Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ALPENSAGEN


UND SENNENGESCHICHTEN AUS DER SCHWEIZ


NACHERZÄHLT VON C. ENGLERT-FAYE

BUCHCLUB EX LIBRIS ZURICH


DIE SINGENDE TANNE

Allemal, wenn die Glocken des Kirchleins von Reckingen im Wallis des Tages das Ave durchs Tal hinaus läuteten, ließen die Leute im Dorfe ihre Hände von der Arbeit ruhen und lauschten stille einer wundersamen Weise, die leise wie ein fernes Singen hoch oben vom Hochwald herabtönte. Und wenn die letzten Klänge des Geläutes versummt waren, dann verstummte auch der seltsame Gesang; niemand, weder alte, noch junge Leute, wußte zu sagen, woher die geheimnisvollen Töne kämen; denn lange Jahre schon vernahm man die lieblichen Laute, als wäre es seit ewiger Zeit. Und niemand dachte je daran, danach zu fragen.

Nun aber lebte im Dorfe ein kunstreicher Schnitzler. Der legte bei jedem Ave Messer und Meißel auf die Werkbank und lauschte fromm wie die andern alle der Wunderweise vom Berge. Aber der süße Klang bewegte sein Gemüt tief innen so mächtig, daß ihm die Töne in der Seele lange fortklangen und sangen. Und er sann und sann, wie er das Wunder erforschen möchte, und seinem Herzen ward keine Ruhe mehr vor diesem Drang, nicht beim Gebet und nicht im Schlaf.

Also geschah es, daß er eines Tages haldan stieg in den Bergwald hinauf und dort anhub zu lauschen; er lauschte dem Wasser, er lauschte den Winden, den Steinen lauschte er und den Bäumen, und endlich hörte er die Laute einer gewaltigen Tanne entklingen. Aber seine Sehnsucht ward um dessentwillen nicht stille, und eher nicht fand er den Frieden - mit starkem Arm und scharfer Axt hat er den Wunderbaum gefällt und seinen Riesenstamm ins Tal geschleift.

Nun hieb der Meister sich daraus einen mächtigen Block vom schönsten Kernholz zu, glatt gefasert, ohne Ast, und hub in heiligem Ernst und Eifer ein neues Bildwerk an zu schnitzen Tag und Nacht. Und anderem Werke diente seine Kraft und



Alpensagen-134 Flip arpa

Kunst fortan nicht mehr. Nach Jahr und Tag erst war das Werk vollendet. Ein Bildnis war's der allseligen Jungfrau Mutter. Kein ander Bildwerk weit und breit im Lande kam diesem Bildnis gleich an Himmelsanmut und Gottesschöne.

Aber der Meister gab das heilige Bild der Kirche seines Heimatorts als Weihegabe. Doch als die hehre Abgestalt der Himmelskönigin festlich am feierlichen Hochaltare ragte, da hub das schöne Bild auf einmal an, die Lippen zu bewegen, und einmal noch ertönten, allen vernehmbar, die altvertrauten Wunderweisen aus der Höhe. Und alles Volk fiel auf die Knie und weinte vor seliger Wonne helle Tränen und pries in lautem Gebete den allmächtigen Gott und die himmlische Jungfrau.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt