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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


33. Rova


(Variante der Wandergenossenschaft)

Ein Mann hatte vier Söhne und eine Tochter. Die Tochter hier Rova. Dieses Mädchen wurde vom Vater und von den vier Brüdern in gleicher Weise geliebt. Von den vier Brüdern übte jeder aber eine besondere Kunst. Der erste spaltete, wenn er mit seiner Albus (Keule) auf die Erde schlug, die Erde. Der zweite hatte so scharfe Augen, daß er durch Mauern sehen konnte und außerdem konnte er auch über Mauern springen; der dritte hatte so scharfe Ohren daß er alles zu hören vermochte; der vierte war so geschickt, daß er einem brütenden Rebhuhn unter dem Leibe die Eier wegnehmen konnte, ohne daß dieses es wahrnahm.

Eines Tages war der Vater im Männerrate (thimmä-amerth). Ei sprach im Männerrate und sagte etwas Unschickliches. Er schämte sich. Vor Scham blieb er augenblicklich auf der Stelle draußen (der Männerrat wurde außerhalb des Ortes im Freien abgehalten) fest auf dem Steine sitzen und konnte nicht mehr aufstehen. Der Mann klebte auf dem Steine fest. Sogleich baute man um ihn eine kleine Hütte, die ihm gegen das Unwetter und die wilden Tiere einen Schutz bot. Abends aber kam Rova aus der Stadt und brachte ihrem Vater das Essen heraus. Sie leistete ihrem Vater Gesellschaft.

Der Vater blieb draußen in seiner kleinen Hütte. Die Tochter kam jeden Abend aus dem Orte und brachte ihm das Essen. Rova rief, wenn sie kam, stets am Eingang der Hütte: "avava (Vater) inova (ich bin es)!" Der Vater antwortete dann von innen: "nchinchin (laß klingen) imserani (Schmuck der) a'rova (Rova)!" Die Tochter klapperte dann mit ihrem Schmuck. Der Vater erkannte das Klingen und öffnete. Rova blieb dann oft lange bei ihrem Vater und kehrte erst am andern Morgen wieder zurück.

Eines Tages war ein Löwe in der Nähe. Der hörte, wie Rova anklopfte und sagte: "avava inova!" Der Löwe merkte sich die Worte. Am andern Tage kam er gegen Abend vor Rova an die Tür des Vaters und rief: "avava inova!" Der Vater erkannte aber, daß der Löwe nicht Rova sein konnte. Seine Stimme war zu tief. Der Vater sagte: "Ich höre deine Stimme, die nicht die meiner Tochter Rova ist. Auch höre ich nicht das Klingen deines Schmuckes." Der Löwe ärgerte sich und ging fort. Als Rova kam, erkannte der Vater ihre Stimme. Er ließ sie herein und erzählte ihr, daß vorher der Löwe versucht hatte, Eintritt zu erlangen.



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Der Löwe ging aber zu einem Amrar asemeni und trug ihm alles vor. Amrar asemeni sagte: "Deine Stimme ist zu tief. Kaufe dir ein Stück tezcint (Fett) von einer Ziege (amaiz). Tue dies in die Ohren und lege dich in einen Ameisenhaufen. Die Ameisen werden das Fett fressen und in deinem Kopf die tiefe Stimme beseitigen. Dann sammle Schneckenschalen (erorar). Aus diesen mache dir ein Halsband und hänge dies um. Das Halsband wird so klingen wie dasjenige Rovas, und wenn der Vater dann deine geänderte Stimme und das Klingen der Muschelschalen hört, wird er dich hereinlassen." Der Löwe bedankte sich und ging.

Der Löwe folgte dem Rate des Amrar asemeni. Die Ameisen bereiteten ihm eine helle Stimme. Das Halsband von Schneckenschalen erklang wie der Schmuck Rovas. Als es Abend war, ging er vor Rova zu der Tür der Hütte, in der der Vater saß und rief: "Vater, ich bin es!"Der Vater sagte: "Laß deinen Schmuck erklingen, Rova!" Der Löwe rasselte mit dem Schneckenhaisband. Der Vater glaubte, daß Rova draußen sei. Der Vater öffnete die Tür der Hütte. Der Löwe kam in die Hütte.

Der Löwe kam in die Hütte und sagte zu dem Vater: "An welchem Ende soll ich anfangen, dich zu verschlingen ?" Der Vater sagte: "Fange an den Füßen an. Dann höre ich vielleicht noch meine Tochter kommen und kann sie warnen." Der Löwe begann sogleich, den Vater zu verschlingen. Als der Löwe den Vater bis zur Mitte verschlungen hatte, kam Rova. Der Vater hörte sie und rief: "Meine Tochter laufe schnell fort, es ist ein Löwe bei mir." Der Löwe verschluckte darauf den Rest des Vaters, kam heraus, ergriff Rova und nahm sie auf die Schulter. Rova schrie. Der Löwe trug Rova aber in den Wald in sein Haus.

Im Orte hörte der Bruder mit den scharfen Ohren seine Schwester schreien. Er sagte zu seinen Brüdern: "Unserer Schwester Rova ist etwas zugestoßen. Wir wollen uns morgen in den Wald begeben und nach ihr sehen." Am andern Tage machten sich die vier Brüder gemeinsam auf den Weg und kamen in den Wald. Der Löwe war gerade ausgegangen, und Rova erging sich allein in der Umgebung des Hauses. Der Bruder mit den scharfen Ohren hörte ihre Schritte und sagte zu seinen Brüdern: "Kommt mit in diese Richtung. Ich höre die Schritte unsrer Schwester Rova." Die vier Brüder gingen in der angegebenen Richtung und trafen bald auf Rova.

Die vier Brüder sahen Rova und sagten: "Du bist also nicht getötet." Rova sagte: "Nein, ich bin nicht getötet. Der Löwe will mich aber



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durchaus heiraten. Damit ich nun nachts nicht fortlaufe, bindet er mir jeden Abend mit seinen Haaren die Hände zusammen und all seinen Bart. So muß ich neben ihm unter der gleichen Gandura (thakandurth) schlafen. Sonst würde ich fortlaufen." Die Brüder sagten: "Gehe nur getrost wieder in das Haus des Löwen. Heute nacht sollst du noch deine Suppe mit uns gemeinsam essen." Rova ging wieder in das Haus.

Gegen Abend kam der Löwe nach Haus. Er band mit seinen Haaren Rovas Hände zusammen; er band Rova mit den Haaren seines Bartes fest und breitete über sich und Rova eine Gandura aus. Dann schlief der Löwe ein. Inzwischen kamen die vier Brüder draußen an die Mauern des Hauses. Der Bruder mit den scharfen Augen schaute hindurch und sagte: "Der Löwe schläft noch nicht." Nach einiger Zeit sagte der Bruder mit den scharfen Augen: "Der Löwe schläft ein wenig, aber nicht fest." Nach einiger Zeit sagte der Bruder mit den scharfen Augen: "Jetzt schläft der Löwe fest; jetzt kann ich unsere Schwester herausholen." Dann sprang der Bruder mit den scharfen Augen über die Mauer.

Der Bruder mit den scharfen Augen ergriff den Löwen und seine Schwester Rova. Er trug sie vorsichtig, so, wie sie zusammengebunden waren, heraus und legte sie auf die Erde. Der Bruder, der so geschickt war, daß er einem brütenden Rebhuhn das Ei unter dem Leibe wegnehmen konnte, ohne daß dieses es gewahren konnte, begann die Gandura von Rova und dem Löwen zu nehmen. Dann löste er den Knoten der Barthaare des Löwen, mit denen dieser Rova an sich gebunden hatte. Dann löste er den Knoten der Haare, mit denen Rovas Hände zusammengebunden waren. Rova erhob sich. Der Löwe hatte nichts gemerkt und schlief weiter.

Die vier Brüder liefen mit ihrer Schwester Rova so schnell Sie konnten von dannen. Von Zeit zu Zeit blieb der Bruder mit den guten Ohren stehen und horchte. Als sie ein langes Stück weit gelaufen waren, blieb der Bruder mit den guten Ohren wieder stehen und horchte. Der Bruder mit den guten Ohren sagte: "Der Löwe ist erwacht und läuft hinter uns her. Er wird bald hier sein."

Da ergriff der Bruder mit der starken Albus seine Keule und schlug auf die Erde, so daß sie sich weit spaltete. Die vier Brüder gingen mit Rova in die Spalte und hockten in einem Loche unter der Erde zusammen nieder. Bald kam der Löwe. Der Löwe lief über die Erde hin und roch mit der Nase überall hin. Der Löwe sagte: "Sie sind da und sind doch nicht da." Er lief herum und sagte wieder:



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Die älteste der sieben Töchter sitzt

(in der Mitte) mit Kamm und Spiegel (neben ihrer Hand) auf dem Felsblock (links), in dem die gastliche Schlange wohnt (darunter) und weint, weil der Widder (rechts) der Schlange böse Absichten andichtet. Der Sohn des Agelith (links oben in der Ecke) lauscht heimlich dem Vorgange zu. Originalzeichnung eines Kabylen



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"Sie sind da und sind doch nicht da." Er lief herum und sagte wieder: "Sie sind da und sind doch nicht da." Dann lief der Löwe wieder in Sein Haus zurück.

Die vier Brüder lebten nun mit ihrer Schwester Rova in der Höhle unter der Erde. Die vier Brüder gingen alle Tage auf die Jagd. Ihrer Schwester verboten sie aber, jemals die Höhle zu verlassen. So lebten sie lange Zeit. Eines Tages trafen die vier Brüder aber den Löwen auf der Jagd. Die vier Brüder töteten den Löwen. Dann gingen sie in ihre Höhle, holten ihre Schwester Rova ab und kehrten mit ihr heim in den Ort.


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