ÜBER POLYDACTYLIE
BEIM MENSCHEN
UND BEI TIEREN
REKTORATSREDE
GEHALTEN AN DER 80. STIFTUNGSFEIER
DER UNIVERSITÄT BERN
AM 28. NOVEMBER 1914
VON
PROF. DR. TH. OSCAR RUBELI
BERN
AKADEMISCHE BUCHHANDLUNG VON MAX DRECHSEL 1915
BUCHDRUCKEREI
FR. HAGGENMACHER LAUPEN :: BERN
Hochgeehrte Anwesende!
Ein hervorragender Kenner der Tierwelt —Leuckart — hat
den tiefsinnigen Ausspruch getan: "Lebensäusserung und
Bau verhalten sich zu einander wie die zwei Seiten einer
Gleichung; man kann keinen Faktor, auch nicht den kleinsten
verändern, ohne die Gleichung zu stören."1) In diesem
Satze ist ein Naturgesetz ausgesprochen. In der Tat offenbart
sich allenthalben in der belebten Natur ein harmonischer
Ausgleich zwischen Funktion und Form, eine stets wiederkehrende
Abhängigkeit zwischen Bedürfnis und Organ. Die
Gesetzmässigkeit dieses wechselseitigen Verhältnisses bildet
geradezu das am meisten charakteristische an Allem,
was mit Leben begabt ist. So braucht es uns denn nicht
sonderlich zu wundern, wenn wir dieser Gesetzmässigkeit
nicht bloss in der körperlichen Oekonomie von Pflanze
und Tier begegnen, sondern wenn sich ihr Ausdruck auch
in der staatlichen Evolution der menschlichen Gesellschaft
wiederfinden lässt. An unserer Universität tritt sie in augenscheinlicher
Weise hervor. Wir finden hier, dass Zuwachs
des Wissens eine proportionale Spezialisierung und Aufteilung
der Geistesarbeit zur Folge hat und von einem Bedürfnis
entsprechender Personalvermehrung begleitet ist.
Dafür liefert uns eine gedrängte statistische Uebersicht über
die Entwicklung unserer Hochschule und ihres Lehrkörpers
in den jetzt gerade vergangenen 80 Jahren ein nützliches und
aktuelles Beispiel:
Im W. S. 1834/35 lehrten an den damals vorhandenen
vier Fakultäten im ganzen 34 Professoren, und zwar an der
theologischen Fakultät 6, an der juristischen 5, an der medizinischen
8, an der philosophischen 13 und an der Veterinärabteilung
der medizinischen Fakultät 2.
Gegenwärtig dozieren an den 6 Fakultäten unserer Universität
im Ganzen 85 ordentliche und ausserordentliche
Professoren, nämlich an der evangelisch-theologischen 7, an
der katholisch-theologischen 5, an der juristischen (mit der
Abteilung für Handel, Verkehr und Verwaltung) 17, an der
medizinischen 19, an der veterinär-medizinischen 6, an der
ersten Abteilung der philosophischen Fakultät 17 und an der
zweiten Abteilung derselben 18. Es hat sich demnach die Zahl
der Professoren an der medizinischen Fakultät verdoppelt,
an der juristischen, philosophischen und veterinär-medizinischen
verdreifacht.
Berücksichtigen wir speziell die Naturwissenschaften und
die Medizin, jene Wissensgebiete, die im Laufe der letzten
Jahrzehnte gewaltige Bereicherung erfahren haben, so kommt
dieses Gesetz noch prägnanter zum Ausdruck. Mathematik
und Naturwissenschaften hatten im Jahre 1834 an unserer
Hochschule 5 Vertreter, von denen 4, nämlich die Professoren
Fried. Trechsel, Maximilian Perty, Karl Brunner und Bernhard
Studer in je zwei und drei verschiedenen Disziplinen
unterrichteten. Heute sind es 21 Hochschullehrer, die sich
in diese Gebiete teilen; ja wir finden sogar, dass in einer
Einzeldisziplin jetzt doppelt soviele Professoren tätig sind,
als zur damaligen Zeit in sämtlichen naturwissenschaftlichen
Gebieten sich beschäftigten. In der Medizin verhält
es sich ähnlich. Wir brauchen z. B. blos die Bakteriologie,
die Chirurgie und die Entwicklungsgeschichte des Menschen
und der Tiere zu erwähnen, um uns alsbald des ausserordentlichen
Zuwachses bewusst zu werden.
Wir ersehen aus dieser gedrängten Darstellung, dass
sich unsere Hochschule den jeweiligen Zeiterfordernissen anzupassen
vermocht hat, und es wird ihr dies auch in Zukunft
möglich sein, ergeben sich doch beim Ausbau der Universität
mit Einbezug neuer Wissensgebiete zahlreichere und innigere
Beziehungen zu allen Volksschichten.
Die oben angedeutete Spezialisierung und Aufteilung
der Geistesarbeit führt nun dazu, dass es dem einzelnen
Fachmann schwer fällt, aus seinem Wissensgebiet ein Thema
in einer Rede abzuhandeln, dass ein allgemeines Interesse
abzugewinnen vermag. In Erwägung dieser Tatsache, bitte
ich denn auch die folgenden Mitteilungen aus einem Grenzgebiet
der Anatomie, Entwicklungsgeschichte und Pathologie
nachsichtig beurteilen zu wollen. Es schwebt mir der Wunsch
vor, an einem besonders geeigneten Beispiel aus meinem
eigenen Arbeitsgebiete den eingangs betonten gesetzmässigen
Zusammenhang zwischen Funktion und Form näher zu illustrieren.
Zu den bekanntesten und wegen ihrer Beziehungen zu
phylogenetischen Fragen ausserordentlich interessanten Anomalien
gehören überzählige Finger und Zehen beim Menschen
und bei Tieren. Bekanntlich ist die Grundform der Säugetierextremität
fünfstrahlig, gebildet aus einem mittleren längsten
und je zwei nach beiden Seiten hin sukcesive kürzer
werdenden Strahlen. Die so in Orgelpfeifenordnung ausgebildeten
Finger finden sich an der menschlichen Hand
und an der Greif-, Kletter- und Grabextremität mancher
Tiere. Bei der Flug- und Schwimmextremität treffen wir eher
gleichlange Strahlen an und die Gehextremität der recenten
Ungulaten zeichnet sich durch die mehr oder weniger starke,
beim Pferd bis auf eine einzige ausgebildete Zehe vorgeschrittene
Reduktion aus. Es stehen demnach die Fingerzahlverhältnisse
bei Mensch und Pferd in einem gewissen Gegensatz,
insofern, als die Pentadaktylie der menschlichen Extremität
den durchschnittlichen Säugetiercharakter getreuer zur
Schau trägt, als die monodaktyle Gliedmasse des Pferdes.
Mit Hinweis auf die Tatsache, dass die ältesten Pferdevorfahren
Sohlengänger waren, gelingt es uns mit Leichtigkeit, die
Kluft zwischen beiden durch folgendes einfache Experiment
zu überbrücken: Unsere flach aufliegende Hand gibt die
Verhältnisse wieder, wie sie dem pentadaktylen Sohlengänger
eigentümlich sind. Durch ein leichtes Aufrichten der Extremität
um etwa 45° deutet sich bereits eine Lockerung des
ersten und des fünften Fingers gegenüber der Unterlage an.
Bei vollkommener Steilstellung verlieren auch der zweite und
der vierte Finger die Kontinuität mit der Unterlage und es
resultiert daraus ein Verhalten, wie es beim Pferd bis zur
Rückbildung der seitlichen Zehen vorhanden war. Offenbar
ist die Monodaktylie des Equidenfusses durch bestimmte Veränderungen
der Bodenverhältnisse herausgezüchtet worden;
der festen Bodenbeschaffenheit der Prärielandschaft entspricht
der einzehige Pferdefuss in derselben Weise, wie das mehrfach
gespaltene Gliedmassenende anderer Tiere für eine weiche,
sumpfige Bodenbeschaffenheit zweckdienlich ist.
Die Extremität der weit zurückliegenden Säugetiervorfahren
hatte, wie angenommen wird, mehr als fünf Strahlen
besessen. Gegenbaur 1) vermutet, dass die Wirbeltiergliedmasse
ihren Ausgang von einem flossenartigen Lokomotionsorgan
genommen hat. Durch Ausbildung bestimmter Radiengruppen
der Urflosse und Rückbildung anderer, sind die
verschiedenen Extremitätenformen entstanden.
Nun kommt es bei Tieren und auch beim Menschen
nicht gar selten vor, dass die für die derzeitige Art bestehende
Normalzahl der Finger und Zehen überschritten wird.
Ueber diese Abnormität, die Polydaktylie, sind in den letzten
Jahren zahlreiche Abhandlungen erschienen; sie sind indessen
recht ungleichwertig, indem eine relativ grosse Zahl
wesentlich nur die Skelettverhältnisse berücksichtigt und
die Weichteile, speziell die Muskeln, vernachlässigt. In
neuester Zeit hat nun Ballowitz 2) diese Lücke durch Veröffentlichung
einer grössern Zahl, zum Teil selbst beobachteter,
zum Teil aus der Literatur sorgfältig zusammengestellter
Fälle ausgefüllt und unsere Kenntnisse über die
Genese der Polydaktylie beim Menschen lichtvoller gestaltet.
Wenn er auch keine neue Betrachtungsweise über diese
Abnormität angebahnt hat, so wird es doch möglich sein,
genauer als bisher auf die Unterschiede hinzuweisen, welche
die einzelnen Formen der Polydaktylie des Menschen und
der Säugetiere auf Grund ihrer Genese von einander trennen.
Vor Darwin wurde die Polydaktylie des Menschen, die
schon im Altertum bei Neugebornen nicht selten beobachtet
worden ist, zu den Monstrositäten gezählt. Darwin 1) glaubte
jedoch im Auftreten überzähliger Finger einen "Rückschlag
auf einen enorm entfernten und niedrig organisierten vielfingerigen
Urahn" zu erblicken. Er stützte sich bei dieser
Ansicht auf folgende Beobachtungen und Ueberlegung: Einmal
wollten englische Aerzte gesehen haben, dass in utero
amputierte Arme und postembryonal entfernte Finger in gewisser
Ausdehnung wieder nachgewachsen waren, woraus
Darwin auf ein Regenerationsvermögen beim Menschen, wie
es niedere Wirbeltiere besitzen, schloss; dann vererbe sich
die Polydaktylie mit "merkwürdiger Stetigkeit" und es bestände
eine latente Neigung zur Bildung eines überzähligen
Fingers bei allen Säugetieren und beim Menschen. In der
Folge wurde die Ansicht, dass die pentadaktyle Extremität
des Menschen und der Säugetiere von einer pleiodaktylen
Urform abzuleiten sei, von vielen Forschern geäussert. Man
suchte nun nach Rudimenten dieser früher vorhandenen, im
Laufe der Zeit dann verloren gegangenen anderen Strahlen
und zwar sowohl am innern, radialen als auch am äussern,
ulnaren Rande der Hand und des Fusses. Born 2) erblickte
in den kleinen Knöchelchen an der radialen Seite des Anurenfusses
eine 6. Zehe. Bardeleben 3) zählt die Vermehrung
von Fingern und Zehen zu den Atavismen und postuliert
eine heptadaktyle Urform. Die bei vielen, besonders schwimmenden
und grabenden Säugetieren am Rand von Hand
und Fuss vorkommenden, zum Teil schon von Cuvier als
Sesambeine oder Sehnenknochen beschriebenen Knochen
deutet Bardeleben als Rudimente eines ersten und eines
siebenten Strahles. Der erste, von ihm als Präpollex, bezw.
Prähallux bezeichnet, wäre nach dieser Ansicht beim Menschen
in den Knochen der innern Seite der Handwurzel und der
Mittelhand, bezw. der Fusswurzel und des Mittelfusses enthalten.
Als Rudiment des siebenten Fingers erklärt er das äusserste
Handwurzelknöchelchen, das os pisiforme, und von der siebenten
Zehe seien noch Ueberreste im Fersenbein enthalten. Zu
der Ansicht Bardelebens bekennen sich auch Kehrer, 1) Rijkebusch, 2)
Spronk, 3) und andere. In neuester Zeit hat Wiedersheim 4)
seine bisherige Meinung, die mit jener Bardelebens
ebenfalls übereinstimmte, geändert. Er erklärt: "Ich habe
die am äussern und innern Rand der Hand und des Fusses
knorplige oder knöcherne Skelettelemente früher mit Bardeleben
als letzte Reste einer ursprünglich 6-7 fingerigen
Grundform aufgefasst und dieselben mit dem eben genannten
Autor als Praepollex und Praehallux, resp. Postminimus bezeichnet.
Von der Deutung dieser Gebilde als atavistische
Merkmale bin ich gänzlich zurückgekommen und vertrete mit
andern die Meinung, dass jene überzählige Strahlen, mag es
sich dabei um ein Vorkommen bei niederen oder höheren
Vertebraten handeln, als Konvergenzerscheinungen im Sinne
einer progressiven Entwicklung zu betrachten sind."
Ueber die in Frage stehenden Knochen sind die verschiedensten
Ansichten geäussert worden. Emery 1) zeigte,
dass der wulstige Fortsatz an der innern Seite der Hand
beim Springhasen (Pedetes capensis), auf den Bardeleben zur
Stütze seiner Lehre besonders Gewicht legte, einen zu einem
Grabwerkzeug umgebildeten Tastballen darstellt Tornier 2)
konnte nachweisen, dass die auf der innern Seite des Fusses
bei den Raubtieren Procyon, Ursus und Lutra sitzenden
Knöchelchen sich postembryonal entwickeln, und vermutet
deshalb, dass es sich um Anpassungen, d. h. auf physiologischem
Wege entstandene Neuerwerbung, nicht aber um
eine atavistische Bildung handle.
Eine vermittelnde Stellung in dieser Frage nimmt Carlsson
3) ein. Nach ihm kommen bei vielen Säugetieren an
der innern Hand- und Fusseite überzählige Skeletteile vor,
die in Bezug auf Muskel-, Gefäss- und Nervenverhalten mit
normalen Fingern genau übereinstimmen. Diese sind nach
ihm in Neubildung begriffene Finger-, bezw. Zehenanlagen.
In andern Fällen trifft man wirkliche Sesambeine an. Daraus
folgert Carlsson, dass zwischen Sesamknochen und gewöhnlichen
Skelettknochen keine unübersteigliche Kluft bestehe.
Die Argumente, welche zur Lösung der Frage, ob und
welche accessorische Elemente als primäre zu betrachten
seien, verwendet wurden, sind zunächst histiogenetischer
Natur. Die meisten Accessoria entstehen in der Ontogenie
knorplig. In diesem Umstand sieht Thilenius 4) einen Beweis
für ihre Abstammung vom primären Skelett. Dies allein
kann indessen, wie Braus 1) richtig hervorhebt, nicht genügen,
denn es sind uns mancherlei Stellen des Körpers bekannt,
wo Knorpel auftritt, ohne dass an einen direkten Zusammenhang
mit primären Skelettanlagen gedacht werden kann,
z. B. in den Sehnen der Extremitätenmuskeln. Im Gegensatz
zu Thilenius glaubt Emery, dass die bindegewebig sich
differenzierenden Sesambeine Vorstufen sind, auf welche bei
höherer Ausbildung Knorpel- und .Ersatzknochenbildung
folgen würde. In ihnen sieht also Emery Gebilde, die in
progressiver Entwicklung begriffen sein sollen. Die Lösung
dieser ausserordentlich wichtigen Frage hängt, wie Braus
erwähnt, mit der bis jetzt noch nicht gelungenen Feststellung
des Vorknorpelgewebes zusammen. Es kommt darauf an,
ob die gemeinsame Grundlage der betreffenden Skelettstücke
wirklich aus primärem skelettogenem Material besteht und
nicht etwa eine sekundäre Brücke zwischen heterogenetischen
Elementen darstellt. Dazu braucht es aber neuer, verbesserter
Untersuchungsmethoden.
Einen gewaltigen Schritt vorwärts in der Beurteilung
der Polydaktylie des Menschen brachten uns die Arbeiten
Gegenbaurs. 2) Gegen die Darwin'sche Ansicht, dass diese
Anomalie beim Menschen an einen Zustand erinnere, wie
er sich bei Fischen und Ichthiopterygiern zeigt, macht Gegenbaur
aufmerksam auf den unendlich weiten Weg, der von
jenen Tieren bis zu den Säugern hinüberführt und auf die
kolossale Umgestaltung, die sich sogar bei den in der Vererbung
konservierten Skeletteilen der Gliedmassen geltend
gemacht hat. Er erinnert daran, dass selbst bestehende
Homologien bis in die neueste Zeit noch nicht erkannt
worden sind. "Die Pleiodaktylie niederer Wirbeltiere beeinflusst
das gesamte Gliedmassenskelett und hängt mit der
Gestaltung der ganzen Gliedmasse und von da aus wiederum
mit dem Verhalten des Gesamtorganismus zusammen. Wollte
man die Polydaktylie des Menschen als Atavismus verstehen
können, dann müssten dem Gesetze der Korrelation gemäss
auch die andern Teile der Gliedmasse atavistisch affiziert
erscheinen. Zudem erschwert die überaus unbeständige Lage
der überzähligen Finger und Zehen, Beziehungen zu einem
alten Hand- oder Fusstypus zu finden." Gegenbaur unterscheidet
scharf zwischen Polydaktylie, bei der die Fünfzahl
der Finger überschritten wird oder nicht. Erstere gehört
nach ihm unzweifelhaft zu den Monstrositäten, letztere kann
in gewissen Fällen atavistisch sein, d. h. in jenen Fällen,
wo bei Gliedmassen, die normal weniger als fünf Finger
tragen, die Verhältnisse bei der Vermehrung letzterer sich
genau gestalten, wie sie der Atavus dieses Tieres zeigte.
In Bezug auf die Erblichkeit der Polydaktylie, der Darwin
besonderen Wert für seine Hypothese beilegte und die von
spätem Autoren, die der atavistischen Auffassung huldigten,
als beweisend angenommen wurde, stellt Gegenbaur fest,
dass sie von vielen Missbildungen, die gar nicht als Rückschläge
in Betracht kommen können, bekannt sei. Er
selbst beobachtete einen Fall von erblichem Schlüsselbeindefekt.
Mit diesen Ausführungen Gegenbaurs waren die Gründe
für die Meinung Darwins in der Hauptsache hinfällig geworden,
das letzte Argument betreffend die Regeneration
amputierter Finger hatte bereits Rüdinger 1) als unrichtig
hinstellen können. Aber auch die auf schwachen Füssen
stehende Bardeleben'sche Theorie der heptadaktylen Urform
der Säugetierhand hat durch die neuesten Forschungsergebnisse
von Rabl 1) und Shitkov 2) einen schweren Stoss erlitten.
Gestützt auf umfassende Untersuchungen an urodelen
Amphibien, Schildkröten, Krokodiliern und rhynchocephalen
Eidechsen kommt Rabl zum Schlusse, dass die fünffingerige
Extremität der Amphibien und der höheren Wirbeltiere aus
Formen mit einer geringeren Zahl von Strahlen, d. h. zwei
oder schliesslich einem einzigen Strahl hervorgegangen sei.
Zum gleichen Resultat führen Shitkovs Untersuchungen bei
Salamandrella Keyserlingii. Hier kommt also eine geradezu
diametral entgegengesetzte Meinung zum Ausdruck.
Bei dem gegenwärtigen Stande unserer Kenntnisse betreffend
die Skeletteile der Wirbeltiergliedmasse, lässt sich
weder die Ansicht Darwins noch diejenige Bardelebens aufrecht
erhalten. Damit verliert natürlich auch die auf ihnen basierende
Lehre, dass die Polydaktylie des Menschen eine atavistische
Bildung sei, alle Wahrscheinlichkeit. Aber auch die übrigen
anatomischen Verhältnisse sprechen mehr gegen, als für sie.
Wäre die Polydaktylie des Menschen eine atavistische Bildung,
so dürfte man bei der engen Korrelation zwischen Knochensystem
und Muskulatur wohl erwarten, dass, wenn sie am
Skelett sehr prägnant zum Ausdruck kommt, auch die mit
den überzähligen Skelettstücken in Zusammenhang stehenden
Muskeln atavistische Anklänge zeigen würden. Das ist nun
aber, wie Ballowitz in seiner oben erwähnten Arbeit festgestellt
hat, durchaus nicht der Fall. Auch bei sehr vollkommener
Polydaktylie des Skelettes mit Verdopplung der
Mittelhand-, bezw. Mittelfussknochen trifft man nur Spaltungen
und Vermehrungen der gewöhnlichen, auch sonst dem Gliede
zukommenden Sehnen und Muskeln an, worauf früher schon
Geoffroy St. Hilaire 1) hingewiesen hat. Kommen ausnahmsweise
Muskelabnormitäten vor, so tragen sie keinen vergleichend-anatomisch
atavistischen Charakter und finden sich
auch an nicht polydaktylen Gliedmassen wieder. Ballowitz
findet, dass die atavistische Anschauung auch durch die Befunde
an den Weichteilen in keiner Weise eine Stütze erhält
und für die Polydaktylie des Menschen unhaltbar wird. Ein
weiteres, ausserordentlich wichtiges Argument gegen Bardelebens
Theorie bildet die Tatsache, dass, wie Zander 2) gezeigt
hat, die überzähligen Finger und Zehen gar nicht an
jenen Stellen auftreten, wo sich die vermeintlichen Rudimente
des ersten und des siebenten Strahles befinden, vielmehr
sind sie in den meisten Fällen nur in ihren äussern Abschnitten
ausgebildet, von denen Rudimente an der normalen
menschlichen Extremität gar nicht existieren.
Fragen wir nun, ob es sich vielleicht um eine Varietät,
die einmal in der zukünftigen Stammesentwicklung ein normaler
Befund sein wird, also eine Varietät mit prospektiver
phylogenetischer Bedeutung handeln könne, so müssen wir
bei der Beurteilung dieser Bildungen noch vorsichtiger sein,
als bei jenen der Atavismen. Es ist bekannt, dass beim
Menschen und bei Tieren gewisse Organe sich auf dem
Wege der Rückbildung befinden. In Varietäten kann man
den Weg, welchen diese Rückbildung in Zukunft nehmen
wird, mitunter angedeutet finden. So ist die Zahl der Rippen
in Reduktion begriffen. Als Atavismus trifft man beim
Menschen mitunter 13 Rippen an. Wenn nur 11 Rippen vorkommen,
so könnte man darin einen Zukunftszustand erblicken.
In ähnlicher Weise könnte man etwa angeborenen Haarmangel
oder das gelegentliche Fehlen des Wurmfortsatzes am Blinddarm
beurteilen. Unter allen Umständen müsste jedoch eine
genaue anatomische Untersuchung beweisen, dass alle andern
Möglichkeiten ausser Betracht fallen. (Schwalbe). 1)
Von den bekannten Fällen der Polydaktylie beim Menschen
könnte nach dieser Richtung hin der von Pfitzner 2)
mitgeteilte, verwertet werden. Bei der Verdopplung der
fünften Zehe hatte, nach Pfitzner, die Grundphalanx des
Innern Zwillings die Form, die für die binnenständigen Zehen
charakteristisch ist, während diejenige des äusseren Zwillings
die spezifische Form der Grundphalanx der kleinen Zehe
sogar in übertriebener Ausbildung erkennen lässt. Die Umbildung
der Grundphalanx der fünften Zehe ist jedoch eine
für die menschliche Spezies charakteristische Eigentümlichkeit,
die mit dem aufrechten Gang in Zusammenhang gebracht
wird. Diese spezifische Eigentümlichkeit, die in der
Spezies zustande gekommene Neuerwerbung, vererbt sich
bei den vorliegenden Missbildungen nur auf den äussern
Zweig, während der innere nur die altererbten, nicht der
Spezies eigentümlichen Merkmale enthält. Die Beobachtung
von Pfitzner zeigt uns also, dass, selbst wenn wir annehmen,
die Spaltung der Zehe sei durch mechanische Einwirkung
zustande gekommen, die beiden entstehenden Spaltstücke
nach anderem Plane gebaut sind, was nur durch Momente
der Selbstdifferenzierung bedingt sein kann. (Schwalbe).
Eine weitere Frage, die uns, sobald wir die Polydaktylie
des Menschen, im Sinne der Grosszahl neuerer Forscher,
zu den teratologischen Bildungen zählen, zu beschäftigen
hat, betrifft die kausale Genese derselben. Wir können bekanntlich
als Ursachen der Missbildungen im Allgemeinen
solche hervorheben, die schon in der Entwicklungsrichtung
vorhanden sind, d. h. also in den Keimzellen vor der Befruchtung
enthalten sind, oder die Ursachen treffen das Ei
bei der Befruchtung oder während seiner weitern Entwicklung
nach derselben. "Diese Einteilung, die eine zeitliche
Begrenzung als Prinzip annimmt, stimmt prinzipiell mit der
bisher üblichen Einteilung überein. Eine zuverlässige Trennung
von innern und äussern Ursachen lässt sich nicht
geben: wir schliessen auf innere, wenn wir keine äussern
kennen, die Veranlassung zur betreffenden Missbildung hätten
sein können. Dass eine Missbildung aus innern Ursachen
entsteht, wird wahrscheinlich, wenn wir zeigen können, dass
dieselbe auch bei Eltern und Grosseltern oder bei einem
Vorfahren vorhanden war und ferner, dass dieses Verhältnis
der Erblichkeit bei der betreffenden Missbildung sich erfahrungsgemäss
häufig findet." (Schwalbe). 1) Bei der Polydaktylie
ist nun die Erblichkeit bekannt. Barfurth 2) hat
durch konsequente Inzucht polydaktyler Bastarde von normalzehigen
Hühnerrassen neue polydaktyle Rassen erzielt und
umgekehrt durch konsequente Inzucht normalzehiger Bastarde
von normalzehigen Hühnerrassen die Missbildung wieder ausgemerzt.
Ganz analoge Fälle sind vom Menschen bekannt,
Potton 3) erzählt, dass in einem vom Verkehr abgeschlossenen
Dorfe im Departement d'lsère, in welchem die Ehen zwischen
Verwandten sehr häufig waren, fast alle Einwohner an jeder
Hand 6 Finger und an jedem Fuss 6 Zehen hatten. Als
durch bequemeren Verkehr die Ehen mit normalen Leuten
aus benachbarten Ortschaften mehr und mehr zunahmen,
wurden die überzähligen Finger und Zehen der neugebornen
Kinder allmählich kleiner und kleiner und verschwanden
schliesslich ganz.
Durchaus übereinstimmend lässt sich Haeckel 4) vernehmen:
"Es kommen," schreibt Haeckel, "nicht selten
menschliche Familien vor, in denen mehrere Generationen
hindurch 6 Finger an jeder Hand oder 6 Zehen an jedem
Fusse beobachtet werden. Seltener sind Beispiele von Siebenzahl
oder von Vierzahl der Finger und Zehen. Die ungewöhnliche
Bildung geht immer zuerst von einem einzigen Individuum
aus, welches aus unbekannten Ursachen mit einem
Ueberschuss über die gewöhnliche Fünfzahl der Finger und
Zehen geboren wird und diesen durch Vererbung auf einen
Teil seiner Nachkommen überträgt. in einer und derselben
Familie kann man die Sechszahl der Finger und Zehen
durch drei, vier und mehr Generationen hindurch verfolgen.
in einer spanischen Familie waren nicht weniger als vierzig
Individuen durch diese Ueberzahl ausgezeichnet. In allen
Fällen ist die Vererbung des sechsten überzähligen Fingers
oder der sechsten überzähligen Zehe nicht bleibend und
durchgreifend, weil die sechsfingerigen Menschen sich immer
wieder mit fünffingerigen vermischen. Würde sich eine sechsfingerige
Familie in reiner Inzucht fortpflanzen, würden die
sechsfingerigen Männer immer nur sechsfingerige Frauen
heiraten, so würde durch Fixierung dieses Charakters eine
besondere sechsfingerige Menschenart entstehen. Da aber
die sechsfingerigen Männer wieder fünffingerige Frauen heiraten
und umgekehrt, so zeigt ihre Nachkommenschaft
meistens sehr gemischte Zahlenverhältnisse und schlägt
schliesslich nach Verlauf einiger Generationen wieder in die
normale Fünfzahl zurück. So können z. B. von 8 Kindern
eines sechsfingerigen Vaters und einer fünffingerigen Mutter
2 Kinder an Händen und Füssen 6 Finger und 6 Zehen
haben, 4 Kinder gemischte Zahlenverhältnisse und 2 Kinder
überall die gewöhnliche Fünfzahl. in einer spanischen Familie
hatten sämtliche Kinder bis auf das Jüngste an Händen
und Füssen die Sechszahl; nur das Jüngste hatte überall
fünf Finger und fünf Zehen und der sechsfingerige Vater
des Kindes wollte dieses letzte daher nicht als das seinige
anerkennen."
Ueber weitere ähnliche Fälle berichten Pfitzner 1), Marchand
2) u. A. (Vergl. auch Schwalbe). 3)
Schwieriger verständlich als die Vererbung einer vorhandenen
Polydaktylie ist das erste Auftreten einer solchen.
Förster 4) nimmt an, dass sie offenbar auf einer Verdopplung
der Keimanlagen der einzelnen Finger und Zehen beruhe.
Ziegler 5) Pott 6) und Fackenheim 7) zählen die Polydaktylie
zu den vererbbaren Missbildungen, welche ursprünglich als
Keimesvariationen auftreten. Marchand 8) zieht sowohl innere
als äussere Ursachen in Betracht, ebenso Pitschi 9) Nach
Ahlfeld, 10) dem sich Zander, 11) Kitt, 12) Taylor 18) und Ballowitz
14) anschliessen, beruht die Verdopplung auf einer Spaltung
der Extremitätenanlagen, hervorgerufen durch Amniosfalten
oder Simonart'sche Bänder. Ahlfeld 1) hat dieser Annahme
durch den Befund an einem Kinde, dessen Daumen
gespalten war und an seiner Trennungsstelle noch einen
amniotischen Faden besass, eine wichtige tatsächliche Grundlage
gegeben. Ballowitz 2) schreibt dazu: "Die häufig symmetrisch
auftretende Polydaktylie und ihre Erblichkeit sind
kein absoluter Gegenbeweis. Denn man kann sich vorstellen,
dass ein abnormes Amnion als causa efficiens vererbt wird
und dass an ihm symmetrische Falten auftreten können.
Auch ist die Annahme nicht widerlegt, dass in frühen, indifferenten
Embryonalstadien erworbene Eigenschaften, wenigstens
durch einige Generationen hindurch, vererbt werden
können"! Die von Ballowitz 3) betonte bilaterale Symmetrie
der Polydaktylie wurde von Pott 4) und Fackenheim 5) als
Beweis gegen die Lehre der Spaltung durch Amnionfäden
angeführt. Letztere beiden Forscher erinnern auch daran,
dass es Fälle gibt, wo nicht nur ein, sondern mehrere überzählige
Strahlen vorhanden sind. Diesen Einwand sucht
Zander 6) durch die Annahme zu entkräften, dass man hier
nicht eine Spaltung einzelner Finger oder Zehen, sondern
der noch undifferenzierten Extremitätenanlage in zwei gleiche
oder ungleiche Teile und Ausbildung der jedem Teile zufallenden
Finger-, bezw. Zehenanlagen annehmen müsse.
Eine ganz zuverlässige Auskunft über die Entstehung
der Polydaktylie erhalten wir durch das Experiment. Wie
die Versuche Barfurths 7) und Torniers 8) ergeben haben,
lässt sich an Triton experimentell unschwer Polydaktylie erzeugen,
die auf dem Wege der Superregeneration zu stande
kommt. Wenn man z. B. an der fünffingerigen Extremität
eines Tritons die Zehen bis auf die mittlere fortschneidet,
so tritt Polydaktylie auf. Es ist, wie diese Forscher angeben,
nur nötig, den Schnitt bis tief in die Fusswurzel zu machen
und die beiden Unterschenkelknochen mit zu verletzen. Indessen
lassen die Ergebnisse bei niederen Wirbeltieren nicht
ohne weiteres einen Schluss auf Säugetiere zu und es sind
auch die Bedingungen und Ursachen bei Entstehung von
Missbildungen auf natürlichem Wege oft andere als im Experiment.
In ausserordentlich einfacher Weise erklärt Tornier das
Zustandekommen überzähliger Gliedmassen und einzelner
Finger, bezw. Zehen. Er nimmt an, dass bei Einwirkung
einer Kraft auf einen sich entwickelnden Skeletteil eine Verbiegung
mit nachfolgender Zerreissung an der konvexen oder
Zugseite, sofern die einwirkende Kraft genügend gross ist,
erfolgt und von da aus durch Regeneration ein neuer Teil
sich ausbilde. Beim Schwein sollen nun nach Tornier überzählige
Zehen stets so entstehen, "dass das erste Fusswurzelknöchelchen
durch eine auf dasselbe von untenher drückende
Kraft, die es zu verbiegen strebt, seiner Länge nach in zwei
Abschnitte zersprengt wird, wodurch in ihm zwei Wundflächen
entstehen, die einander zugekehrt sind. Diese beiden
Sprengstücke können wieder mit einander verwachsen oder
getrennt bleiben, an ihren Wundflächen Knorpel bilden und
zusammen articulieren. Liegen die beiden Wundflächen weit
auseinander, so versucht jede von ihnen eine überzählige
Zehe zu erzeugen, aber nur der relativ freieren gelingt das,
das Regenerat der andern wird dagegen von dem anderseitigen
unterdrückt und der Fuss enthält demnach eine
einzige überzählige Zehe. Klafft endlich die Wunde sehr
stark, so erzeugt jede Wundfläche eine solche."
In Bezug auf die Bildung eines überzähligen Fingers
an der Menschenhand, konnte er in einem von ihm beobachteten
Falle bei einem Kinde folgendes konstatieren: Am
Mittelhandglied des Daumens war durch Druck von der
Innenseite her eine Epiphysenabscherung nach aussen zu
stande gekommen, worauf sich innen eine neue Epiphyse
und daran zwei Phalangen ausgebildet hatten. Ganz ähnliche
Fälle hat er beim Axolotl und bei den Kröten Pelobates und
Bufo gesehen. Durchaus übereinstimmend gestaltet sich
ein Fall Inhelders, 1) wo am linken Fuss der fünfte Mittelfussknochen
eine doppelte distale Epiphyse mit zwei Zehen
aufwies, während der nämliche Knochen rechterseits von
seiner Mitte an sich gabelte und zwei Zehen trug. Ueber
andere analoge Fälle berichtet auch Ballowitz. 2) Für gewisse
Fälle der Polydaktylie des Menschen kann uns die Erklärung
Torniers befriedigen, für andere nicht. Torniers Erklärung
ist hinfällig, wenn die überzähligen Strahlen von Anfang an
keine Skeletteile besitzen; ebenso wenn es sich um erbliche
Polydaktylie handelt, weil uns sichere Anhaltspunkte über
die Vererbung erworbener Eigenschaften einstweilen noch
fehlen.
Wir müssen nach dem Gesagten die Polydaktylie
des Menschen in zwei Gruppen sondern:
einmal gehört sie zu den Missbildungen, hervorgerufen durch
äussere Ursachen, wie Einschnürung vermittelst Amniosfalten
und -Fäden (Ahlfeld, Zander, Barfurth) oder Epiphysenabscherung
(Tornier), andererseits ist sie neogenetisch,
durch irgend eine innere Ursache hervorgebracht.
Zu den inneren Ursachen zählen die verschiedenen Forscher
die "Keimesvaration"(Ziegler), das erodierende Wachstum"
(Taylor, Geoffroys, St. Hilaire, Gurlt), der "embryonale
Bildungsreiz" (Kitt), sowie "eine dem Keime anhaftende
Eigentümlichkeit" (Marchand), alles Begriffe, denen, wie
Zander bemerkt, schwer beizukommen ist. Eine unserem
Verständnis etwas näher liegende Hypothese hat Martin
Heidenhain 1) aufgestellt, die Hypothese der Biosysteme.
Ausgehend von der Ansicht, dass sich der Organismus aus
einer Reihe verschiedenartig gestalteter, übrigens ungleichwertiger
morphologischer Individuen zusammensetzt, welche
wiederum aus morphologischen Individuen niederer Ordnung
aufgebaut sind, kann man eine Stufenfolge morphologischer
Individualitäten unterscheiden, welche einander teils beigeordnet,
teils übergeordnet oder ineinander geschachtelt sind.
"Die Merkmale dieser Individuen liegen darin, dass sie auf
Grund ihres systematisch geordneten inneren Aufbaues bei
weiterem Wachstum sich selber ähnlich bleiben, ferner durch
Teilung oder Knospung fortpflanzungsfähig oder wenigstens
in der Embryonalanlage im indifferenten Zustande spaltbar
sind, so dass auf diese Weise eine Vermehrung der Individuenzahl
möglich ist." Diese Individualitätsstufen Heidenhains
entsprechen weder denen Haeckels noch denjenigen
Oscar Hertwigs. Hertwig 2) findet, dass nur solche Körperteile
morphologische Individuen sein können, welche auf dem
Wege der Zeugung, entweder durch Teilung oder Knospung
ihren Ursprung nehmen, und er will dieses Vermögen auf
diejenigen Teilsysteme eines Organismus beschränken, von
welchen die freilebenden Homologa bekannt sind. Heidenhain
dagegen stützt sich auf die Tatsache, dass das Vermögen
der Fortpflanzung oder Vermehrung durch Teilung, Spaltung,
Knospung etc. vielfach auch solchen Teilsystemen des Körpers
zu eigen ist, welche unter den freilebenden Personen
des Tierreichs der Sache nach noch keine Homologa haben
können. Er erinnert an die Spaltbarkeit der Chromosomen,
der Mikrozentren, der Myo- und Neurofibrillen etc., dann an die
Teilung der Kerne, der Muskelprimitivbündel, Muskeln, Sehnen,
Nerven, Skeletteile, Drüsen usw. An den Fingern ist die
Anlage nicht nur in Längs-, sondern auch in querer Richtung
spaltbar; letzteres kommt vor bei Walen und fossilen Sauriern
und kann zu einer langen Kette von Phalangen führen. Die
Längsspaltungen sind bei vereinzeltem Vorkommen Abnormitäten,
aber sie repräsentieren unter anderem zugleich auch
jene Form der Variation, auf deren Basis eventuell natürliche
Auslese erfolgen kann.
Die angedeutete Heidenhain'sche Hypothese der Biosysteme
gibt für die Fälle der wirklichen Skelettspaltung,
die mit einer gewissen Regelmässigkeit einhergeht, einen
Einblick in den entwicklungsmechanischen Grundvorgang,
lässt uns aber leider in Bezug auf den Anstoss zur Spaltung
völlig im Unklaren.
Untersuchen wir nun die Polydaktylie bei den
Säugetieren, so ist einleuchtend, dass dabei wesentlich
die Haustiere in Betracht fallen, weil wir von wildlebenden
Tieren nur wenig Material besitzen. Bei den Tieren können
wir drei Gruppen unterscheiden. Der ersten Gruppe
gehören die Fälle an, in denen überzählige Finger, bezw.
Zehen ganz in gleicher Weise, wie beim Menschen, durch
mechanische Ursachen von ihren im übrigen normalen Nachbarn
durch Spaltung oder Sprossung hervorgegangen zu
denken sind. Es ist gleichgiltig, ob die Spaltung oder
Sprossung die in Funktion stehenden Zehen oder die ausser
Funktion gesetzten, sich sonst normal verhaltenden rudimentären
oder sog. Afterklauen betroffen hat. Diese nicht erbliche,
oft auch nur an einer einzigen Gliedmasse vorkommende
Polydaktylie kommt bei allen Haustieren vor, immerhin
viel häufiger bei Ungulaten, als bei Carnivoren.
Auffällig ist der sozusagen ausschliessliche Sitz der überzähligen
Zehe beim Schwein an der innern, radialen Seite
des Fusses, so dass bei oberflächlicher Betrachtung der sonst
vollkommen zurückgebildete Daumen vorzuliegen scheint. In
der grossen Mehrzahl der Fälle hat jedoch der Mittelhandknochen
des überzähligen Strahles keine Verbindung mit
dem ersten Handwurzelknochen und seine Sehnen stammen
von Muskeln des zweiten Fingers her. Ich zähle demnach
die von Gegenbaur, 1) Gurlt, 2) Tornier, 3) Tempel, 4) Cramer, 5)
G. Meyer 6) u. A. beschriebenen Fälle, für die nicht ausdrücklich
das Vorhandensein eines Daumens hervorgehoben wird,
zu den teratologischen Bildungen. Wesentlich ist hierbei,
dass der überzählige Finger stets drei Phalangen besass,
während der Daumen bekanntlich nur zwei hat. Sind aber
auch nur zwei Phalangen vorhanden, so kann, wie Gegenbaur
betont, aus diesem Tatbestand allein nicht geschlossen
werden, dass der betreffende Finger wirklich der Daumen
sei, denn Verkümmerungen an überzähligen Fingern und
Zehen sind zur Genüge bekannt.
Zu der zweiten Gruppe zählen wir die erbliche,
bilateral symmetrische Polydaktylie, die ihre Entstehung
innern Ursachen verdankt. Sie ist bei vielen
Tieren zu beobachten und wird sogar als Rassezeichen bei
Hunden gezüchtet. Bemerkenswert ist ihr Vorkommen an
den flossenähnlichen Schultergliedmassen der bekanntlich
auffällig abgeänderten Wassersäugetiere. Kükenthal 7) fand
am äussern Rand des Ruderfusses von Zahnwalen einen
Strahl, welcher normalerweise allen Landsäugetieren fehlt.
Offenbar handelt es sich um eine progressive Bildung, die
als funktionelle Anpassung an den Meeresaufenthalt in gleicher
Weise zu beurteilen ist, wie die Vermehrung der Phalangen
dieser Tiere. Kükenthal zog mit Recht die Ichthyosaurusflosse,
bei der auch mehr Phalangen und Strahlen vorhanden
sind, zum Vergleich heran, wodurch letztere als schönes Beispiel
einer Konvergenzerscheinung ihre Würdigung findet. Wie
beim Menschen, so fehlt auch bei den Walen eine Verbindung
des neuen Strahles mit dem accessorischen l-landwurzelknöchelchen.
Zu dieser Gruppe zählen wir ferner die als typisches
Rassezeichen vorhandene sog. "doppelte Wolfsklaue" der
Bernhardinerhunde, die ab und zu auch bei der Tibetdogge,
beim ungarischen Schäferhund und seltener bei andern Hunderassen
angetroffen wird, dann eine Anzahl der beim Schwein
vorkommenden Fälle der Mehrzehigkeit und ebenso die durch
Barfurth bei Haushühnern gezüchtete Polydaktylie. In Bezug
auf letztere hat Barfurth 1) durch das Experiment bewiesen,
dass die überzählige Zehe in strenger Uebereinstimmung mit
dem Mendel'schen Gesetz vererbt wird. Die früher erwähnten
Haeckel'schen Angaben lassen vermuten, dass dies auch
beim Menschen der Fall ist.
Die wegen ihrer phylogenetischen Bedeutung uns hauptsächlich
interessierende dritte Gruppe ist diejenige der
atavistischen Bildungen. Bei einigen Ordnungen der
Säugetiere, besonders ausgedehnt bei den Huftieren, ist es
bekanntlich im Laufe der phylogenetischen Entwicklung zu
einer Verminderung der in Funktion stehenden Zehen gekommen,
indem in Anpassung an in gewisser Richtung gesteigerte
Anforderungen nur ein Teil der Zehen in Funktion
erhalten und hier entsprechend weitergebildet wurde, während
der Rest einen regressiven Entwicklungsgang einschlug, zum
Teil rudimentär wurde, zum Teil völlig verschwand. Ein klassisches
Beispiel hiefür liefert das Pferd. Der fast lückenlose,
durch Beiträge von Marsh, 1) Cope, 2) Osborn, 8) Cuvier, 4) Rütimeyer 5)
u. A. nachgewiesene Stammbaum des Pferdes ist
deshalb auch die stärkste Stütze für die Descendenzlehre
geworden, weil er darzutun vermag, dass die grossen
Unterschiede, die in der Gegenwart die einzelnen Ordnungen
der Säugetiere von einander trennen, geringer werden, je
weiter wir zurückgehen. Wir treffen dann auf Ueberreste von
Formen, welche die Merkmale der Gruppen, die jetzt scharf
von einander getrennt sind, noch miteinander vereinigen.
Man kann nun die Beobachtung machen, dass die rudimentären
Zehen der Huftiere sich manchmal mächtig entwickeln
und nicht nur in ihrer Grösse, sondern auch in
ihrem Bau den funktionierenden Zehen nahekommen. Durch
die so zu stande kommende palingenetische Polydaktylie
treten dem Umfang und Baue nach annähernd jene Extremitätenformen
zu Tage, welche in der betreffenden Tierreihe
aus phylogenetisch frühern Perioden bekannt geworden sind.
Es kann jedoch, wie schon erwähnt, auch bei Huftieren
eine Vermehrung der Zehen Platz greifen, ohne dass es sich
um Atavismus handelt. Leider ist es noch nicht gelungen,
bei den uns bekannten Fällen vom Pferd eine einwandfreie
Abgrenzung zwischen beiden Arten zu machen, denn was
die einen als Atavismus hinstellen, erklären die andern als
Missbildung und umgekehrt. Es wird daher nicht befremden,
dass dieser Anomalie in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit
geschenkt wurde und dass vergleichende Anatomen
und Pathologen sich bemühen, den wirklichen Sachverhalt
klarzulegen.
Die Polydaktylie beim Pferd, bei welchem Rückschläge,
infolge der weitgehendsten Reduktion der Zehen, mit viel
grösserer Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind, als bei irgend
einem andern Tier, ist schon im 17. Jahrhundert von Aldrovandi 1),
Winter von Adlersflügel 2), Plot 3) und Schmucken 4)
gesehen und als Kuriosität beschrieben worden. Goethe 5)
deutete sie "als ein gelegentliches Durchschlagen des Typus,
der allen Säugetieren ursprünglich mehrere Zehen zudiktierte
und auch da, wo er sich auf eine einzige habe herunterhandeln
lassen, sein ideelles Fortbestehen gern einmal in
Gestalt einer scheinbaren Abnormität dokumentiere."
Als dann der Stammbaum des Pferdes bekannt geworden
war, wurde sie von allen damaligen Autoren einfach zu den
Atavismen gezählt. Erst als Gegenbaur 6) im Jahre 1880
gegen diese Auffassung Front machte, und Boos 7) die beschriebenen
Fälle einer strengen sachlichen Kritik unterwarf,
schied die Mehrzahl als teratologische Bildungen aus. Wie
es nun oft geschieht, verfielen jetzt manche Autoren in das
andere Extrem. So behauptet Ries 8), dass die Didaktylie
beim Pferd, wo neben der Hauptzehe nur eine Nebenzehe
auftritt, als Missbildung, vergleichbar der Hexadaktylie des
Menschen, aufzufassen sei und will nur der Tridaktylie, bei
der die zweite und die vierte Zehe gleichzeitig wiederum in
Erscheinung treten, in Wirklichkeit den Wert eines paläontologischen
Atavismus beimessen.
Es ist nicht leicht, das vorhandene weitschichtige Material
sachgemäss zu ordnen, denn je nach subjektiver Wertung
gewisser Merkmale für die Beurteilung der Polydaktylie treffen
wir alle möglichen Darstellungen und Ansichten an. In
neuester Zeit haben Reinhardt 1) und Lindemann 2) alle Fälle
der Polydaktylie des Pferdes aus der Literatur zusammengetragen
und gesichtet. Aus den sehr verdienstlichen Arbeiten
geht hervor, dass von den bis heute bekannten hundert
Fällen wenigstens 65 unbestritten in das Gebiet der Teratologie
gehören, die übrigen 35 Fälle erfahren eine ganz
verschiedene Beurteilung. Merkwürdigerweise gibt es keinen
einzigen Fall, bei dem nicht irgend ein Einwand gegen die
Deutung als Atavismus gemacht worden ist. Wären diese
Einwände berechtigt, dann müssten alle bis heute beobachteten
Fälle der Polydaktylie beim Pferd, entgegen der Ansicht von
Gegenbaur 3), Boas 4) u. A. zu den Missbildungen gezählt
werden. Einer solchen Auffassung können wir unmöglich
beistimmen, wir wollen deshalb die von neuem Forschern
vorgebrachten Argumente gegen unsere Ansicht einer kurzen
kritischen Betrachtung unterziehen.
Wir entnehmen den Arbeiten Reinhardts 5) und Lindemanns 6,
dass in der Regel die Schultergliedmassen, äusserst
selten dagegen die Beckengliedmassen Sitz der Abnormität
sind und dass in der grossen Mehrzahl der Fälle nur eine
Zehe und zwar die zweite in Erscheinung tritt. Die gleichzeitige
Ausbildung der zweiten und der vierten Zehe ist im
Ganzen nur sechsmal beobachtet worden.
Die sehr auffällige Erscheinung, dass die Polydaktylie
des Pferdes in 77 % der Fälle an den Schultergliedmassen
angetroffen wird, könnte ihre Erklärung in dem Umstande
finden, dass in allen Klassen der Wirbeltiere Rückbildungen
ihren Ausgang von den Beckenextremitäten nehmen. Bei
Fischen erscheint die Hintergliedmasse auf dem Wege allmählicher
Rückbildung begriffen und hat nur noch eine geringe
funktionelle Bedeutung, wie ihr gänzliches Verschwinden
bei einigen Abteilungen der Knochenfische bezeugt. Bei
Dinosauriern bleiben am Fusse nur noch die drei mittleren
Zehen in Funktion, während die marginalen verschieden
starke Reduktion aufweisen. In der Säugetierreihe tritt uns
dieses Phänomen bei Tieren verschiedener Ordnungen entgegen.
Der äusserlich völlige Schwund der hintern Gliedmasse
bei Cetaceen ist bekannt. Bei Landtieren scheint die
Zehenreduktion mit der Aufrichtung der Extremität aus der
plantigraden in die digitigrade Stellung einherzugehen. Schon
unter den Beuteltieren macht sich infolge dieses Umstandes
eine Reduktion der Zehen von der innern Seite des Fusses
aus geltend und es bleibt schliesslich die vierte allein in
Funktion. Bei vielen Hunderassen ist die grosse Zehe vollständig
zurückgebildet, während der Daumen, wenn auch
rudimentär, noch vorhanden ist. In allen diesen Fällen betrifft
die Reduktion nicht nur das Skelett, sondern auch die
Muskulatur. Nun zeigen die Muskeln der Beckengliedmasse
bei den Ungulaten, in extremis beim Pferd, eine weiter vorgeschrittene
Reduktion, als die der Schultergliedmasse. Wir
dürfen daraus schliessen, dass die Vorfahren des Pferdes
ihre seitlichen Zehen zuerst an den Hintergliedmassen abgeworfen
haben und hieraus erklärt sich das häufigere Vorkommen
der Polydaktylie an den Schulterextremitäten.
Prüfen wir nun den Einwand Ries 1), dass die Didaktylie
des Pferdes als Missbildung zu deuten sei, so scheint mit
Hinweis auf die Tridaktylie der jüngsten Pferdevorfahren
demselben eine gewisse Berechtigung zuzukommen. Die im
obern Miozän in Europa, Asien, Nordafrika und Nordamerika
gefundenen Skelette vom Hipparion zeigten bekanntlich drei
Zehen, die mittlere fussend, die beiden seitlichen schwächer
und kürzer. Allein die Rückbildung der einzelnen Strahlen
ist nicht gleichmässig fortgeschritten. Leuthardt 1) findet die
Reihenfolge der Zehen hinsichtlich ihrer Rückbildungsphase
bei den Mesaxonen 2, 4, 5, 1, bei den Paraxonen 5, 2, 1.
Nach ihm würde also das Pferd zuerst die 1., dann die 5.,
dann die 4. und zuletzt die 2. Zehe vollkommen verlieren.
Die Richtigkeit der Leuthardt'schen Auffassung wird durch
die an Skeletten jüngerer Hipparionarten gemachten Befunde
des Paläontologen Zittel 2) bestätigt. Zittel erwähnt, dass
er bei vielen Extremitäten dieser Tiere eine ausgebildete
zweite Zehe angetroffen habe, während die vierte keine
Phalangen mehr besass. Damit steht unserer Ansicht, dass
die Didaktylie des Pferdes eine atavistische Bildung sei, nichts
entgegen. Dass in seltenen Fällen die vierte Zehe wieder
erscheint, wird uns nicht überraschen, denn die Natur lässt
sich nicht in starre Formen zwingen.
Einer sonderbaren Auffassung, der Reinhardt 3) in seiner
im allgemeinen vortrefflichen Abhandlung über Polydaktylie
des Pferdes Raum gewährt, sei hier gedacht. Reinhardt
glaubt, dass das Vorkommen einer atavistischen und einer
zu den gewöhnlichen Missbildungen gehörenden Polydaktylie
an einem und demselben Pferde unmöglich sei. Er deutet
aus diesem Grunde einen von ihm selbst beobachteten Fall,
in welchem die überzählige Zehe sowohl im Skelett als auch
in der Muskulatur der zweiten Zehe entspricht, als Missbildung.
Wir können Reinhardt entgegenhalten, dass Boas 4)
ähnliche Fälle beschrieben hat und sie ausdrücklich als
Rückschläge bezeichnet. Es ist nicht einzusehen, warum die
eine Art der Polydaktylie die andere ausschliessen sollte,
da es sich doch in beiden Fällen um Abnormitäten handelt
und solche sehr oft an mehreren Organen gleichzeitig auftreten.
Ja Boas und Wehenkel 1) hatten Gelegenheit zu sehen,
dass bei Entwicklungsstörungen der Hauptzehe, die Nebenzehen
ein excedierendes Wachstum aufwiesen. Hier sind diese
also vikariierend für die verkümmerte Hauptrede eingetreten.
Schwieriger, als die soeben erwähnten Einwände zu entkräften,
ist die Beantwortung der Frage, ob es Rückschläge
gibt, die auf die ältesten fossilen Pferdevorfahren hinweisen?
In der Literatur finden wir im ganzen vier Fälle, die in
dieser Richtung verwertet werden könnten. Sie sind von
Pütz 2), Gaudry. 3), Lesbre 4) und Wehenkel 5) beschrieben
worden. Während Pütz die Beurteilung seines Falles den
Anatomen überlässt, vertreten Boas, Gaudry, Wehenkel,
Prentiss 6) und Reinhardt 7) die Ansicht, dass hier Atavismus
vorliege. Lindemann 8) schreibt dagegen: "Beim prähistorischen
Equiden finden wir alle fünf Metapodien nur bei
Eohippus in Europa und Phaenacodus primaevus in Amerika,
bei denen der zweite bis fünfte Finger ausgebildet waren
und einzig der Daumen keine Fingerglieder mehr besass.
Orohippus hatte auch noch vier ausgebildete Finger, der
erste Mittelhandknochen war aber bereits verschwunden.
Somit könnten diese Fälle nur Rückschläge auf den ältesten
Equiden bedeuten, wobei alle jüngern Pferdevorfahren übersprungen
worden wären. Ein solcher Atavismus wäre aber
doch sehr merkwürdig! Aber selbst wenn man die Möglichkeit
eines derartigen Rückschlages zugibt, so müsste man erwarten,
dass der vierte und fünfte Mittelhandknochen noch
zehentragend oder doch verhältnismässig stark ausgebildet
wären, was hier nicht der Fall ist. Daher zähle ich diese
Fälle zu den Missbildungen." Dies die Ansicht Lindemanns.
Wohl ist es merkwürdig, dass der erste Mittelhandknochen
wieder erscheint, während die in den Pferdestammformen
später verschwindenden auswärts, vom Hauptstrahl stehenden
Finger in ihrem rudimentären Zustande verharren. Indessen
ändert dies an der Tatsache nichts, dass, sobald die anatomische
Untersuchung das Vorhandensein eines zweiten
Fingers und eines ersten Mittelhandknochens ergibt, es sich
um Atavismus handelt. Es ist nicht zu erwarten, dass in
Reduktion begriffene Organe und namentlich dann, wenn
sie bereits durch mehrere Generationen hindurch funktionslos
gewesen waren, bei Rückschlägen übereinstimmende Ausbildung
erlangen, denn das häufige Variieren ist für solche
Körperteile charakteristisch.
Einen andern Einwand gegen die Deutung der in Frage
stehenden vier Fälle als atavistische Bildungen haben Arloing 1)
und Lesbre 2) erhoben. Nach ihrer Ansicht müsste beim
Wiederauftreten des zweiten Fingers der am Mittelhand-Fingergelenk
sitzende sog. Sporn verschwinden und die sog.
Kastanie, jene an der Innenseite des Unterarms bezw. Mittelfusses
vorhandene Hornschwiele, eine Dislokation und Verkleinerung
aufweisen. Rousseau 3), Goubaux 4), Arloing 5),
Lesbre 1), Franck 2) u. A. betrachten nämlich diese Gebilde als
rudimentäre Hüfchen und zwar die Kastanie als Rudiment
des ersten, den Sporn als Rudiment des zweiten und fünften
Fingers. Eine Anzahl anderer Forscher bekämpft jedoch
diese Theorie. Ewart 3), Yoschida 4) und Zietschmann 5)
konnten nachweisen, dass Kastanie und Sporn weder in
ihrem Bau noch in ihrer Entwicklung etwas gemeinsames
mit dem Huf erkennen lassen; sie treten viel später auf als
dieser und haben keine Beziehungen zum Skelett. Auch
englische Zoologen traten gegen die Hüfchentheorie auf.
Beddard 6), Lyddeker 7) und Flower 8) sehen in ihnen umgewandelte
Drüsen- oder Tasthaarapparate, und Richard
Owen 9) vermutet, dass sie mechanischen Einwirkungen ihre
Entstehung verdanken, wie z. B. die Liegeschwielen bei Camelus.
Eine einleuchtende, den anatomischen, entwicklungsgeschichtlichen
und phylogenetischen Verhältnissen gleichmässig
Rechnung tragende Deutung verdanken wir Ewart 3),
Yoschida 4) und Zietschmann 5), welche die Kastanie des
Pferdes als rudimentären Hand- resp. Fussballen, den Sporn
als rudimentären Finger- resp. Zehenballen auffassen. Es
wären also Gebilde, die den Fuss- bezw. Zehenballen der
Carnivoren homolog sind. Sie stellen Ueberreste dar aus
jener Zeit, in der die Pferdevorfahren, als niedliche Tierchen
von der Grösse eines Fuchses, noch Sohlengänger waren.
Gestützt auf eigene Untersuchungsergebnisse pflichte ich der
Ansicht der letztgenannten Forscher bei und stelle mich daher
bei der Beurteilung der erwähnten Fälle auf die Seite Boas,
Prentiss und Reinhardt, welche sie als Rückschläge ansehen.
Die atavistische Polydactylie ist von Gurlt 1), Boas 2),
und Voirin 3) auch beim Rind konstatiert worden. Stoss 4)
und ich hatten Gelegenheit, eine dem Daumen entsprechende
Zehe beim Schwein zu sehen. In der Regel ist die Mehrzehigkeit
bei den Ruminanten und vor allem aus beim Schwein jedoch
eine teratologische Bildung. Als Ursache derselben
nimmt Tornier die Epiphysenabscherung mit nachfolgender
Superregeneration an (siehe pag. 19). Nach ihm gestaltet
sich die an der Schulterextremität häufigste Form der Polydactylie
beim Schwein so, dass die radialwärts vorhandenen
überzähligen Zehen den Charakter einer dritten und vierten
Zehe besitzen, dass demnach bei einem sechszehigen Fusse
die Zehen folgende Reihenfolge haben: Dig. 4' D. 3' D. 2
D. 3 D. 4 D. 5.
Für die Ansicht Torniers, dass infolge eines Druckes
eine Epiphysenabscherung und daraufhin Superregeneration
eintritt, können folgende bei der Mehrzehigkeit häufig anzutreffende
Befunde verwertet werden: 1) der Ursprung der
überzähligen Zehe an einem partiell oder total gespaltenen
Handwurzelknochen oder an den Epiphysen der Mittelhandknochen,
2) die Doppel- und Mehrfachbildungen überzähliger
2)
J. E. V. Boas, Ein Fall von vollständiger Ausbildung des 2.
und 5. Metacarpale beim Rind, Morpholog. Jahrb. 16. Bd. Leipzig 1890,
pag. 530.
Glieder, 3) ihre häufigen Verkrümmungen und Verbiegungen
nach der volaren Seite hin, 4) die oft bedeutenden Grössenunterschiede
dieser Glieder und 5) das Persistieren von
Interdigitalmembranen (sog. Schwimmhäuten).
Diese Befunde sind nicht geeignet, an eine Zehenspaltung
durch Amnionfäden zu denken. Die Missbildungen, bei denen
man Amnionfäden angetroffen hat, sind zurückzuführen auf
das Offenbleiben normalerweise sich schliessender Spalten
oder auf Einschnürung einzelner Körperteile. Hierher gehören
beispielsweise die Gesichts- und Backenspalten etc.,
dann die Einschnürungen an den Gliedmassen und die Syndactylie,
alles Deformitäten, die man gewöhnlich als Hemmungsbildungen
zu benennen pflegt, während die Polydactylie zu
den Excessbildungen gehört.
Der Druck auf die Extremitäten während ihrer Entwicklung,
rührt zweifellos von dem engen, wenig Flüssigkeit enthaltenden
Amnion her. Er macht sich stärker auf die
Schulter- als auf die Beckenextremität geltend, weil erstere
im Bereich des frühzeitig zu einem voluminösen Organ sich
ausbildenden Herzens ihre Anlage haben. Hieraus erklärt
sich auch das sehr viel häufigere Vorkommen der Mehrzehigkeit
an jener Gliedmasse. Tempel 1) konstatierte die
Polydactylie des Schweines in 83 % der Fälle an der Schulterextremität.
Dass hierbei fast ausnahmslos die marginalen
Strahlen betroffen werden, rührt wohl daher, dass sie bei
der Drehung der Extremitäten in die bei allen Haustieren
bleibende Pronationsstellung der Abscherung mehr ausgesetzt
sind, als die einwärts stehenden.
Gegen die Tornier'sche Hypothese ist nun geltend gemacht
worden, dass sie die Entstehung der überzähligen
Glieder auf eine zu späte Zeit der embryonalen Entwicklung
verlege. Nach Ahlfeld 2) würde "der Beginn der Spaltung
zur Zeit des Abhebens des Amnion anzunehmen sein, i. e.
am 12. oder 13. Tag der Entwicklung eines menschlichen
Fötus." Dabei sagt aber Ahlfeld nicht, ob es sich um eine
erbliche oder eine durch Trauma hervorgerufene, nicht erbliche
Polydactylie handelt. Um der Lösung dieser Frage
näher zu kommen, müssen wir vorerst genau zeigen können,
welche Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen der
Mehrzehigkeit bestehen. Darüber besitzen wir aber noch keine
zuverlässigen Angaben. Bestünden nun wirklich anatomische
Unterschiede zwischen diesen beiden Gruppen, so liesse sich
aus diesem Verhalten die teratogenetische Terminationsperiode
1) mit grösserer Sicherheit feststellen, als es jetzt der
Fall ist. Wenn ich Tornier und Barfurth 2) recht verstehe, so
würde die durch Druck und darauffolgende Superregeneration
hervorgegangene Polydactylie etwa zur Zeit der Gewebsdifferenzierung
oder im Vorknorpelstadium entstehen, während
Ahlfeld "eine Spaltung der noch nicht differenzierten Anlage
annimmt." Beide Möglichkeiten müssen zugegeben werden.
Ja es ist sogar wahrscheinlich, dass beim Menschen die
amniogene Polydactylie in einer frühern Periode entsteht,
als bei Ungulaten, da bei letztem das (Falten-)Amnion sich
bekanntlich erst am 16. oder 17. Tage schliesst.
Auf eine irrtümliche Auffassung Torniers sei hier hingewiesen.
Nach ihm soll beim Schwein "stets" das erste
Handwurzelknöchelchen zur Bildung des überzähligen Fingers
Veranlassung geben. Das ist durchaus nicht der Fall.
Gegenbaur 3) hebt ausdrücklich hervor, dass der Mittelhandknochen
des überzähligen Gliedes keine Verbindung mit
diesem Knöchelchen habe, sondern sich immer am zweiten
Handwurzelknochen ansetze. Einige Fälle der beim Schwein
gewöhnlich, ja fast ausschliesslich vorkommenden Art der
Mehrzehigkeit, die zu untersuchen ich Gelegenheit hatte,
bestätigen mir die Richtigkeit der Aussage Gegenbaurs vollauf.
Ich vermisste nämlich das Carpale I bei 12 polydactylen
Schultergliedmassen des Schweines 10 mal. Das überzählige
Glied sass hierbei am zweiten HandwurzeIknöchelchen,
welches entweder verbreitert oder partiell oder sogar
total gespalten war. Es scheint geradezu, dass das an normalen
Gliedmassen fast regelmässig vorhandene erste Handwurzelknöchelchen
bei der durch Superregeneration entstandenen
Polydactylie sich zurückbildet.
Ich komme zum Schlusse. in meinen Ausführungen,
die wesentlich nur eine allgemeine Orientierung über das
Gesamtgebiet des weitläufigen Themas darstellen und als
solche aufgefasst sein wollen, versuchte ich einige spezielle
Fragen näher zu beleuchten und unterwarf einzelne
davon einer sachlichen Kritik. Eine allgemein interessierende
Frage, auf die ich nicht ausführlicher eintreten konnte, betrifft
die Vererbung der Polydaktylie. Was uns zur Zeit
darüber bekannt ist, kann zu keinem abschliessenden Urteil
führen. Zweifellos wäre es sehr wichtig, das morphologische
und physiologische Verhalten hyperdactyler Landsäugetiere
genau zu kennen. Höchst bemerkenswert ist bei der erblichen -
Polydactylie die Tendenz, nach einigen Generationen
wieder in den Normalzustand zurückzukehren. Man darf
hieraus wohl schliessen, dass die Fingerzahl gewissermassen auf
die vorliegenden Bodenbeschaffenheitsverhältnisse abgestimmt
ist und dass eine weitere Umbildung bei den meisten Gruppen
der Säugetiere sich wahrscheinlich eher im Sinne einer Verminderung,
nicht in dem einer Vermehrung der Strahlen
vollziehe. Dieses Verhalten bei Landsäugetieren und die Vermehrung
der Strahlen und Phalangen bei Wassersäugern bestätigen
somit in vortreffilcher Weise den eingangs zitierten
denkwürdigen Ausspruch Leuckhart's: "Lebensäusserung
und Bau verhalten sich zu einander, wie die beiden Seiten
einer Gleichung."