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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE SAGE VOM ORIGLIO-SEE

Es war an einem sehr kalten Wintertag im Monat Dezember. Der Himmel färbte sich ganz bleischwarz. Es fing an zu schneien und schon dunkel zu werden.

Ein Bauer aus dem hübschen Flecken Agno am Luganersee war mit seinen zwölf prächtigen Kühen aus der Ebene des Vedeggioflusses von seinem Dorf fortgegangen, um sich nach Ponte Capriasca zu begeben, das zwei Stunden davon entfernt war, wo er eine große Menge Heu, das er im Monat Mai gekauft hatte, seinem Vieh zu fressen gehen wollte.

Der Schnee fiel dichter und immer dichter. Unaufhörlich tanzten die Flocken hernieder. In kurzer Zeit waren Weg und Steg von einer beträchtlichen Schneedecke eingehüllt.

Die zwölf Kühe trabten mühsam des Weges. Sie waren müde vom weiten Weg und kamen nur langsam



Tessiner Sagen-045 Flip arpa

und träge vorwärts. Ihre Schnauzen waren etwas geschwollen und berührten beinahe den Boden. Aus ihren Nasenlöchern dampfte der Atem, und die Ohren hingen lahm herunter.

Als der Bauer auf die Höhe von Origlio gekommen war, wollte er den Weg abkürzen. Es lag noch eine weite Ebene vor ihm. Er zog also vorwärts und trieb seine Herde ungeduldig vor sich her. Eine Weile später glitt er mit dem Fuß plötzlich aus und fiel in den Schnee. Als er wieder aufstand, merkte er erst, daß er sich mitsamt seiner Herde auf dem Eise befand. Ein Schrecken überfiel ihn, und ein Schauer durchrieselte ihn kalt.

«Ich Unglücklicher», rief er aus, «wegen diesem Schneewetter habe ich den Weg verfehlt. Ich bin hier gewiß auf dem Origlio-See.» Und damit warf er sich voller Angst auf seine Knie, hielt beide Arme zum Himmel empor und betete: «O heiligste Königin des Himmels, hilf mir, daß ich samt meiner Herde glücklich über den See ans Ufer komme. Dann soll meine schönste Kuh dein eigen sein.»

Und in der Tat gelangte er mit seinen Tieren wohlbehalten ans andere Ufer, und es verlief alles gut. Eine Stunde später kam er dann trotz des hohen Schnees mit seiner Herde glücklich nach dem Dorfe Capriasca, seinem Bestimmungsort.

Er hielt auch sein Gelübde, verkaufte seine schönste Kuh und ließ mit dem Gelde, das er daraus löste, eine kleine, reizende Kapelle errichten und sie durch einen ausgezeichneten Künstler mit einem Freskogemälde schmücken. Diese Kapelle kann man noch heute nicht weit vom Ufer des kleinen, aber sehr idyllischen Onglio-Sees erblicken.


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