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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Ricdin -Ricdon

Ein Königssohn ritt einst auf die Jagd. Er hatte sich von seinen Begleitern getrennt und durchquerte gerade eine Ortschaft, die ganz verlassen zu sein schien. Da sah er aus einem ländlichen Garten ein Mädchen von blendender Schönheit treten, das ein Weib von höchst unangenehmem Äußeren mit Gewalt in ein bäuerliches Haus zu zerren suchte, das sich gegenüber dem Garten auf der anderen Seite der Landstraße befand. Das junge Mädchen hatte einen Spinnrocken mit Flachs neben sich und trug in seinem aufgeschürzten Rock einen Strauß von frisch gepflückten Gartenblumen. Die Alte riß ihr die Blumen weg, warf sie mitten auf die Straße, gab dem Mädchen einige derbe Stöße und packte es dann wieder beim Arm, indem sie ihm mit wütenden Gebärden drohte: »Marsch, Marsch! Kleiner Unart! Geschwind ins Haus, dort will ich dich gehörig fühlen lassen, was es heißt, ungehorsam zu sein.« Der Prinz, der sein Roß angehalten hatte, um dieses Schauspiel mit anzusehen, näherte sich der Alten, die gerade dabei war, in ihr Haus zu treten, und fragte sie mit freundlicher Miene: »Woher kommt es, gute Frau, daß Ihr dieses junge Mädchen so arg mißhandelt? Welchen Fehler hat sie begangen, durch den sie sich Euren Zorn in solchem Maße zuzog?«

Die Bäuerin war sehr aufgebracht und wünschte nicht, daß man sich in ihre Angelegenheiten mische; sie hatte schon eine freche Antwort auf der Zunge, als ihre Augen auf die Gewänder des Prinzen fielen, und sie schloß aus deren außerordentlicher Pracht, daß ihr Träger eine Person von hohem Rang sein müsse; daher hielt sie an sich und begnügte sich, in scharfem Ton zu antworten: »Gnädiger Herr, ich zanke meine Tochter aus, weil sie stets das Gegenteil von dem tut, was ich ihr sage. Ich wünschte, daß sie nicht mehr spinnen sollte, und sie spinnt von Morgen bis Abend, und das mit einer Geschicklichkeit ohnegleichen. Ich tadle sie nur deshalb, weil sie zuviel spinnt.«

»Wie?«sagte der Prinz, »ist das ein Grund, diesem armen Kind so zu zürnen? Oh, meine liebe Frau, wenn Ihr die Mägde haßt, die gern spinnen, so braucht Ihr die Eure nur der Königin, meiner Mutter, zu überantworten, die sich so sehr an diesem Geschäft ergötzt und die Spinnerinnen



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so hoch schätzt. Die Königin wird das Glück Eurer Tochter machen.«

»Ach, gnädiger Herr«, erwiderte die Alte, »wenn Ihr die Zierpuppe da mit ihrer Geschicklichkeit so geeignet findet für unsere gute Königin, so könnt Ihr sie gleich mitnehmen, wenn Ihr wollt, denn sie ist mir schon lange zur Last, und ich wäre wohl zufrieden, sie loszuwerden.« Bei diesen Worten kam ein Teil vom Gefolge des Prinzen zurück, und dieser befahl seinem Kammerdiener, das Mädchen hinter sich aufs Pferd zu nehmen. Das junge Geschöpf hatte das Gesicht noch voll Tränen, welche die Drohungen der Alten ihr entlockt hatten, aber ihre Tränen nahmen ihr nichts von ihrem Liebreiz. Der Prinz versuchte sie zu trösten und versicherte sie, daß sie mit der Geschicklichkeit, mit der sie begabt sei, unfehlbar die Wohltaten der Königin im Überfluß auf sich häufen werde. Das arme Mädchen war indes durch die Menge des Jagdgefolges so verwirrt, daß es kaum die Hälfte von dem verstand, was man ihm sagte. Die Mutter sah sie scheiden, ohne den geringsten Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen, die Dorfbewohner dagegen fanden, daß sie nicht hinreichend große Augen hätten, um sie inmitten der goldbetreßten Herren anzugaffen. Sie wußten von den Untergebenen des Prinzen, daß man sie zur Königin führe, und alle Bäuerinnen des Dorfes beneideten sie um ihr Los.

Im Schlosse angekommen, stellte der Prinz die Schöne, die, wie er unterwegs erfahren hatte, Rosanie hieß, der Königin, seiner Mutter, als die geschickteste und eifrigste Spinnerin des ganzen Landes vor. Die Königin empfing sie gütig, betrachtete sie aufmerksam und lobte höchlich die bescheidene und rührende Anmut, mit der sie ausgestattet war, was gewissen Damen des Hofes, die auf ihre vollendete Schönheit stolz waren, nicht geringe Demütigung bereitete. Die Königin ließ Rosanie in einem Flügel wohnen, der eine über und über mit Haufen kostbarsten Flachses vollgestopfte Zimmerflucht enthielt. Man teilte Rosanie, gleich als ob dies eine angenehme Nachricht für sie sei, mit, daß sie unter all dem Flachs nur zu wählen brauche, mit welchem sie beginnen wolle; und man fügte hinzu, daß ihr das eigentlich gleichgültig sein könne, weil sie jung und geschickter sei als jede andere, und die Königin, die sie für lange bei sich behalten und ihr viel Gutes tun wollte, wünschte, daß sie alle Vorräte aufarbeitete.

Als das arme Mädchen allein war, überließ es sich dem heftigsten Schmerz: Rosanie hatte eine derart unüberwindliche Abneigung gegen das Spinnen, daß sie die Verpflichtung, auch nur einige Stunden mit dieser Arbeit zuzubringen, für eine entsetzliche Strafe hielt. Sie sah keinen



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Ausweg aus ihrer Verlegenheit, in die sie die Bosheit ihrer Mutter verstrickt hatte, und doch war sie froh, den Händen dieser Mutter entrissen zu sein, die nichts als barbarische Härte für sie übrig hatte. Die ersten Tage zwar gelang es ihr, durch allerlei Entschuldigungen den Beginn der verhaßten Arbeit hinauszuschieben, aber diese erregten schließlich den Argwohn ihrer zahlreichen Neiderinnen am Hofe, die sie bei der Königin zu verdächtigen suchten. Die Furcht, daß ihr Unvermögen über kurz oder lang aufkommen würde und sie dann die Freuden des Hofes verlassen müßte, um in das Haus ihrer unmenschlichen Mutter zurückzukehren, trieb sie so weit, daß sie beschloß, durch einen Sprung von einem hochgelegenen Pavillon herab den Tod zu suchen.

Während sie auf dem Pfade dahinschritt, der zu dem Pavillon führte, sah sie plötzlich einen großen braunen Mann in reicher Kleidung vor sich stehen, der seine von Natur finsteren Gesichtszüge zu einem anmutigen Lächeln verzerrte, als er zu ihr sprach: »Wohin geht Ihr, mein schönes Kind? Mir scheint, ich sehe Tränen aus Euren Augen strömen, sagt mir, was schmerzt Euch so? Es müßte seltsam sein, wenn ich Euch nicht helfen könnte.«

»Ach«, entgegnete Rosanie, »es gibt kein Mittel gegen den Kummer, der mich bedrückt, daher ist es unnütz, daß ich Euch den Grund meiner Sorge angebe.«

»Vielleicht«, versetzte der Unbekannte, »ist die Hilfe nicht ganz so fern, wie Ihr meint, aber zum mindesten erleichtert man seinen Schmerz dadurch, daß man ihn erzählt.« Rosanie öffnete also dem Unbekannten ihr Herz und sagte ihm alles, was sie zur Verzweiflung trieb.

»Da seht«, sprach jener, als sie geendet hatte, »dieses Stäbchen, das ich in der Hand halte. Nehmt es in die Eure!« Rosanie nahm das Stäbchen und betrachtete es: es war sehr klein, aus einem graubraunen polierten Holze, dessen Namen man nicht angeben konnte, und geziert mit einem bunt schillernden Stein, der aber keiner bekannten Sorte zugehörte.

Nachdem Rosanie dieses Stäbchen eine Zeitlang angeschaut hatte, gab sie es in die Hände des Fremden zurück, der zu ihr sagte: »Ihr seht wohl dieses Stäbchen. Es hat wunderbare Eigenschaften. Wenn Ihr damit den Hanf und den Flachs berührt, so wird jede beliebige Menge davon täglich gesponnen werden, und das so fein, wie Ihr selber es wünscht. Ich will Euch dieses Stäbchen für drei Monate leihen, vorausgesetzt, daß Ihr mit dem einverstanden seid, was ich Euch sage. Heute über drei



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Monate werde ich wiederkommen, um mein Stäbchen zurückzufordern, dann müßt Ihr zu mir sagen, wenn Ihr es mir gebt: Hier, Ricdin-Ricdon, nehmt Euer Stäbchen! Dann werde ich das Stäbchen nehmen, ohne daß Ihr irgendwelche Verpflichtungen einzugehen braucht. Aber wenn Ihr Euch an dem bestimmten Tage meines Namens nicht mehr erinnert und einfach sagt: Hier, nehmt Euer Stäbchen! so werde ich Herr Eures Geschickes sein und werde Euch überall hinbringen, wohin es mir gefällt, und Ihr werdet genötigt sein, mir zu folgen.« Rosanie überlegte sich einige Zeit, was sie antworten solle, aber der Name Ricdin-Ricdon schien ihr so leicht zu behalten, daß sie kein Wagnis zu unternehmen glaubte, wenn sie die willkommene Hilfe des Stäbchens annahm. Sie hatte schon eine geheime Vorfreude an dem Vergnügen, das sie empfinden würde, wenn sie den Stolz ihrer Mitbewerberinnen durch die schönen Fäden, die sie damit hervorzaubern sollte, demütigen würde. Endlich sagte sie: »Herr Ricdin-Ricdon, ich bin mit dem Vertrag, den Ihr mit mir abschließen wollt, einverstanden.« »Aber Ihr müßt schwören!« sagte der Fremde.

»Nun gut, ich schwöre es mit den unverletzlichsten Eiden!«

»Es ist gut«, sagte Ricdin-Ricdon, »daß Ihr mir das Versprechen in so feierlicher Form gegeben habt. Euer Diener, Schönste, und auf Wiedersehen!« Mit diesen Worten drückte er ihr das Stäbchen in die Hand und entfernte sich.

So vergingen die nächsten drei Maonte in unaufhörlichen Freuden. Die Arbeit, die das Stäbchen verrichtete, war so über alles Lob erhaben, daß sie der Jungfrau die höchste Zufriedenheit der Königin eintrug, welche sie am Hofe in höchsten Ehren hielt. Der Prinz, der seinen Schützling vom ersten Zusammentreffen an geliebt hatte, zeigte ihr bei jeder Gelegenheit seine innigste Zuneigung, die sie im nämlichen Maße erwiderte.

Indessen war Rosanie trotz aller Freuden des Hofes und der Liebe von einer geheimen Unruhe beseelt, welche sie kaum verbergen konnte. Ihr Kummer wurde aber durch die Untreue ihres Gedächtnisses verursacht; sie merkte nämlich, daß der Termin, den der Mann mit dem Stäbchen bestimmt hatte, um das kostbare Holz zurückzufordern, von Tag zu Tag näherrückte, und der wunderliche Namen des Fremden kam ihr nicht mehr in den Sinn. Vergeblich machte sie seit einiger Zeit tausend Anstrengungen, um ihn sich ins Gedächtnis zurückzurufen, es war umsonst. Dabei wußte sie, daß ein unverletzbarer Eid sie zwang, wenn sie sich des Namens nicht wieder erinnern würde, dem Entleiher des Stäbchens überallhin zu folgen, wohin er sie führen wollte.



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Eines Tages ritt ihr junger Liebhaber auf die Jagd, um sich des Kummers zu erwehren, den ihm der seiner Liebsten bereitete. Mehr mit seinen Träumereien als mit der Verfolgung des Wildes beschäftigt, trennte er sich von seinem Gefolge und kam unter ständigem Grübeln so weit in die Irre, daß die Nacht ihn überraschte, ehe er seine Leute wiedergefunden hatte. Gerade ritt er über eine öde Heide, auf der sich ein in Trümmern liegendes, unbewohnbar erscheinendes Schloß erhob, da bemerkte er auf einmal viele Lichter darin. Er näherte sich den Fenstern der Säle, die alle offenstanden und zerbrochen waren, und blickte durch die Bäume, die sie umgaben, hindurch. In violettem Schein sah er da mehrere Leute von abschreckendem Äußern und in wunderlicher Kleidung. Mitten unter ihnen befand sich ein Mann mit schwarzbrauner ausgetrockneter Haut und grimmigem Gesichtsausdruck, der wilde Blicke um sich warf; doch schien er sehr vergnügt zu sein, denn er sprang und tanzte mit erstaunlicher Gelenkigkeit umher. Der Prinz fühlte ein geheimes Schaudern beim Anblick dieser schrecklichen Gestalten, und er zweifelte nicht, daß er Bewohner der Hölle vor sich habe, deren Macht er fürchten mußte. Da hörte er den Schwarzbraunen mit fürchterlicher Stimme sagen:

»Wenn das junge hübsche Mädchen,
das nur Kinderspiele weiß,
hätt' in seinem Sinn behalten,
daß Ricdin-Ricdon ich heiß,
käm sie nicht in meine Schlingen.
Doch nun ist die Schöne mein,
denn das Wort fällt ihr nicht ein.«

Rosanie verzehrte sich indes in tödlicher Unruhe. Von Stunde zu Stunde sah sie den gefürchteten Augenblick näherkommen, da der Herr des Stäbchens vor sie treten würde, um das kostbare Holz zurückzufordern, und da sie nicht imstande war, sich des Namens des Unbekannten zu erinnern, sah sie sich verloren.

Unterdessen hatte sich der Prinz in einem Zweikampf eine Verwundung zugezogen und mußte das Bett hüten. Um ihn zu zerstreuen, versammelte sich die Hofgesellschaft an seinem Lager, und auch Rosanie leistete ihm einige Stunden des Tages Gesellschaft. Als sie eines Tages allein mit ihm im Zimmer war, erzählte er ihr sein nächtliches Erlebnis und unterließ es auch nicht, die Verse des wunderlichen Mannes zu wiederholen. Als er die Worte, die er gehört, erwähnte, stieß Rosanie einen solchen Schrei aus, daß der Prinz zuerst erschrak, indessen beruhigte er sich, als sie mit lebhaften Gebärden freudiger Eregung ausrief:



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»Der Himmel sei gelobt für die unermeßliche Güte, die er mir erweist!« Der Prinz erkundigte sich nach dem Sinn dieser Worte, und Rosanie erzählte ihm in wenigen Worten ihr Abenteuer mit dem Stäbchen und konnte sich von ihrem Schrecken kaum erholen, als sie erfuhr, daß der Mann, dem sie zu folgen versprochen hatte, ein Dämon sei, denn etwas Derartiges hatte sie nie geahnt.

Kaum war Rosanie wieder in ihrem Gemach, als man ihr meldete, daß ein schwarzgekleideter Mann mit ernsten Gesichtszügen sie sprechen wolle. Sie befahl, ihn eintreten zu lassen, und auf den ersten Blick erkannte sie in ihm den Mann mit dem Stäbchen. Obwohl sie seinen Namen wußte, machte sie doch sein Anblick erbeben, da sie daran dachte, wer der gefährliche Spender eigentlich sei. Ohne ein Wort zu reden, erhob sie sich, holte die Zauberrute und sagte zu ihm, indem sie ihm dieselbe zurückgab: »Hier, Ricdin-Ricdon, nehmt Euer Stäbchen!« Der böse Geist, der das nicht erwartet hatte, verschwand unter greulichem Geheul, da er sich betrogen sah, was ihm übrigens öfters passiert. Kurz darauf wurde die Hochzeit des Prinzen mit Rosanie gefeiert, der um so weniger Schwierigkeiten entgegenstanden, als sich herausstellte, daß dieselbe gar keine Bauerntochter, sondern ein Sproß aus edlem Hause war. Rosanie verlebte eine lange Spanne von Jahren mit dem Prinzen in überaus zufriedener Ehe und in einem vollkommenen Glück.


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