein schien ein richtiges Glückskind ;u sein, so wie es ihm gelang, aus allen Schwierigkeiten herauszukommen" (Kap. 90), und noch einmal wird eindringlich in den letzten Zeilen hervorgehoben: "Dazu kommt, welch ein Glückskind Thorstein in seinen letzten Tagen geworden ist" (Kap. 93 Ende). Also trotz Ehebruch und Jesuiteneid ist Thorstein das geborene Glückskind! Warum: Weil er sich von den Vorschriften der christlichen Kirche leiten läßt (Kap. 91). Wäre das auch der Standpunkt des verfassers des ganzen Romans gewesen, so hätte er uns unbedingt auf diese Auffassung vorbereiten und diese auch auf Grettir beziehen müssen. Keime dazu waren vielleicht vorhanden. Schon Thorarin, den Bardi um Rat Sagt, ob er Grettir an dem Rachezuge gegen den Mörder seines Bruders teilnehmen lassen darf, meint bedächtig: "Ich zweifle, daß Grettir vom Glück begünstigt ist, und du solltest doch solche Männer in deiner Begleitung haben, die nicht vom Unglück verfolgt werden (Kap. 31). König Olaf nennt Grettir einen Unglücksmenschen: Du bist ein Unglücksmensch, Grettir! . . . . .Es wird nicht leicht werden, gegen dein Unglück anzukämpfen . . . . .Wenn je Mensch zum Unglück geboren ist, so bist du es vor allen anderen" (Kap. 39). Selbstverständlich hätte dieser Gedanke sehr wohl die bunte Menge des Stoffes zusammenhalten können; das wäre ein Problem gewesen, dem fast alle Einzelheiten zur Beleuchtung hätten dienen können, es gibt kaum einen Zug, der ohne Beziehung zu dieser grüblerischen Schicksalsfrage



Thule-Bd.05-000.31 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

gewesen wäre. "Der glücklichste Mann ist der größte Mann", sagt Bischof Nikolas zu Jarl Skule, und König Hakon sagt am Schlusse der "Kronprätendenten" über ihn: "Skule Bardsson war Gottes Stiefkind auf Erden — das war das Rätsel an ihm." Etwa gleichzeitig schreibt Björnson in einem Briefe von dem Helden einer geplanten Dichtung: " hat das glückliche Wiegengeschenk eines sonnigen Gemüts, das alle Schwierigkeiten der Welt spielend überwindet."

Ein solcher Sonnenjüngling war Grettir sicherlich nicht. War er Gottes Stiefkind auf Erden: vielleicht nach der Darstellung der letzten Seiten, kaum nach der Anlage des Romans im ganzen.

Die Gestalt des starken Grettir barg von Anfang an, sobald sich ihrer die Phantasie des Volkes und der Erzähler bemächtigte , die Kraft in sich, Shee das Individuum hinaus zu einem Ideal oder Typus heranzuwachsen. Schon in unserem Roman ist Grettir eine Art Sagen- und Märchenheld und gewissermaßen Islands offizieller Unholdentöter. im weiteren Verlaufe der Zeit aber ist Grettir Islands sagenumsponnener Nationalheld geworden. Unter allen Charakteren, die die altisländische Erzählungskunst gezeichnet hat, ist Grettir allein ein Symbol geworden. Weil in seiner Saga die Fülle der Geschichten auf die eine oder andere Weise erklärt, wie ein solcher Mann notwendig ein solches Schicksal haben mußte; faßte man ein innerliches Mitgefühl für ihn und erhob Grettir zum Volkshelden. In diesem streitbaren, vom Unglück gehetzten, friedlosen und verfolgten Manne sahen die Isländer ein Spiegelbild ihres eigenen volkswesens, ihres eigenen Volksgeschickes.

Als sich im vergangenen Jahrhundert die Dichtkunst auf Island zu einer neuen klassischen Höhe erhob. lebte auch Grettir in ihr wieder auf; eine Ballade von Grettirs Kampf mit Glam und ein ganzer Liederzyklus über Grettir sind heute jedem Bauern und Fischer wohl bekannt. Grimur Thomsen (1820 bis 1896), Islands Uhland, ein fein gebildeter Mann mit tiefen poetisch -ästhetischen Interessen, zeichnet sich in seinen Balladen besonders durch psychologische Gedichte aus; er



Thule-Bd.05-000.32 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

wählt mit vorliebe eigenartige Menschen, am liebsten in einer bestimmten, scharfumrissenen Situation, und sie stehen wie in Erz gegossen vor uns in ihrer ganzen charakteristischen Originalität . Sein Gedicht "Glam zeigt, wie seine Heimatskunst stark beeinflußt durch die alten Sagas und ihre Helden ist.

Matthias Jochumsson (geb. 1835, lebt noch frisch und fruchtbar in der Hauptstadt Nordislands) hat vor allem als Lyriker die ungeteilte Bewunderung seiner Landsleute gefunden. Erbat sich zwar auch als Dramatiker versucht — er schrieb unter anderem ein Schauspiel "Die Achter" —, ist jedoch besonders groß darin, mit rührender Innerlichkeit, wunderbarer Stimmung und gewaltigem Pathos das tragische Schicksal hervorragender Männer zu besingen. Die ,Grettislieder'. ,im Jahre 1897 in Isafjördur erschienen, gelten den Isländern als die weitaus bedeutendste Schöpfung des hochbegabten Dichters. Sie stehen in der Anordnung, der Anwendung der verschiedenen versmaße —merkwürdig, daß sich der Hexameter solcher Beliebtheit auf Island erfreut! — und der Zerlegung in 34 Romanzen deutlich unter dem Einflusse von Tegnérs Frithjofssage. In dem einleitenden Liede erklärt der Dichter, daß ein altes Lied angefangen werden soll, um Islands Winter zu kürzen; Männer und Frauen mögen ihm Gehör schenken, wenn er die Lieder von Grettir fingen will. Sie sollen nicht den Pomp der Edda haben, sollen groß, aber einfach sein. Warum hat sich keiner füher an diesen Stoff herangewagt: Warum hat keiner die tiefsten Lieder der isländischen Saga gesungen: "Du bist, Grettir, mein Volk ! Manche Romanze ist freilich nur eine bloße Wiedererzählung der Saga. Stimmungsvoll ist die Naturbeschreibung der Thoristals (Lied 23) und der Aarseehnde (24), mild versöhnend, von wahrhaft christlichem Geist nach Tegnérs Muster, der Schlußgesang "Auf dem Gesetzesfelsen". Seine ganze Liebe bai der Dichter der Heldenmutter Asdis geschenkt; hinter ihren an Grettir gerichteten Worten kann man Island zu seinen Söhnen sprechen hören, nicht so, daß es sich störend aufdrängt, aber so, daß es so sein könnte wenn man darüber nachdenkt . Ein Glanzstück der Sammlung, oratorisch und gedanklich, ist auch bei ihm



Thule-Bd.05-000.33 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Grettirs Kampf mit Glam, und um den Unterschied zwischen Grimur und Matthias zu zeigen, habe ich auch seine Neudichtung von Grettirs Ringkampf mit dem gespenstischen Unholde im Anhange übersetzt.

Durch die Ächtersagen angeregt hat der erste und bisher einzige Bildhauer Islands, Einar Jansson (geb. 1874) seine berühmte, überlebensgroße Gruppe "Der Achter" geschaffen. Wohl jeder, der Islands Hauptstadt Reykjavik besucht hat, kennt das 1901 entstandene Kunstwerk; es war Suber im Flur des Allthingsgebäudes aufgestellt und schmückt jetzt die vorhalle der Islandbank. Die charakteristischen Gesichtszüge des Mannes, die stark hervortretenden Backenknochen, die eigenartigen Schuhe, die über den sehen und an den Fersen zusammengenäht sind, während oberhalb des unbedeckten Spanns die Riemen um die Knöchel verschlungen sind, der wie sein Herr halb scheu, halb grimmig blickende Polarhund, das in ein Schaffell dürftig gehüllte Kind — das alles zeigt uns ohne weiteres, daß wir einen Isländer vor uns haben. Der arme, unstete Mann, den seine volksgenossen geächtet haben, mit den sagt tierähnlich grimmigen, von Gram durchfurchten und doch trotzigen Zügen, trägt auf dem Rücken sein totes Weib, mit der Linken hält er sein kleines Kind, das sich in rührendem vertrauen an ihn schmiegt, in der Rechten hat er einen Spaten; er ist bei Nacht über die Berge gestiegen, um sein junges Weib, dessen zarte Kräfte der Angst der Einöde, den eisigen Nordstürmen und den Mühen des Lebens zwischen Gletschern und nackten Felsen nicht gewachsen gewesen sind, in geweihter Erde zu begraben. Die rauhe Wildnis der isländischen Landschaft, der fürchterliche Fluch, der auf diesem unglücklichen Achter gelegen hat; spricht erschütternd zu unserem Herzen. Wenn auch das Kunstwerk in speziell isländischen verhältnissen und Anschauungen wurzelt, seine schlichte Tragik ist jedem auch ohne Deutung verständlich.

Torgau (Elbe), 26. Dezember 1912 Paul Herrmann



Thule-Bd.05-000.34 Geschichten v.starken Grettir Flip arpa

Einar Jansson, Der Ächter


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt