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Die schönsten Sagen des Berner Oberlandes


Erzählt für Jung und Alt von


Otto Eberhard

Mit 54 Zeichnungen von Fritz Buchser

Hans Feuz-Verlag Bern /Leipzig


Der Friesenweg

In alten Zeiten wohnte an der Küste der Nordsee ein kriegerisches Volk, die Friesen genannt.

Einst brach unter ihnen eine Hungersnot aus. Da bestimmten sie durch das Los, daß jeder zehnte Mann auswandern müsse. Also verließen denn etwa fünftausend Männer ihre Heimat, zogen auf Roß und Wagen mit Frau und Kind den Rhein aufwärts und gelangten endlich an den Fuß der Alpen. Im Grindelwaldtal, im Frutigtal und auch im abgelegenen Saanenland schien es den Leuten zu gefallen. Denn hier siedelten sie sich an, reuteten den Boden, bebauten die Weiden und trieben die wilden Tiere in die Berge zurück.

Mit der Zeit starben die Friesen in unsrem Lande aus, konnten aber ihre alte Heimat im hohen Norden auch nach dem Tode nicht vergessen.

Sie stiegen nämlich, also geht die Sage, in mondhellen Nächten aus ihren Gräbern hervor, scharten sich zusammen und kehrten genau auf dem gleichen Weg, den sie einst hergekommen, heim zu den fernen Ufern der Nordsee. Hatten die Toten dort für einmal wieder das Meer gesehen und seine Wellen rauschen gehört, dann sauste der gespensterhafte Zug südwärts und zurück den Grabhügeln zu. Sie taten auf diesen nächtlichen Fahrten keinem Menschen etwas zuleide. Man mußte nur darauf bedacht sein, den Weg, den die Toten zu gehen gewohnt waren, immer offen zu lassen. Tat man es nicht, mochte es einem schlimm ergehen.

Um sene Zeit lebte auf einer Alp im Saanenland ein Senn. Dessen Hütte war so gelegen, daß der Friesenweg gerade mitten hindurch ging. Dem Sennen war das wohlbekannt, und um die toten Geister nicht zu erzürnen, pflegte er jede Nacht die beiden ein- und ausmündenden Türen weit offen zu lassen, auf daß die Friesen, wenn sie etwa umgingen, ihren Weg ungehindert durch feinen Stall nehmen könnten.



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Es begab sich aber, daß der Senn zu Tale steigen wollte, seine Lieben zu besuchen, die er den ganzen Sommer über nicht gesehn.

"Habe derweilen gut acht auf meine Sachen ", sprach er zum Meisterknecht. "Und vergiß vor allen Dingen nicht, während der Nacht die Stalltüren offen zu lassen. Der Mond scheint licht, und da ist es schon möglich, daß die Friesen anrücken. Finden sie den Durchgang versperrt, ist's um dich geschehen.

Der Meisterknecht versprach es. Als aber der Senne gegangen, da hatte er mit den andern Knechten ein großes Gelächter. .Nur ein Narr ", spöttelte der Mann, glaube an solche Dinge, und an all dem sei nicht ein Tüpfelchen wahr. Wie könnten denn tote Menschen wiederaufstehn ? Sollte ihm aber also sein, wie der Senn gesagt, so verschließe er die Türen dennoch und steige auf die Gastern ). Dann mögen seinetwegen die Herren Friesen nur kommen: er rühre sich nicht und fchnarche ruhig weiter.

Also prahlte der Meisterknecht, riegelte die Türen zu, stieg mit den andern in die Gastern und legte sich aufs Ohr.

Draußen begann es zu winden, erst schwach, dann stärker. Sie beachteten es nicht und schliefen ein.

Nicht lange, wachten die Schläfer auf. Wie murrender Donner klang es an ihr Ohr. Sie glaubten, ein Gewitter ziehe herauf. Doch wie seltsam: durch die Spalten des Gadens schimmerten ja die Sterne. Das Murren kam näher und näher, schwoll an zum mächtigen Gebrause. Ein Gewirr von Tönen gellte durch die sturmbewegte Luft, Hörner tuteten, Pferde wieherten, Hunde bellten — gleich als käme ein wilder Jagdtroß mit Windesschnelle dahergeritten.

Da richteten sich die Knechte erschrocken auf. Deutlich unterschieden sie Setzt den flüchtigen Hufschlag der Pferde, hörten die Peitschen knallen, die wilden Stimmen von Männern. nächsten Augenblick prallte es gegen die Tür, es staute sich der Troß, und in der Nacht draußen ertönte jetzt eine gewaltige Stimme, die durch Mark und Bein drang:



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"Tut auf den Stall, tut auf die Tür,
Denn d's Friesenvolk will ja derdür *) !"

Keiner der Knechte rührte sich. Wie gelähmt kauerten sie auf ihrem Heulager und wagten nicht, den versperrenden Weg frei zu geben.

Da erfolgte ein Krach. Das Hüttendach sami den schweren Steinen fuhr plötzlich in die Höhe, und mit entsetzten Augen sahen die Knechte für einen Augenblick Mond und Sterne über sich. Nach einer Weile aber legte sich das Dach langsam auf die Hütte zurück, und im Gaden ward es wieder dunkel wie zuvor.

Iesi merkte der Meisterknecht, daß es ihnen wohl böse ergehen möchte, wenn die Türe nicht geöffnet würde. Er faßte sich also ein Herz, stund auf und rief in den Stall hinab:

"So will ich euch in Gottes Namen auftun!

Mit diesen Worten stieg der Mann die Leiter hinunter und riß die beiden Türen auf. Dann drückte er sich beim Eingang an die Wand und wartete mit schlotternden Knien der Dinge, die nun kommen würden.

Er brauchte nicht lange zu warten, da schritten ein paar hochgewachsne Männer vorüber und wünschten ihm einen guten Abend. Dann aber rauschte und toste, einem Waldstrom gleich, ein ganzes Heervolk durch den Stall, der auf einmal wie erhellt und gar breit und mächtig geworden schien.

Er sah Scharen bärtiger Krieger vorübereilen, in Stierfelle gekleidet , den Speer in der einen, den Schild in der andern Hand, sah Reiter auf schnaubenden Rossen dahersprengen, nitt geflügelten Helmen, das Hüfthorn am Munde. Es rollten mächtige Wagen heran, auf denen Weiber und Kinder mit goldfarbenen Schöpfen hockten, derweilen flinke Knaben und zottige Hunde neben den Wagen hersagten . Ihnen folgte wieder ein langer Zug von Kriegern, und also ging es fort und schien kein Ende nehmen zu wollen.



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Die Hände krampfhaft an die Wand gepreßt, sah der Unglücksknecht mit weit aufgerissnen Augen den Spuk vorübereilen. Das Lachen war ihm vergangen, ihm und den andern Knechten, die auf der Gastern droben atemlos lauschten.

Endlich war auch der letzte Krieger vorüber, und bleich und verstört stieg der Meisterknecht zu seinem Heulager hinauf. Dort legte er sich hin und berichtete stockend, was er gesehen.

"Der Senn hat also recht gehabt ", schloß der Mann. "Ich habe nun die Friesen mit eignen Augen geschaut.

Er ging am folgenden Morgen nicht an die Arbeit, lag auf dem Heu den ganzen Tag. Fieberschauer schüttelten seine Glieder. Am Abend war er eine Leiche.


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