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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


43. Der gestohlene Halsschmuck

Ein Mann aus angesehener (vornehmer) und wohlhabender Familie heiratete. Er hatte einen Sohn. Der Sohn wuchs heran. Als er erwachsen war, kam er zu seinem Vater und sagte: "Vater, ich möchte heiraten!" Der Vater aber wollte das nicht. Der Sohn kam wieder zum Vater und sagte: "Vater, gib mir eine Frau." Der Vater wollte nicht. Da wartete der Sohn noch eine Weile und ging dann in das Nachbardorf. Dort warb er um ein sehr schönes und kluges Mädchen. Es ward ihm zugesagt. Er kam zu seinem Vater und sagte: "Rüste das Fest. Ich will mich verheiraten und kehre sogleich zurück, um meine Frau zu holen." Der Bursche ging in das andere Dorf zurück.

Der Bursche holte das Mädchen. Er führte es zu seinem Dorfe. Unterwegs sagte er: "Erlaube mir, daß ich einmal dein (verhüllendes) Kopftuch erhebe und dich betrachte." Der Bursche hob das Kopftuch. Er besah die junge Frau. Er war froh über ihre Schönheit. Es kam ein Vogel vorbei, der riß im Vorüberfliegen ein Schmuckband vom Halse der jungen Frau und trug es von dannen. Der Bursche



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ließ sogleich das Kopftuch der jungen Frau fallen, wandte sich um Und lief hinter dem davonfliegenden Vogel her. Er lief und lief. Drei Tage lang lief er. Dann hatte er seine junge Frau vollkommen Vergessen. Er verlor nun aber auch den Vogel aus den Augen und Suchte nun da, wo er gerade war, Arbeit und blieb da.

Die junge Frau sah, daß der Bursche sie mit dem Suchen nach dem Halsband verloren hatte. Sie sagte: "Er wird nicht eher wieder an mich denken, ehe ihn nicht der Halsschmuck daran erinnert. Derweilen will ich mir selbst weiterhelfen." Die junge Frau rasierte Sich die Haare. Sie zog Männerkleider an. Sie wanderte auch in das Land hinein. Nach einiger Zeit kam sie an ein Dorf, da war gerade der Agelith gestorben, und die angesehenen Leute stritten sich um die Wahl des neuen Agelith. Denn jeder wollte selbst gern Agelith werden. Wie nun die schöne, junge Frau als Mann verkleidet in das Dorf kam, waren sich alle einig: "Dieser junge Mann muß unser Agelith werden."

So wurde die junge Frau Agelith. Der neue Agelith war schnell allgemein beliebt. Man war sehr zufrieden mit den Rechtssprüchen, die der junge Agelith fällte. Er war sehr angenehm in der Unterhaltung und mischte sich nie in Frauenangelegenheiten. Da beschlossen die Angesehenen des Dorfes denn eines Tages, dem jungen Agelith ein besonderes Geschenk zu machen. Sie suchten das schönste unter den Mädchen aus und brachten es dem jungen Agelith als Frau. Der junge Agelith heiratete. Der junge Agelith berührte seine Frau nie. Die junge Frau kam eines Abends zu ihrem Manne und fragte: "Weshalb berührst du mich nie ?" Der junge Agelith sagte: "Schwöre, daß du mein Geheimnis bewahren willst." Die junge Frau sagte: "Ich schwöre es dir." Der junge Agelith sagte: "Ich bin kein Mann. Ich bin eine Frau wie du." Die junge Frau sagte: "Wie soll das möglich sein?" Der junge Agelith nahm ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Die junge Frau sagte: "Es ist wahr, ich werde dein Geheimnis bewahren." Die beiden Frauen lebten nun in großer Freundschaft miteinander.

Inzwischen sah der Bursche, der eines Tages mit dem Suchen nach dem verlorenen Halsschmuck seine junge Frau vergessen hatte, beim Arbeiten auf dem Felde in der Krone eines Baumes über sich ein Nest. Er stieg hinauf und blickte in das Nest hinein, und da sah er den Halsschmuck, den der Vogel seinerzeit seiner Frau geraubt hatte. Sogleich schlug der junge Bursche sich vor den Kopf, denn sogleich dachte er auch wieder an seine junge Frau. Der junge



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Bursche schlug sich noch einmal vor den Kopf und rief: "Wie ist das möglich ?" Dann nahm er das Halsband, stieg vom Baume herab, pflückte sich schnell noch einige Feigen, die er als Wegzehrung zu dem Armband in die Tasche steckte und lief so schnell er konnte von dannen, um seine junge Frau zu suchen.

Gegen Abend kam der Bursche an das Haus einer alten Frau. Die bot ihm Unterkunft für die Nacht. Sie bereitete das Abendessen. Der Bursche saß vor der Tür des Hauses und dachte an seine junge Frau. Es kam ein alter Bettler vorbei, der bat um etwas zum Abendessen. Der junge Bursche griff in die Tasche, in die er an diesem Morgen die Feigen gesteckt hatte, nahm sie heraus und gab sie dem alten Bettler. Ohne daß er es wußte, ergriff er gleichzeitig aber den Halsschmuck seiner jungen Frau und gab ihn hin. Der Bettler steckte die Feigen mitsamt der Kette ein und ging. Abends wollte der junge Bursche die Kette anschauen und griff in die Tasche. Die Tasche war leer. Er erschrak und sagte zu der Frau, die ihn bewirtete: "Ich habe den Schmuck mitsamt den Feigen vorhin dem alten Bettler gegeben." Die Frau tröstete ihn und sagte: "Deinen Schmuck wirst du wiedergewinnen können. Morgen früh ist hier nahebei der große Markt. Der alte Bettler wird den Schmuck dort ausbieten. Dann kannst du ihn greifen und vor den Agelith des Nachbardorfes bringen, der ein junger, aber sehr kluger Richter ist."

Am andern Tage ging der junge Bursche schon früh auf den Markt und setzte sich da in eine Ecke. Es kamen viele Menschen. Nach einiger Zeit kam auch der alte Bettler. Er hielt den Halsschmuck von des Burschen junger Frau in der Hand hoch und rief: "Wer kauft einem alten Manne das letzte Stück, was er von seinem Vater ererbt hat, ab, damit er sich Essen kaufen kann?" Der Bursche sprang hervor und rief: "Du lügst! Der Schmuck gehört mir!" Der alte Bettler erschrak und sagte: "Nein, du lügst, denn ich habe den Schmuck von meinem Vater ererbt." Der Bursche sagte: "Komm, wir wollen zusammen zum Agelith gehen." Die Leute schrien: "Ja, das ist eine Sache für unsern Agelith."

Der Bursche und der alte Bettler wurden vor den Agelith gebracht. Der Agelith erkannte sogleich den Burschen als seinen jungen Gatten. Der Bursche aber erkannte seine junge Frau in Männerkleidern nicht. Der Agelith ließ sich den Schmuck geben und erkannte ihn als den, den er als junge Frau getragen hatte. Der Agelith sagte: "Bringt den Burschen dort in jene Kammer und den alten



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bettler in jene." Nachdem sie fort waren, sagte der junge Agelith Zu den Angesehenen, die um ihn saßen:

"Ich werde euch nun zeigen, daß man sehr schnell erkennen kann, Wer hier recht und wer unrecht hat. Zu dem Halsschmuck gehört eine Geschichte. Wer von den beiden nun die Geschichte kennt, dem kommt der Halsschmuck zu. Ich werde euch die Geschichte er-Zählen, und dann werden wir die beiden, die Anspruch auf Besitzrecht an dieser Kette haben, hören. Die Geschichte lautet: ,Es war einmal ein vornehmer und reicher Mann. Als der geheiratet hatte, bekam er einen Sohn. Als der Sohn erwachsen war, kam er zu Seinem Vater und bat ihn, ihm eine Frau zu geben. Der Vater wollte nicht. Da holte der junge Bursche sich selbst eine junge Frau aus dem nächsten Dorfe. Als er auf dem Wege der Heimführung war, gelüstete es ihn, die Schönheit seiner jungen Frau zu sehen. Er hob ihr Kopftuch in die Höhe. In dem Augenblick kam ein Vogel und riß ihr den Schmuck hinweg. Der Bursche vergaß über dem Schmuck seine junge Frau vollkommen. Er ließ sie stehen und lief dem Vogel nach. Die junge Frau wartete vergeblich auf ihn.' — Das ist die Geschichte. Nun wollen wir sehen, wer sie kennt. Bringt zuerst den alten Bettler herein."

Der alte Bettler wurde wieder vor den Agelith geführt. Der junge Agelith fragte ihn: "Was kannst du über den Halsschmuck erzählen?" Der alte Bettler sagte: "Ich habe ihn von meinem Vater ererbt. Ich will dies letzte Stück nun verkaufen, um etwas zum Leben zu haben." Der Agelith fragte: "Mehr weißt du nicht ?" Der alte Bettler sagte: "Nein, mehr weiß ich nicht." Der Agelith sagte: "Ruft den Burschen." Der Bursche kam herein.

Der Agelith sagte: "Was kannst du über diesen Halsschmuck erzählen ?" Der Bursche sagte: "Eine ganze Geschichte." Der junge Agelith sagte: "So erzähle sie." Der Bursche sagte: "Es war einmal ein vornehmer und reicher Mann. Als der geheiratet hatte, bekam er einen Sohn. Als der Sohn erwachsen war, kam er zu seinem Vater und bat ihn, ihm eine Frau zu geben. Der Vater wollte nicht. Da holte der junge Bursche sich selbst eine Frau aus dem nächsten Dorfe. Als er auf dem Wege der Heimführung war, gelüstete es ihn, die Schönheit seiner jungen Frau zu sehen. Er hob ihr Kopftuch in die Höhe. In dem Augenblick kam ein Vogel und riß den Schmuck hinweg. Der Bursche vergaß über dem Schmuck seine junge Frau vollkommen. Er ließ sie stehen und lief dem Vogel nach. Der Bursche lief dem Vogel drei Tage lang nach, dann entschwand



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er seinen Augen." Der junge Agelith sagte: "Es ist genug, mein Bursche."

Der junge Agelith sagte (zu den alten Leuten des Dorfes): "Wem gehört nun der Halsschmuck?" Die alten Leute sagten: "Er gehört natürlich dem Burschen, der alte Bettler ist ein Lügner!" — Der alte Bettler wurde bestraft. Die Leute des Dorfes sagten untereinander: "Wie klug ist unser Agelith!"

Der junge Agelith nahm den Burschen mit sich und sagte: "Heute bist du mein Gast. Erzähle mir nun die Geschichte des Burschen zu Ende." Der Bursche erzählte. Der junge Agelith sagte: "Willst du nun auch die Geschichte der jungen Frau, die der Bursche vergaß, wissen ?" Der Bursche sagte: "Kennst du sie? Kannst du mir sagen, wo meine junge Frau ist ?" Der junge Agelith sagte: "Gib mir einmal die Kette!" Der junge Agelith nahm den Halsschmuck in die Hand und sagte: "Die junge Frau wartete lange auf die Rückkehr des Burschen. Dann schnitt sie das Haar ab, legte Männerkleidung an, ging in das Land und wurde in einem anderen Dorfe zum Agelith gewählt." Der junge Agelith legte sich den Halsschmuck um. Kaum hatte der junge Agelith den Halsschmuck umgelegt, da erkannte der Bursche seine junge Frau.


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