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Deutsche Kinder- und Hausmärchen


Illustrationen von Sigrid Witzig

Märchen europäischer Völker


Die drei Gürtel

Es war einmal vor Zeiten ein König, der eine schöne, junge und tugendhafte Gemahlin hatte, die ihn, wie er sie, sehr zärtlich liebte. Aber leider blieb dieses Glück nicht von langer Dauer. Der König war ein lebhafter, feuriger Herr von einem etwas unbeständigen Charakter; er hatte den Grundsatz mit allen Männern gemein: Das Einerlei ermüdete ihn, und er empfand in dem Genuß der schönsten und liebenswürdigsten Frau Langeweile. Vergebens bemühte er sich, dies zu verbergen: Seine Gemahlin merkte es nur zu schnell und härmte sich im stillen über die Veränderung in seinem Betragen. Umsonst unterdrückte sie jeden Vorwurf; umsonst war sie zärtlicher, zuvorkommender, liebenswürdiger als je: Seine Unbeständigkeit, sein Hang zur Veränderung war zu groß! Er liebte sie freilich noch immer, er sagte ihr dies auch täglich, aber er nahm doch mit dem größten Vergnügen einen Ruf seines Oheims an, der ihn bat, gegen einen seiner Nachbarn mit zu Feld zu ziehen. Die Königin war untröstlich, als er ihr diese Nachricht hinterbrachte; sie ging weinend zu Bette und stand mit Tränen wieder auf. Der König wandte zwar alle Mittel an, sie zu beruhigen, aber da alles vergebens war, so stahl er sich einst um Mitternacht von ihrer Seite, drückte einen herzlichen Kuß auf ihre blassen Wangen, ließ ihr einen zärtlichen Brief zurück und war, als sie erwachte, schon mehrere Meilen von ihr entfernt.

Die ersten Tage nach seiner Abreise überließ sich die Königin so heftig ihrem Schmerz, daß man für ihre Gesundheit besorgt war; aber die wohltätige Zeit machte ihn nach und nach milder, und die



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Königin fing wieder an, ein Segen ihrer Untertanen, die Mutter aller Trauernden und Notleidenden zu werden. Eines Tages war sie in fremder Tracht in der Stadt umhergeschlichen, hatte manche Träne getrocknet, manchen schweren Kummer leichter gemacht, und war schon auf dem Rückweg, da hinkte ihr ein altes, krummes, scheußlich aussehendes Wesen entgegen: Die Gasse war enge, und die holde Königin drängte sich ganz an die Wand, um auch nicht in dem kleinsten Punkt diese entsetzliche Häßlichkeit zu berühren; aber in dem Augenblick, wo die Alte an ihr vorbeiging, glitt sie aus und fiel, so lang sie war, in den Kot. Jeder andre würde hierüber laut gelacht haben, aber die gute Königin lachte nicht: Sie eilte schnell hinzu, überwand all ihren Abscheu und half der Alten in die Höhe. Dies war freilich kein kleines Stückchen Arbeit; denn die Hexe war schwer und mühsam aufzurichten und belegte während des Aufstehens ihre Helferin mit den schändlichsten Namen: Ja, sie vergaß sich so sehr, daß sie, als ihr die Königin gar nicht antwortete und nach vollbrachter Arbeit sich entfernte, mit der Krücke nach ihr schlug, auch so gut gegen die Erde traf, daß sie in zwei Stücke sprang. Dies machte die Alte ganz hilflos, und sie schrie und tobte so lange wechselweise, bis die Königin wieder zurückkehrte und mit einer beispiellosen Geduld die Alte unter den Arm nahm und auf ihr Begehr zu einem kleinen Hüttchen führte, das nicht fern vom Wege ab war.

Sobald die Alte in dem engen schmutzigen Stübchen sich gesetzt hatte, eilte Adelheid - so hieß die gute schöne Königin -, ohne ein Wort mit ihr zu reden, aus der Tür. Aber ein plötzlicher Donnerschlag schreckte sie zurück: die alte Hexe war verschwunden, und an ihrer Stelle stand eine große majestätische Fee vor ihr, die sie mit Bewunderung und Vergnügen ansah. »Du bist noch mehr als gut«, hob die Fee endlich an, da sich Adelheid ein wenig erholt hatte; »ich habe dich geprüft, und du stehst von nun an unter meinem Schutz. Zur ersten Probe meiner Gewogenheit nimm diese drei Gürtel von Silber; zwei lege zurück, aber den einen trage: Wenn dieser bricht, so denkt dein Gemahl schon seltener an dich; trage alsdann den



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zweiten, und bricht auch dieser, dann lege den dritten an und reise unverzüglich deinem Gemahl nach. Halte dich dann verborgen; aber wenn der dritte Gürtel bricht, dann, Königin, eile, deine Rechte geltend zu machen. Lebe wohl und rechne auf Fatimens Schutz!« Hier verschwand die Fee, und die erstaunte Königin würde alles für Blendwerk gehalten haben, wenn nicht die drei Gürtel in ihrer Hand zurückgeblieben wären.

Sobald sie zu Hause ankam, legte sie den ersten wunderbaren Gürtel um, und ob sie gleich befürchtete, daß er brechen möchte, so segnete sie doch dies Geschenk der Fee; denn es gab ihr, solange der Gürtel ganz war, die Beruhigung, daß ihr Gemahl getreu sei und ihrer gedenke. Schon war ein halbes Jahr verflossen, und Adelheid nährte heiße Wünsche für die Rückkehr des geliebten Königs, als plötzlich eines Tages ihr Gürtel in drei Stücke brach. Der Schmerz der Königin kannte lange Zeit keine Grenzen und war um so heftiger, da sie keinen Vertrauten hatte, in dessen Busen sie ihren Kummer niederlegen konnte. Sie fürchtete sich, den zweiten Gürtel umzulegen. Ach! Sie hatte nur zu sehr recht; denn schon in vier Wochen brach er in mehrere kleine Stücke. Diesesmal blieb sie weit gefaßter; sie hatte sich nun schon daran gewöhnt, ihren Gemahl als untreu zu betrachten, und gewissermaßen erwartet, daß der Gürtel brechen werde. Was sie aber noch mehr in Erstaunen setzte, war die Nachricht von dem Tode des Königs, die sich seit diesem Tage allgemein verbreitete. Sie allein wußte, daß er lebte; da sie aber nicht imstande war, es zu beweisen, ohne ihr Geheimnis zu verraten, so schwieg sie, und indem sie die Wahrheit dieses Gerüchts bezweifelte, berief sie ihre treuesten Räte zusammen, empfahl ihnen die Fürsorge für ihre Untertanen auf das angelegentlichste und eröffnete ihnen alsdann, daß sie reisen und ihren Gemahl selber aufsuchen werde, indem er ihr diese Nacht im Schlafe erschienen und ihr entdeckt habe, daß er nicht tot, aber in einer Art von Bezauberung sei, aus der ihn nur ihre persönliche Gegenwart retten könnte.

Damit nun ihr Volk und die übrigen Räte nicht hiervon unterrichtet



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würden und wohl gar ein Mißvergnügen darüber entstände, so wolle sie bekanntmachen, daß sie noch heute sich auf ein entlegenes Schloß begebe; hier wolle sie ihrem Schmerz nachhängen und das ganze Trauerjahr niemand als die getreusten Räte sehen. Alle Vorstellungen ihrer Getreuen waren umsonst: Sie war auf alles, auch auf das Ärgste vorbereitet, und da alle Vorstellungen nichts fruchteten, so ergaben sie sich in den Willen ihrer guten Königin, gelobten ihr Treue bis in den Tod und begleiteten sie schon des nächsten Tages auf das ferne Landschloß, von wo sie bald darauf, als eine Pilgerin gekleidet, abreiste. Mehrere Tage waren bereits vergangen, ohne daß irgendein Abenteuer die Reise der schönen Königin aufgehalten hätte. Sie wurde aller Orten gut aufgenommen, es fehlte ihr an nichts; denn die Menschen der alten Zeit waren gastfrei und daran gewöhnt, vornehme Leute in solchen Mummereien reisen zu sehen, um irgendein Gelübde zu erfüllen. Ohne zu wissen, wohin ihr treuloser Gemahl sich gewandt hatte, folgte sie einzig dem Zuge ihres Herzens und hatte einen Weg eingeschlagen, von dem sie erhoffte, daß er sie zum Ziele führen werde.

Eines Tages, da sie sehr viel von der Sonnenhitze ausgestanden und fast ermattet war, näherte sie sich gegen Abend einem großen Walde, dessen Dunkelheit sie erschreckt haben würde, wenn nicht das Verlangen nach der darin herrschenden Kühlung alles überwunden hätte. Sie schleppte sich mühsam bis zu seinem Eingange; da warf sie sich in den Schatten der alten hundertjährigen Eichen und beweinte ihr Schicksal mit heißen Tränen. Der brennendste Durst plagte sie; sie sah sich ängstlich nach einer Quelle um, aber die große Ermüdung verbot ihr, danach zu suchen, und sie sank ganz erschöpft auf der Stelle wieder nieder. Schon wollte ihre Geduld, ihre Sanftmut sie verlassen, als sie sich besann, ruhig den Kopf ins Gras legte und im Begriff war, einzuschlummern; da wehte plötzlich ein säuselndes Lüftchen über sie hin, das sie ohne Speise und Trank so sehr erquickte, daß sie nach einigen Minuten völlig stark und wohl genug aufstand, um ihre Reise fortzusetzen. Eine ziemlich große



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goldene Nuß, die zu ihren Füßen lag, befestigte sie noch immer mehr in dem Glauben von Fatimens Nähe, und nachdem sie die Nuß verwahrt hatte, trat sie getrost ihren Weg wieder an und verfolgte ihn standhaft, bis mitternächtliches Dunkel alle Gegenstände um sie her verschleierte und sie genötigt ward, bis zur Ankunft des Morgens unter einem Baume Platz zu nehmen.

Es war die erste Nacht auf ihrer Reise, wo sie ohne Obdach blieb, und sie wurde doch ein wenig unruhig, wenn sie aus der Ferne das Brüllen der Hyänen, das Jähnen der Tiger und das Geheul der Wölfe hörte. Angstvoll hatte sie ein Stündchen so zugebracht, das ihr dreimal so lang geworden war, als der Mond durch die Wolken brach und mit seinem lieblichen Glanze Adelheidens Herz erfreute. Sie verfolgte nun mutig ihren Weg, und als sie eine Zeitlang geschwind fortgeschritten und dann, um etwas zu ruhen, sich an einen Baum lehnte, war es, als näherte sich der Mond dem Orte, wo sie ruhte, und indem er leicht über sie hinschwand, fiel eine ähnliche goldne Nuß zu ihren Füßen. Froh in dem Besitz dieses zweiten Schatzes, eilte sie freudig vorwärts und ergötzte sich bei der Ansicht der Bäume, an denen sich das blasse Mondenlicht auf eine zauberische Art brach.

Endlich hatte sie das Ende des fürchterlichen Waldes erreicht und trat mit einem Gefühl hoher Freude, das gewöhnlich überstandene Gefährlichkeiten gewähren, aus dem Dunkel hervor. Siehe, da erwartete sie das schönste Schauspiel der Natur, die aufgehende Sonne. Wie angezaubert stand Adelheid; sie hatte nie im Freien einen Morgen so früh gefeiert. Sie wagte nicht, von der Stelle zu gehen, kaum zu atmen, um nur nichts von diesem schönen Anblick zu verlieren. Prachtvoll stieg sie höher und immer höher, die große Königin des Tages, und indem ihre Strahlen mit allem Glanze auf Adelheid fielen, warfen sie zugleich eine noch größere Nuß als die beiden übrigen zu den Füßen der holden Pilgerin, auf der mit deutlichen Worten stand: Du bist am Ziele. Gerührt sank sie auf die Knie, Tränen entstürzten ihr, und indem sie sich langsam erhob, zeigte sich



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ihrem Auge eine schöne große Stadt, wovon sie nur noch ein Viertelstündchen entfernt war.

Sie legte den kurzen Weg dahin schnell zurück, und da sie vor einer Mühle vorbeikam, deren Bewohner schon aufgestanden waren, so ging sie hinein und bat um ein Frühstück. Gleichsam als hätte man die guten Leute darauf vorbereitet, so freundlich und gut wurde sie empfangen. Es waren ein Paar würdige Alte, die Adelheid in den ersten Augenblicken mit Philemon und Baucis verglich. Nachdem das Mütterchen sie mit einer frischen Milch erquickt hatte, bereitete sie ihr ein Bad, und als die Pilgerin auch dies genommen hatte, so zeigte sie ihr in einem kleinen einsamen Hinterstübchen ein Bett, das mit Blumen bestreut war und worauf sie einige Stunden ruhen sollte. Dankbar drückte sie die Hand der guten Müllerin und warf sich zufrieden auf das duftende Lager, wo der Schlummergott durch holde Träume ihr alles Leid vergessen machte. Reizender und schöner als eine Frühlingsrose erwachte die Pilgerin; ihre Wangen und Lippen glühten von der feinsten Röte, und ihre Augen hatten einen so sanften, unwiderstehlichen Glanz, daß die guten alten Müllersleute nicht aufhören konnten, ihren neuen Gast zu betrachten und ihn zu liebkosen. Die Mühle lag malerisch schön, und Adelheid nahm sich vor, die Entwickelung ihres Schicksals hier abzuwarten. Sie fragte die guten Alten, ob sie es erlaubten, daß sie einige Zeit bei ihnen bleiben dürfe. Hierüber waren sie sehr vergnügt und beteuerten ihr feierlich, daß sie sie in der kurzen Zeit so lieb gewonnen, daß es sie freuen würde, wenn es ihr recht lange oder gar immer bei ihnen gefiele. Sie verabredeten nun zusammen, Adelheid für ihre Verwandtin auszugeben und ihr den Namen Röse beizulegen.

Der Abend dieses Tages war so schön, daß sich Röse, die ein Bauerngewand angelegt hatte, das ihre Reize noch mehr den Augen darstellte, ins Freie geflüchtet hatte, vor der Tür auf einer Bank saß und tiefsinnig in den vorbeirieselnden Bach sah. Ein nahes Pferdegetrappel machte sie aufmerksam; aber man denke sich ihr Erstaunen, als sie ihren Gemahl mit einem großen Gefolge von Pferden angesprengt



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kommen sah, an seiner Seite ein mehr schönes als reizendes Mädchen. Der Zug war schon zu nahe, um zu entfliehen; sie sammelte ihre Kräfte zusammen, blieb sitzen und betrachtete von Zeit zu Zeit ihren Ungetreuen, der kein Auge von ihr verwandte und sich noch so lange nach ihr umsah, als ihm irgend möglich war. Das Gefolge des Königs war ihr ganz unbekannt. Sie schlug ihre Augen wieder nieder, sobald der Geliebte entschwunden war, und versank wieder in ein so tiefes Nachdenken, daß sie nichts von den Anmerkungen des ganzen Gefolges hörte, noch weniger sich durch ihr lautes Lachen beleidigt fühlte.

Endlich schüttelte die gute alte Müllerin sie aus ihrem Nachdenken auf, erinnerte Röse an die kühle Abendluft und zog sie, ihr die Wange streichelnd, in die Stube, wo ihr kleines ländliches Mahl ihrer harrte.

Röse nahm all ihre Besinnung zusammen und fragte die Müllerin, was denn das für ein Herr gewesen sei mit einer schönen Dame und einer großen Menge Bedienten, der heute abend hier vorbeigefahren. Mit der ganz eignen Redseligkeit, die gewöhnlich allen alten Leuten eigen ist, erzählte ihr diese nun, daß die Dame die Tochter des Königs und der schöne junge Mann ein fremder Prinz sei, der hier durch einen Zufall, den aber niemand wisse, hergekommen sei; er sei die erste Zeit immer sehr traurig gewesen und habe viel geseufzt, aber der König und seine Tochter hätten nicht eher mit ihren Tröstungen nachgelassen, bis er heiter geworden und endlich vor vier Wochen sich verlobt habe. In wenigen Tagen werde die Vermählung sein, und man mache schon die größten Anstalten dazu. Bei diesen Worten erblaßte Röse; sie rief leise: »Ach Gott!« und sank in eine tiefe Ohnmacht. Als sie zu sich selbst kam, und dies geschah durch das viele kalte Wasser, womit man sie begoß, bald, so bat sie die alten Leute recht herzlich um Vergebung wegen des Schrecks, so sie ihnen gemacht, und eilte in ihr Schlafstübchen, wo sie sich ihrem Gram, ihrer hoffnungslosen Liebe überließ. Aber mitten in ihrem Leiden fiel ihr ein, daß der dritte Gürtel noch immer fest ihren Leib



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umschloß und daß die Fee ihr gesagt hatte: Erst wenn der dritte Gürtel zerbricht, verleugnet er dich ganz und gar und liebt eine andere. Dieser Trost war nicht klein, und sie legte sich, ihn noch immer entschuldigend, zu Bette, aber leider nicht zur Ruhe.

Sobald der Tag in seiner Ordnung vorgerückt war, daß vornehme Leute aufstehen, so erschien der König abermals, aber nur von einem einzigen Jäger begleitet, an der Mühle und traf Röse, die eben im Begriff war, einen Kranz von Vergißmeinnicht in ihr Haar zu flechten; bei seinem Anblick erschrak sie heftig, der Kranz entsank ihren Händen, und der Bach trieb ihn schneller mit fort, als es dem König möglich war, ihn zu erhaschen. Er kehrte, nachdem seine Bemühungen vergebens waren, zu Rösen, die ihre Fassung wieder erhalten hatte, zurück und fragte sie freundlich, wer ihre Eltern seien. Sie heftete ihm das verabredete Märchen auf und war schon im Zurückgehen, als er ihre Hand ergriff und recht zärtlich fragte, ob sie noch keinen Bräutigam habe. Sie antwortete verschämt: »Nein«und wollte abermals gehen, aber der König zog sie neben sich ins weiche Gras und schwatzte ihr von dem Eindruck vor, den sie gestern auf ihn gemacht.

Röse schwieg, und der König, der dies als ein Zeichen ihres Wohlgefallens aufnahm und sie für ein ganz gewöhnliches Bauernmädchen hielt, fing schon aus einem zuversichtlichen Ton an zu reden, als sie schneller, als er es verhüten konnte, aufstand und sich hastig in die Gebüsche und von dort in ihr Stübchen entfernte. Vergebens durchbrach der König die Gesträuche, vergebens wiederholte das ferne Echo ihren Namen; Röse blieb fort und ihm nichts übrig, als mißmutig zurückzukehren. Täglich kam er seit diesem Morgen mehrere Male zur Mühle; war er artig und blieb in gewisser Entfernung, so war Röse für ihn da, ja, sie wurde ihm nach und nach so teuer, daß er sie wirklich innig liebte und ihm seine stolze Braut, in Betrachtung gegen dies anspruchslose Mädchen, immer gleichgültiger ward. Röse nannte sich nur seine Freundin, aber sie war seine Geliebte im vollsten Sinne des Worts, und sie wandte ihre Gewalt über ihn nur an,



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um sein Herz zu veredeln, ihn von seiner Unbeständigkeit zu heilen.

Indes rückte sein Hochzeitstag immer näher, schon war er nur noch acht Tage entfernt, da ward sein Herz noch einmal zum Verräter, seine Liebe noch einmal sinnlich; er kam spät gegen die Nacht zu Rösen und wandte die süßesten Überredungen, die zärtlichsten Liebkosungen an, um die Holde ganz sein zu nennen. Schon wankte die Arme, nur noch matt verteidigte sie sich gegen den geliebten Verführer, da brach plötzlich ihr dritter Gürtel entzwei. Kalt vor Schrecken, wand sie sich aus den Armen des Königs; sie hatte fast über der Geliebten die Gattin vergessen, und indem sie sich weinend in ein Fenster legte, bat sie ihn flehentlich, die Haustüre zuzumachen, weil das Schlagen davon ihrem Gehör so unangenehm sei.

Der König ging; er war erstaunt und verdrießlich, dem Gegenstand seiner süßesten Wünsche sich auf einmal so entrückt zu sehen. Er schlug die Türe zu, da sprang eine gegenüber sich befindende auf, als er diese zugemacht, eine dritte, und so ward er von einer unsichtbaren Macht genötigt, die ganze Nacht Türen zuzumachen. Verdrießlich über diesen sonderbaren Streich, den er auf Rösens Rechnung schob, eilte er nach seinem Schlosse, und um sie, von der er wußte, sie liebte ihn, recht zu kränken, setzte er seinen Hochzeitstag schon auf den dritten Tag an, tat doppelt schön mit seiner Braut und suchte in einem Schwarm von Lustbarkeiten Röse ganz zu vergessen.

Als es Tag ward und der König nicht wieder zurückkam, so glaubte Röse, daß er, durch ihr Weinen gerührt, sie darum verlassen habe. Als er aber gar nicht zurückkehrte und sie die Beschleunigung seiner Heirat erfuhr, da merkte sie wohl, daß er zürne, und sann hin und her, ihn zu versöhnen, als ihr nach langem Nachdenken ihre goldnen Nüsse einfielen.

Sie eröffnete hurtig und neugierig die kleinste, worin sich zu ihrem Erstaunen ein wunderschönes Nähzeug mit einem Nähkästchen befand. Sie eilte geschwind nach dem Schlosse, setzte sich dem Fenster



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der Prinzessin gegenüber und fing an zu nähen. Diese ward bald aufmerksam auf die schöne Nachbarin und ihr noch schöneres Kästchen, worauf sich die Sonnenstrahlen in den prächtigsten Farbenmischungen brachen. Ihr künftiger Gemahl koste mit ihr an demselben Fenster. Er erschrak, da die Näherin ihre Augen aufschlug und er Röse erkannte. Ihr freundlicher Blick machte ihm Mut, und er sandte im Namen der Prinzessin herunter und ließ fragen, ob das Kästchen nicht zu verkaufen sei. »Nein!« entgegnete Röse dem Boten. »Es ist nicht zu verkaufen, aber wohl zu vertauschen.« — »Und wofür willst du es vertauschen?«fragte die Prinzessin heftig, indem sie das Fenster aufriß. — »Für Ihre erste Brautnacht!«entgegnete das Mädchen verschämt und nähte ruhig fort. »Die Kreatur!« war die Antwort, und das Fenster flog zu, daß alle Scheiben klirrten. Hoch schlug dem Könige das Herz; er sah nun wohl ein, daß nicht Röse, sondern eine boshafte Fee ihn gequält hatte, und er nahm geschwind zur List seine Zuflucht. Hastig bat er die Prinzessin, das Kästchen zu vergessen, denn er würde sich nie überwinden, mit dieser Kreatur sein Bett zu teilen. Sobald die Prinzessin von dieser Seite sich sicher glaubte, zog sie andre Saiten auf und ließ den Wunsch, das Kästchen zu besitzen, so deutlich blicken, daß der König endlich halb unwillig nachgab, und der Tausch zwischen der Prinzessin und der Näherin wurde geschlossen.

Sobald diese ihr Kästchen angebracht hatte, eilte sie nach Hause und öffnete die zweite Nuß; hier bot sich ihren erstaunten Augen eine Spindel dar, die an Schönheit und Reichtum das Nähkästchen weit übertraf. Die erstaunte Müllerin unterrichtete Röse, mit der Spindel umzugehen, und kaum graute der zweite Tag, als sie schon im Schloßhof saß und einen Faden spann, der noch feiner als das feinste Haar war. Der ganze Hofstaat war starr vor Erstaunen, und kaum erfuhr die Prinzessin dies neue Wunder von ihren Frauen, als sie schnell ihr Bett verließ und ans Fenster lief, um sich mit eignen Augen davon zu überzeugen. »Es ist Wahrheit!«rief sie freudig aus und sandte zu Rösen, um den Preis der Spindel zu erfahren. Sie erhielt



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dieselbe Antwort wie zum erstenmal; denn die Spindel war Rösen nur für die zweite Brautnacht der Prinzessin feil. Sogleich ward zum König geschickt; er kam, und die Geliebte ließ nicht eher mit Bitten nach, bis er ihr erlaubte, gegen die zweite Nacht die wunderschöne Spindel einzutauschen.

Kaum war auch diese in den Händen der Prinzessin, so war Röse auch schon verschwunden, hüpfte in ihr Kämmerchen und öffnete die dritte Nuß; ein kostbares Geschmeide, das Nähkästchen und Spindel bei weitem übertraf, war darin befindlich. Wie lang dünkte ihr heute der Tag! Endlich war er dahin; auch die langweiligste Nacht ihres Lebens entschwand, und der gefürchtete Hochzeitstag brach heran. Röse zog ihre Pilgerinkleider wieder an, schmückte sich mit einem Kranze und ging, das Geschmeide mit sich tragend, dem Schlosse zu. Sie verlangte die Prinzessin zu sprechen, und man führte sie unbedenklich zu ihr. Die Glückliche war schon unter den Händen ihrer Frauen, die ihre natürliche Schönheit noch mehr zu erhöhen suchten. Die Pilgerin zeigte den Schmuck, und die Prinzessin freute sich so sehr darüber, daß sie, ohne den König zu fragen, ihr die dritte Nacht zusagte und sie noch obenein bat, ihren Hochzeitstag bei ihr zu bleiben und während der drei Tage ein paar Zimmer von den ihrigen zu beziehen. Röse dankte aber für das alles, ging ruhig nach Hause, verbrachte den Tag abwechselnd in Angst und in Freude und eilte dann, als der Abendstern flimmerte, dem Schlosse zu. Lauter Jubel tönte ihr entgegen; sie schlich sich unbemerkt zu den Zimmern der Prinzessin. Hier öffnete ihr eine vertraute Kammerfrau das bräutliche Schlafgemach und entfernte sich dann wieder.

Sobald sie allein war, warf sie die Kleider einer Pilgerin von sich, hüllte ihre zarten Glieder in einen durchsichtigen Schleier, nahm ihre natürliche Stimme wieder an und erwartete so mit Sehnsucht ihren Geliebten, ihren Gatten. Endlich näherte sich die Stunde, die Musik schwieg, und in wenig Augenblicken fühlte sie sich von seinen Armen umfaßt. Er war schon entkleidet und trug das zitternde Weib



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zum heimlichen Lager; alle Lichter verlöschten, er stammelte: »Meine Röse!«und ward glücklich, wie es ein liebender Mann werden kann. Sanft entschlummerte er in ihren Armen, und schon begann dem jungen Tage die Nacht Platz zu machen, als Adelheid erwachte. Sie betrachtete mit Zärtlichkeit den geliebten Gatten, als sie ein schwarzes Bändchen auf seiner Brust entdeckte; sie zog leise daran, und siehe, welche Freude, es war ihr eignes Bildnis, das er noch immer auf seinem Herzen trug. Bei Betrachtung dieses Bildes ertappte sie ihr Gemahl; eine hohe Röte flog schnell über seine Wangen, er nahm es ihr weg und gab ihm seinen alten Platz. »Wessen ist das Bildnis?«fragte Adelheid, sich sanft an ihn schmiegend. Er seufzte tief, dann sagte er scherzhaft: »Ach, Röse, was für eine Saite berührst du! Es ist die schmerzhafteste meines Lebens. Ja, wisse es immer, du, nur du ähnelst ihr, es ist das Bildnis meines Weibes, meiner mir noch immer treuen Adelheid.« —Tränen flossen von seinen Wangen; er drückte Röse sanft von sich weg, und indem er aufstand, rief er jammernd: »Oh, meine Adelheid, wie sehr bin ich für meinen Leichtsinn bestraft!« —Länger konnte sich das liebende Weib nicht verhalten. Sie sank in seine Arme, und als die ersten Entdeckungen, die ersten Entzückungen der Liebe vorüber waren, so erzählte sie ihm alle ihre Schicksale von dem Tage ihrer Abreise an bis auf den Augenblick der Wiedererkennung. Gern hätte ihr der König auch seine Begebenheiten erzählt, aber die Zeit war zu kurz; sie versparten es bis auf die nächste Nacht, um nicht von seiner neuen Gemahlin überrascht und in einem vertraulichen Gespräch getroffen zu werden.

Kaum hatte er auch das Zimmer verlassen, als die Prinzessin, von den Qualen der Eifersucht getrieben, hereinrauschte; sie fand aber ihren Gemahl nicht mehr und die schöne Pilgerin in Tränen. Freilich waren es nur Freudentränen, die diese weinte, aber die Dame, die dies gar nicht ahnen konnte, hielt es für Tränen der verachteten Liebe und bezeigte der armen Röse ihr Mitleid recht aufrichtig; sie trocknete eigenhändig die Tränen von ihren schönen Augen, und als



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sie so manchen noch unverhüllten Reiz der jungen Pilgerin sah, so pries sie sich wegen der Liebe und Enthaltsamkeit ihres Gemahls doppelt glücklich. Sie eilte auch gleich zu ihm, überhäufte ihn mit Lobsprüchen und Zärtlichkeiten und hätte ihn gern für die schlechte Brautnacht, die er nach ihrer Meinung gehabt, schadlos gehalten, wenn der König nur das geringste Gelüsten gezeigt hätte. Dieser aber war einzig mit seinem und Adelheidens Schicksal beschäftigt und dachte so sehr auf Mittel, sich und sein geliebtes Wesen zu retten, daß er sich nur mit Mühe verstellte. Auch dieses Kältersein schrieb die eitle Prinzessin auf Rechnung seiner Liebe und teilte den ganzen Tag ihre Aufmerksamkeit zwischen die Pilgerin und ihren Gemahl, der ihr doch diesen Abend fast zu früh entschlüpfte und dem der Hofnarr noch nachrief: »Prinz, hüte dich: Die Wände haben Ohren; verborgne Türen können reden.«

Der König merkte sehr auf diese Warnung: Er wußte, der Narr liebte ihn, und war überzeugt, daß er etwas gehört hatte, worauf sich die Warnung bezog; und es war so. Die eine Kammerfrau der Prinzessin hatte abgebrochene Wörter aus einer kurzen Unterredung der Liebenden am Tage verstanden, und der Narr, der an allen Orten und in allen Ecken war, hatte dies erlauscht und warnte den Prinzen, den er herzlich liebte, davor.

Der König meldete mit leisen Worten seiner Röse den Verdacht; sie sprachen nur durch Blicke, und nachdem Röse im Bette lag, löschte der König die Lichter aus bis auf eins, mit dem er sich an ein kleines Tischchen setzte und las. Schon war es eine Stunde nach Mitternacht, und er hatte große Lust zu Bette zu gehen und die Rede des Narren für Narrheit zu halten, als er plötzlich ein kleines Knistern hörte; er drehte sich nach Rösens Bette um und sah in dem Augenblick seine zweite Gemahlin, blaß, mit der Miene einer Furie, in der einen Hand ein Licht, in der andern einen Dolch haltend, hereintreten. Sie war mit zwei Schritten am Bette. Aber wer malt ihr Erstaunen, als sie Röse fest schlafend dort allein fand und, indem sie sich umsah, ihren Gemahl erblickte, der hinter ihr stand, ihr den Dolch entwand



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und sie, mit dem Finger drohend, zur Türe wies. Sie ließ ihm den Dolch gerne, und indem sie ihn dankend umarmte, wünschte sie ihm lächelnd eine gute Nacht und zeigte auf die leere Stelle neben Rösen. Dieser Vorfall erweckte den König aus seinem Schlummer; er nahm sich vor, gleich den folgenden Tag zu handeln, und berief zu diesem Endzweck gleich frühmorgens den Reichsrat zusammen. Sobald sich alle gesetzt und des Königs Schwiegervater den Vorsitz eingenommen hatte, bat der Prinz um die Erlaubnis, seine junge Gemahlin holen zu dürfen, weil deren Stimme sehr wichtig für ihn sei. Man vergönnte es, und nachdem die Prinzessin Platz genommen, so fing der junge König an: »Es war einmal ein Mann, der hatte ein goldnes Vorlegeschloß mit einem schönen goldnen Schlüssel; er liebte den Schlüssel, weil er niedlich gearbeitet war.

Nach einiger Zeit verlor er durch eigne Unbesonnenheit sein Schlüsselchen, und da er es nicht ernstlich suchte, so vergaß er es ganz und fand es nicht wieder. Der Zufall kam ihm aber zustatten und ließ ihn einen Schlüssel finden, der ebenso schön als der vorige war und ebensogut schloß. Schon wollte der Mann den neuen Schlüssel gebrauchen, da fand er seinen alten wieder. Nun sagt, was soll der Mann mit den zwei Schlüsseln machen?« — »Alberne Frage!« rief seine Gemahlin, »den neuen Schlüssel muß er zurücklegen und den alten so lange gebrauchen, als es ihm möglich ist.« — »Und sind Sie alle der Meinung?«fragte er den Reichsrat. Ein einstimmiges Ja ertönte, und der König fuhr fort: »Nun, so hören Sie noch einen Augenblick die Auslegung der Geschichte.« —Alles hörte hoch auf. — »Der Mann bin ich, der goldne Schlüssel meine erste Gemahlin, die ich aus Leichtsinn verließ, indem ich in den Krieg ging und darauf durch einen Zufall hierher geführt wurde. Ich sah die Prinzessin; ich liebte, ich heiratete sie, und in der Brautnacht vertauscht sie mich an meine erste Gemahlin, die, durch den Schutz einer guten Fee geleitet, mich hier aufsuchte und fand. Ich habe aus diesem schönen Munde mein Urteil gehört; Ihr habt es bestätigt, und ich eile mit der Pilgerin, mit meiner Adelheid, zurück in mein Reich zu meinen Untertanen.«



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—Er wollte zur Tür eilen, als die Prinzessin ihm zuvorkam. »Zurück, Verräter«, donnerte sie mit schrecklicher Stimme, »diese Schmach sollst du mir nicht antun; diese Falschheit will ich dir vergelten. Man bemächtige sich der Pilgerin! Ihr Leben ist der Bürge für deine Flucht!« —Bei diesen Worten, die sie mit der größten Wut aussprach, erbebte der Saal. Eine Wolke von Wohlgeruch ließ sich nieder, und aus derselben trat Fatime, Adelheid im königlichen Schmuck an der Hand haltend, hervor. »Steht!«sagte sie mit sanfter Stimme, und alle standen wie angewurzelt, bis auf den König, der freudig zu seiner Gemahlin eilte.

Die Fee ergötzte sich an dem Anblick der Liebenden, und indem beide mit ihr ihren luftigen Wagen bestiegen, gab sie der Prinzessin die gute Lehre, ihren künftigen Gemahl nicht aus Geiz und Eitelkeit zu vertauschen und ihm die schönste Gabe, weibliche Sanftmut, mitzubringen. Der Wagen verschwand schnell ihren Augen, und indes jene vor Bosheit mit allen Wesen um sich her schmollte, langten diese unter dem frohsten Gespräche in ihrem Lande an. Sie stiegen bei dem einsamen Landhause ab, und die gute Fee verschwand, ohne ihnen Zeit zum Danken zu lassen. Des andern Tages forderten sie ihre Getreuen heraus, und nachdem sie in jeder Nachricht die Liebe und das Verlangen ihrer Untertanen nach ihnen gesehen, so zeigten sie sich bald darauf öffentlich und wurden mit allgemeiner Freude empfangen.

Nie gab es nachher einen treuern Ehemann; sein Leichtsinn hatte ihn verlassen, und sie lebten bis ins hohe Alter glücklich.


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