Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

II. BAND

DAS UNGEHEUERLICHE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA


24. Weizenkorn und Teriel

Ein Mann hatte einen Sohn, der hieß Ireth, das heißt Weizenkorn. Ireth war auch nur so klein wie ein Weizenkorn. Er war also sehr klein. Jedoch war er über alles Maß schlau (=ihär[a]sch; Schlauheit heißt theharschi). Kein Tier und kein Mensch war so schlau wie Ireth.

Eines Tages sagte Ireth bei sich: "Ich will einige Tage gut essen. Er ging im Lande umher. Er kam zu einem Feigenbaum (=thäuekdetz; Feige =thäthirth), der gehörte einer Teriel, die wohnte nahebei mit ihrer Tochter Aischa. Aischa, die Tochter der Teriel, hatte nur ein Auge. Ireth ging zu dem Hause der Teriel und sah durch das Fenster hinein. Die Teriel erblickte ihn und sagte: "Ich werde dich fressen." Ireth sagte: "Du hast wenig an mir, ich bin mager." Damit zeigte er der Teriel ein Stückchen Holz und sagte: "Sieh, wie mager mein Finger ist." Die Teriel sagte: "Soso!" Ireth sagte: "Hast du aber nicht einen Akufin (=Speichertopf) voll Feigen? Setze mich in den Akufin voll Feigen und du wirst sehen, wie ich nach einiger Zeit fett werde."

Die Teriel sagte: "Einen Akufin voll Feigen habe ich. Ich werde



Atlantis Bd_02-207 Flip arpa

dich hineinsetzen." Die Teriel setzte Ireth in den Speichertopf voll Feigen. Da saß er mehrere Tage zwischen den Feigen, aß und sang. Eines Tages kam die Teriel zum Speichertopf und fragte: "Ireth, bist du nun fett?" Ireth hielt das Hölzchen durch die obere Tür des Speichertopfes heraus und sagte: "Sieh selbst und versuche meinen Finger." Die Teriel biß in das Holzstückchen und rief: "Dein Finger ist hart wie Holz. Du mußt mehr essen." Ireth blieb in dem Akufin, aß und sang.

Eines Tages sang aber Ireth nicht mehr in dem Akufin. Die Teriel kam an den Speichertopf heran und sagte: "Höre, Ireth! Du bist doch nicht etwa krank, daß du nicht mehr singst?" Ireth seufzte und sagte: "Nein, ich bin nicht krank, aber deine Feigen kann ich nicht mehr essen. Hast du nicht einige Datteln (= tzmar; Sing.: tatzemartz) ?" Die Teriel sagte: "Gewiß habe ich Datteln, einen ganzen Speichertopf voll!" Die Teriel setzte also den Ireth in den Speichertopf voll Datteln. Ireth aß nun alle Tage Datteln und sang auch wieder. Die Teriel kam eines Tages an den Speichertopf und sagte: "Ireth, bist du noch nicht fett?" Ireth steckte sein Holzstück zur Speichertür heraus und sagte: "Beiße einmal in meinen Finger. Ich weiß es selbst nicht." Die Teriel biß in den Finger. Sie sagte: "Hart wie Holz. Ireth, du ißt nicht genug." Ireth sagte: "Ich glaube, diese Nahrung ist nicht die richtige. Hast du nicht Butter und Honig?" Die Teriel sagte: "Gewiß habe ich Butter und Honig. Ich werde dich in den Speichertopf voll Butter und Honig setzen."

Ireth wurde also in den Speichertopf voll Butter und Honig gesetzt. Es aß jetzt Butter und Honig und sang dazu. Eines Tages sagte er zur Teriel: "Meine Mutter, jetzt bin ich fett. Wenn du mich jetzt essen willst, wird es gut sein. Damit mein Fleisch aber recht wohlschmeckend wird, muß ich nun ein paar Tage frische Feigen essen." Die Teriel sagte: "Frische Feigen sollst du haben." Die Teriel ging mit ihrer Tochter heraus zum Feigenbaum, um ihn zu schütteln. Ireth kletterte aber oben zum Speichertopf heraus. Er nahm erst den Schlüssel (= tetharutz; Plural: tithüra; das Schloß =miphta; Plural: le miphätha; das ist das bekannte Dornen-Schubschloß der Nordwestafrikaner) zu dem Hause und der Kammer (=thachant) und kletterte dann durch das Fenster auf den Feigenbaum.

Auf dem Feigenbaum aß Ireth jetzt alle reifen Feigen, und als die Teriel und ihre Tochter schüttelten, warf er die unreifen und



Atlantis Bd_02-208 Flip arpa

schlechten Früchte herab. Die Teriel wunderte sich über die vielen schlechten und unreifen Feigen und sagte: "Aischa, ich glaube, das ist Ireth, der das tut!" Ireth sagte: "Ja, das bin ich." Die Teriel sagte: "Wer hat dir die Türe geöffnet?" Ireth sagte: "Das war deine Tochter Aischa." Aischa sagte: "Das ist nicht wahr." Ireth sagte: "Wer hat den Schlüssel ?" Die Teriel und Aischa suchten den Schlüssel und fanden ihn nicht. Die Teriel sagte: "Das ist deine Schuld, Aischa." Aischa sagte: "Nein, Mutter, es ist deine Schuld."

Ireth sagte vom Baume herunter: "Nun kommt und zankt euch nicht. Es wird Zeit, daß ihr mich vom Baume nehmt, denn es wird Abend." Dann versteckte sich Ireth zwischen den Ästen und Blättern. Die Teriel kam und blickte von unten allerorts zwischen die Blätter und Äste. Sie rief: "Wo bist du denn?" Ireth rief: "So blicke doch hierher!" Die Teriel kam an die Stelle, und als sie gerade mit nach oben gerichteten Augen unter Ireth stand, preßte er ihr den Saft von ein paar Feigen in die Augen. Die Teriel schrie und konnte nicht mehr sehen. Ireth sagte zu Aischa: "Komm, Aischa, nimm du mich. Deine Mutter ist von den Wespen verunreinigt worden. Bringe mich in die kleine Kammer, damit ich noch einige Tage frische Feigen esse." Aischa nahm darauf Ireth und brachte ihn in die kleine Kammer.

Nach einigen Tagen sagte Ireth bei sich: "Nun habe ich genug gegessen; nun will ich wieder nach Hause gehen." Ireth rief aus seiner kleinen Kammer die Teriel an und sagte: "Nun bin ich so fett und wohlschmeckend, daß ich nicht besser werden kann. Nun bereitet mich. Ich bin nun aber so fett, daß ihr mich nicht allein essen könnt. Ladet also alle eure Tanten und Basen ein. Gehe du hin und rufe sie zusammen. Aischa kann mich inzwischen zubereiten. Ich werde es ihr genau sagen, wie sie es machen soll, damit ihr heute abend ein sehr gutes Gericht habt." Die Teriel sagte: "Du bist ein gescheiter Junge. Die Aischa soll alles bereiten. Ich gehe inzwischen bei den Tanten und Basen herum und lade sie ein." Damit ging die alte Teiiel fort.

Aischa nahm Ireth aus der Kammer. Ireth sagte: "Nun schlage Holz und setze den großen Topf mit Wasser an das Feuer." Aischa schlug Holz und setzte den Topf mit Wasser auf das Feuer. Inzwischen saß Ireth auf der Bank und kratzte sich mit dem Zinkenschlüssel auf dem Kopfe, schloß die Augen und sagte: "Tut das gut! Tut das gut! Tut das gut!" Als Aischa den großen Topf auf das Feuer gesetzt hatte, sagte sie zu Ireth: "Kratze mich auch so auf



Atlantis Bd_02-208a Flip arpa


Das kleine Weizenkorn

(unten links) hat statt seiner den Stein an den Baum gehängt, zu dem die Flammen hochlecken. Um das Feuer drei Teriel. (Zu Nr. 24.)

Eine Beeinflussung fand lediglich insofern statt, als der Darsteller bei diesem Bilde veranlaßt wurde, alle Figuren nebeneinander und vor das Feuer zu stellen



Atlantis Bd_02-209 Flip arpa

dem Kopfe!" Ireth stellte sich auf die Bank und sagte: "Setze dich hier vor mich. Ich will dich von hinten kämmen und kratzen." Aischa setzte sich. Ireth sagte: "Beuge den Kopf weiter vor." Aischa tat so. Da zog Ireth ein Messer aus der Tasche und schnitt der Tochter der Teriel von hinten den Hals durch. Danach zog er Aischa die Kleider aus und die Haut ab und zerschnitt sie. Die Kleider Aischas zog er an. Die Haut Aischas legte er beiseite, und ihre einzelnen Teile warf er in den Kochtopf. Dann setzte sich Ireth in den Kleidern Aischas auf das Bett Aischas.

Als es Abend war, kam die Teriel mit ihren Basen und Tanten. Ireth saß in den Kleidern Aischas auf Aischas Bett und weinte. Die Teriel fragte ihn: "Was weinst du?" Ireth weinte und sagte: "Jetzt ist der kleine Ireth tot; mit wem soll ich jetzt spielen?" Die Teriel sagte: "Beruhige dich; ich werde einen andern Jungen finden, mit dem du spielen kannst, bis er auch fett genug ist. Nun komm, iß mit uns, und du wirst sehen, wie ausgezeichnet der Ireth dir schmeckt!" Ireth saß in den Kleidern der Aischa auf dem Bett der Aischa und weinte und sagte: "Ich mag nicht!"

Die Teriel und ihre Basen und Tanten saßen um den großen Topf und aßen das Fleisch der Aischa. Die Teriel fischte das Auge Aischas aus dem Topfe, führte es zum Munde und verschluckte es. Eine Katze kam durch den Raum, strich an der Teriel vorüber und sagte: "Mau! Mau! Die Mutter ißt das Auge ihrer Tochter!" Ireth sprang aus dem Fenster. Ireth warf die Haut Aischas zwischen die Teriel, ihre Tanten und Basen und sagte: "Ja, die Katze hat recht, du hast das Auge deiner Tochter gegessen. Wenn du mich nun essen willst, so komme unter den Feigenbaum." Die Teriel wollte Ireth greifen. Ireth war aber flink und die Teriel noch vom Feigensaft auf beiden Augen halbblind. Ireth entschlüpfte.

Ireth rief von draußen herein: "Mutter Teriel! Wollt ihr mich doch noch essen?" Die Teriel, ihre Basen und Tanten riefen: "Ja, das wollen wir." Ireth rief: "So macht unter dem Feigenbaum ein großes Feuer. Es muß ein großes Feuer sein. Ich will dann vom Feigenbaum in das Feuer hineinspringen, werde im Feuer geröstet werden und ausgezeichnet schmecken." Die Teriel, ihre Basen und Tanten sagten: "Das werden wir tun." Die Teriel, ihre Basen und Tanten schleppten Holz heran und machten ein großes Feuer unter dem Feigenbaum. Ireth nahm einen großen' Stein, den band er an einer dünnen Schnur in die unteren Zweige des Feigenbaumes.



Atlantis Bd_02-210 Flip arpa

Das Feuer ward heiß und schlug in großen Flammen nach oben. Die Flammen entzündeten die dünne Schnur, an dem der Stein hing. Die Schnur verbrannte. Ireth rief: "Ich komme!" Der Stein fiel in das Feuer. Die Teriel, ihre Basen und Tanten liefen nah an das Feuer heran, um Ireth zu sehen, wie er röstete.

Als alle Teriels um das Feuer standen, sprang Ireth herzu und stieß sehr schnell eine nach der andern in die Flammen. Alle Teriels verbrannten, und es blieb von ihnen in dieser Gegend keine einzige mehr am Leben. Als alle Teriels verbrannt waren, ging Ireth in das Haus der Teriel. Er nahm von ihren Schmucksachen, Gold und Kleidern, was ihm gefiel. Damit kehrte er heim zu seinem Vater.

Der Vater des Ireth schalt auf ihn, als er ihn wiedersah. Er sagte: "Ich habe um dich geweint, weil ich glaubte, du seist verunglückt." Ireth sagte: "Mein Vater; ich habe nur einmal einige Tage lang gut gegessen und viel Freude gehabt."


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt