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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


20. Ferraun und Athrajen

F Ferraun (oder Feraon) wurde größer und stärker und beherrschte mehr Volk und Land als alle Menschen vor ihm. Er war so groß und stark, daß er nicht auf einem Kamel, sondern auf vier Kamelen ritt. Er trug auf dem Kopfe als Schmuck eine steinerne Handmühle. Um zu trinken, pflegte er sich auf einen Berg zu setzen und seinen Bart nur in den Fluß unten zu halten. Der Bart reichte so weit herab, daß er den Boden des Flusses berührte und das Wasser sich aufstaute und zuletzt dem auf dem Berge sitzenden Feraon in den Mund floß. Ferraun ist auch der erste, der sich eine Albus machte (Kolbenkeule, genau albus athraijen; die vierkantige Debus ist dagegen eine arabische Waffe, eine Waffe der Menschen in der Ebene, nicht der Gebirgsbewohner). Die Albus Ferrauns war ein Baum, dessen Stamm ihm als Griff diente, während die Krone nur von Blättern und dünnen Ästen befreit war und so den Kolben darstellte.

Ferraun gewann die größte Gewalt über alle Menschen. Nie mehr ist jemand so gewaltig geworden wie Ferraun. Eines Tages aber traf Ferraun den Athrajen. Athräjen war ein Mann wie alle anderen.



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Er kam zu Ferraun und sagte: "Ich will Freundschaft mit dir schließen, lehre mich deine Stärke und Gewalt." Damals kannte noch niemand die Hinterlist und den bösen Willen. Niemand mißtraute dem anderen. Jeder teilte mit dem anderen. Ferraun lehrte dem Athrajen einen Teil seiner Kraft und Gewalt. Athräjen machte sich eine Albus ähnlich der Albus von Ferraun und folgte ihm auf seinen Wegen.

Als Athräjen schon vieles von der Kraft und Stärke Ferrauns gelernt hatte, fragte Athräjen eines Tages Ferraun: "Kannst du deine große Kraft und Stärke verlieren?" Ferraun sagte: "Ja, ich kann alle meine Kraft und Stärke verlieren. Es wird geschehen an dem Tage, an dem ich einen Tropfen Blut einbüße." Athräjen sagte: "Muß es Blut von irgendeinem Teile sein?" Ferraun sagte: "Es kann Blut aus jedem Gliede sein. Es ist ganz gleich." Ferraun und Athräjen lebten eine Zeit zusammen, und Athräjen lernte viel, aber nicht alles wie Ferraun.

Ferraun verließ nun einmal Athräjen und ging seinen eigenen Weg. Er kam an einen Ort. Er sagte zu den Leuten: "Ich bin Ferraun, gebt mir zu essen." Die Leute brachten ihm etwas. Ferraun schluckte es hinter und sagte: "Das war nichts. Gebt mir mehr zu essen. Ich bin Ferraun; ich möchte satt werden." Die Leute brachten alles Essen zusammen, was im Orte war, und setzten es vor Ferraun hin. Ferraun sagte: "Ich bin nicht satt. Ich bin Ferraun. Gebt mir mehr zu essen." Die Leute sagten: "Warte bis morgen. Heute haben wir nichts mehr. Wir wollen aber Mehl mahlen und dir viel Essen bereiten."

Ferraun sagte: "So sputet euch. Ich will aber weitergehen und werde euch mitnehmen; ihr könnt ruhig Essen bereiten." Ferraun fuhr mit der flachen Hand durch die Erde unter dem Dorf hin und hob das Dorf auf. Auf der flachen Hand das Dorf tragend, ging er dann weiter. An der Stelle aber, an der das Dorf gestanden hatte, wurde so ein großes, großes Tal; das füllte sich mit Wasser und ward der erste See Thamgurd (oder Thamgurth bei Bougie, zwischen Bougie und dem Djurdjura).

Ferraun ging mit dem Dorf auf der flachen Hand weiter. Er begegnete Athräjen. Athräjen sah das Dorf auf der flachen Hand Ferrauns und sagte zu Ferraun: "Du tust Schlimmes." Ferraun sagte: "Wenn das so schlimm ist, will ich dir, der du dir anmaßest, Richter zu sein, Schlimmeres tun!" Athräjen sagte: "Ja, du tust jetzt Schlimmes, und ich bin nicht damit zufrieden."



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Ferraun ward zornig. Er setzte das Dorf mit solcher Gewalt auf den Boden, daß es die sieben Erden durchbrach. (Nach kabylischer Anschauung besteht die Erde aus sieben flachen Erden sew[ejath mura[n] —, die übereinander liegen.) Athräjen aber schlug inzwischen nach Ferraun und traf und verwundete Ferraun am Schenkel, so daß Blut herausfloß. Ferraun fühlte Athrajens Schlag und packte Athräjen und wandte den Rest seiner Kraft dazu an, Athräjen wegzuschleudern. Ferraun sagte: "Du schlägst mich. Du wolltest alle meine Kraft und Gewalt lernen. Du hast mich noch lange nicht erreicht. Nun wirst du nichts mehr von mir lernen. Ich habe dir Kraft gegeben, aber meine ganze Kraft wirst du nicht gewinnen. Da du nun richten willst, geh in ein Land, wo dich niemand im Richten stört." Athräjen flog sieben Jahre lang immer weiter und kam unter die Erde.

Durch den Wurf aber erschütterte Ferraun das Dorf und das umliegende Land so, daß das erste Erdbeben entstand (Erdbeben = erjfji thmurth). Seitdem gibt es in der Kabylie jedes Jahr ein Erdbeben. Ferraun war aber verwundet. Er hatte seinen ersten Blutstropfen verloren. Seine Kraft nahm mehr und mehr ab. Ferraun war sehr krank. Es war da eine Frau, die hieß Thanthäs. Thanthas pflegte Ferraun mit aller Sorgfalt. Sie pflegte ihn sieben Jahre lang, aber Ferraun ward nicht gesund, sondern immer kränker, immer schwächer. Thanthäs ging umher und suchte ein Heilmittel für Ferraun.

Eines Tages sah Thanthas, wie eine Ameise umherlief und von den Wurzeln der Quäcke (ithora[Wurzel]boaphertemurth [Quäcke]) sammelte. Thanthäs sah, wie die Ameise die Wurzeln zerquetschte und zu einer anderen Ameise trug, die verwundet war. Sie ging nach einigen Tagen wieder hin und sah, daß die verwundete Ameise wieder gesund und geheilt umherlief. Thanthäs fragte die Ameise: "Wie hast du deinen Bruder geheilt?" Die Ameise sagte: "Warum willst du es wissen?" Thanthas sagte: "Ferraun ist seit sieben Jahren verwundet, seine Wunde will trotz aller meiner Pflege nicht heilen, und seine Kräfte siechen mehr und mehr dahin." Die Ameise sagte: "So suche viele Wurzeln von Quäcken. Die Hälfte davon koche, und gib dies Getränk Ferraun zu trinken. Die andere Hälfte aber zermalme und lege den Brei auf die Wunde Ferrauns. Auf solche Weise wird Ferrauns Wunde in wenigen Tagen heilen. Mit diesem Mittel kann man alle Wunden der Menschen heilen. Ob aber Ferrauns Kraft und Gewalt wiederkehren wird, kann ich nicht sagen."



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Thanthäs ging umher und sammelte die Wurzeln von vielen Quäcken. Die eine Hälfte kochte sie und gab das Getränk Ferraun zu trinken. Die andere Hälfte zermalmte sie und legte den Brei auf Ferrauns Wunde am Schenkel. Nach vier Tagen war Ferrauns Wunde geheilt. Nach fünf Tagen konnte Ferraun wieder aufstehen und gehen.

Ferraun erhob sich und ging. Ferraun glaubte, seine alte Kraft und Stärke wären zurückgekehrt. Ferraun ging von dannen, um Athrajen zu suchen. Ferraun ging durch den Wald. Die wilden Tiere, die sich aber vorher vor Ferraun versteckt hatten, kamen hervor. Sie sahen, daß Ferraun seine alte Stärke nicht wiedererlangt hatte. Sie stießen Ferraun von hinten und von der Seite. Ferraun fiel hierhin und dahin. Ferraun sah, daß seine alte Kraft und Stärke verloren waren und nicht zurückkehrten.

Ferraun kam an den See Thamgurth (siehe oben), der entstanden war, als er das Dorf hochgehoben hatte. Ferraun stürzte in den See Thamgurth, der nach ihm Themtha-Ferraun genannt wird und dessen Wasser für Kinder ein ausgezeichnetes Heilmittel ist, weil Ferraun darin ertrank.

Als Ferraun nun starb, entstand das Weltmeer (Themtha - ndünith), und das kam so:

Aus dem Blute Ferrauns entstanden die sieben großen Meere der Welt. Als ihn Athrajen verwundete und seine ersten Blutstropfen aus der Wunde flossen, bildeten diese das erste Rote Meer (Themtha thethquarth). Als das Blut sich dann in der Wunde schied, floß ein weißes Wasser heraus und bildete das Weiße Meer (Themtha themlelt). Als seine Wunde ganz schwarz war, floß schwärzliches Blut heraus und bildete das Schwarze Meer (Themtha thähärschent). Und als seine Wunde dann heilte, entstand eine grünliche Flüssigkeit in ihr, die floß weithin und bildete das Grüne Meer (Themtha thätigthauth). [Die anderen drei Meere kann keiner der Erzähler, die anwesend sind, angeben.]

Die sieben Meere waren im Anfang getrennte Seen und jeder vom andern durch Landstriche geschieden. Als nun aber Ferraun in den See Thamgurth stürzte und ertrank, quollen aus seinen letzten Atemzügen Blasen auf, die wurden zu den Wogen des Sees, und der See ward aufgerührt wie von einem starken Sturme. So floß der See über die Landmassen und breitete seine Fluten und Wellen aus über die sieben Meere, und alle Meere stiegen mächtig und warfen Wellen, die alle dazwischen liegenden Landmassen überfluteten. Und so



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wurde aus den sieben Meeren ein einziges großes Meer. Alle Farben der verschiedenen Meere flossen ineinander über.

Athrajen war durch den Wurf Ferrauns sieben Jahre lang geflogen. Er flog bis unter die Erde und kam so in das Land der Toten und Begrabenen. Athräjan hatte nicht die ganze Stärke und Macht Ferrauns, aber er war doch stärker als andere, und wie Ferraun über der Erde geherrscht hatte, so wurde Athrajen der Herr über die Toten und Begrabenen. Athrajen geht seither unter der Erde umher mit seiner Albus. Er ist nach Ferrauns Worten der Richter der Toten geworden. Er tritt mit seiner Albus jedem Menschen entgegen, sobald er unter die Erde gebracht wird.

Wenn ein Mensch gestorben und begraben ist, tritt ihm unter der Erde Athrajen entgegen, und Athrajen fragt ihn: "Was hast du über der Erde gemacht?" Dann antworten die Augen: "Ich habe über der Erde nichts gesehen." Dann antwortet die Nase: "Ich habe über der Erde nichts gerochen." Dann antworten die Ohren: "Ich habe über der Erde nichts gehört." Dann antwortet der Mund: "Ich habe über der Erde nichts aufgenommen." Dann antwortet die Stirne: "Ich habe über der Erde nichts wahrgenommen und nichts gedacht." Dann antworten die Hände: "Wir haben über der Erde nichts gefühlt." Dann antwortet der Bauch: "Ich habe über der Erde nichts in mich aufgenommen." Dann antworten die Füße: "Wir haben uns über der Erde nicht bewegt." Dann antwortet der Körper: "Ich habe über der Erde nichts getragen."

Dann nimmt aber Athräjen seine Albus und schlägt den Toten auf den Kopf, so daß die Haare zusammenknicken. Die Haare schreien dann: "Schlage mich nicht wieder! Ich habe ja alles gesehen auf der Erde und will dir alles sagen! Schlage mich nicht." Athrajen sagt dann: "Was willst du gesehen haben, du hast ja keine Augen? Du bist das einzige am Körper, das nichts wahrnimmt, aufnimmt und von sich gibt. Ich werde dich nochmals schlagen, daß du die Antwort gibst."

Dann aber spricht schnell die Stirne und sagt alles, was sie Gutes und Böses gesehen, getan und erlebt hat. Denn jede Handlung und jeder Gedanke, jeder Diebstahl und jede Guttat sind auf der Stirne abgezeichnet. Es kann den Menschen nichts widerfahren, was nicht in den Falten der Stirne abgezeichnet würde. Dann sprechen die Augen, die Ohren, die Nase, der Mund, die Hände, die Füße, der Körper und sagen alles, was sie erlebt und getan haben. Nur der Bauch bleibt immer dabei und sagt: "Ich habe nichts aufgenommen."



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Der Bauch belügt sogar Athräjen. Er kann es, weil er alles wieder von sich gibt, was er in sich aufgenommen hat.

Nachdem die Toten gesprochen haben, werden sie von Athrajan gerichtet. Die Schlechten kommen in die Hände der Thidjel (das sind die kleinen Teufel. Das Wort kommt nur im Plural zur Anwendung). Sie sind sehr schlimm, und die Kabylen sagen von ihnen: "Wenn je die Thidjel auf die Welt kommen, wird die Welt vernichtet werden." Die Thidiel leben unter der Erde. Wenn es einem Menschen unter der Erde nach seiner Bestattung bei den Thidjel schlecht gehen wird, so kann man das sehen. Dann fliegt ein Schmetterling (affarz't'hó; Plur.: iffarz't'ha) in ein Licht im Sterbezimmer und löscht es aus. Dann weiß man, daß Athrajen den Toten mit seiner Albus zerschlagen hat, noch ehe er bestattet worden ist.

Diejenigen aber, die auf Erden Gutes taten und vor dem Richter Athräjen bestehen werden, die kommen unter Führung der T'horsin, das sind gütige Wesen wie die Malaika der Araber. Sie leben oben in dem Luftraum über der Erde. Wenn ein Toter sehr gut war und vor Athrajen mit gutem Gewissen treten kann, dann tritt beim Tode aus seinem Munde ein weißer Schaum, der wird tichksii t'hörsin, d. i. die Speise der T'horsin, genannt. Aber auch sonst kann man an anderen Zeichen zuweilen erkennen, daß ein Toter dem Gericht Athrajens standhalten kann. Wenn z. B. der Tote ein sehr guter Mensch war, so entzünden sich die Lichter im Sterbehause von selbst und ohne Zutun der Menschen.

Das ist, was von dem Totengericht Athräjens zu sagen ist.


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