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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Die Blinden

Im blaß-steinernen Moskau lebte ein junger Bursche als Tagelöhner. Eines Tages bekam er Heimweh und wollte im Sommer wieder in sein Dorf zurück zu seinen Angehörigen und ihnen bei der Ernte



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helfen. Er ging zu seinem Herrn und erbat die Abrechnung. Der aber sagte: »Bleibe noch bis zum Herbst!«

Der Bursche bestand aber auf seinem Verlangen.

»Laß mich wieder ins Dorf zurück!«

Da rechnete der Herr mit ihm ab, richtete es aber so, daß der Bursche im ganzen nur einen halben Rubel Lohn erhielt. Er nahm das Geld, steckte ein Stück Brot zu sich, nahm seine Filzstiefel auf den Rücken und verließ Moskau auf der Landstraße. Als er an einen Schlagbaum kam, sah er dort auf einem Erdhaufen einen blinden Bettler sitzen, der um ein Almosen bat: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

Der Bursche spürte Mitleid, trat zu dem Blinden, gab ihm den halben Rubel und sagte: »Das, guter Alter, ist ein halber Rubel, nimm davon um Christi willen zwei Kopeken und gib mir achtundvierzig heraus.«

Der Blinde nahm den halben Rubel, ließ ihn in seine Tasche gleiten und fing sein Lied wieder an: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

»Nun, wie steht's, Onkelchen?«sagte der Bursche. »Gib mir schnell heraus. «

Aber der Blinde tat, als habe er nichts gehört, und sagte: »Ich danke dir, du braver Junge, für deine Gabe.«

»Bist du taub, was? Gib mir heraus, alter Tropf! Ich habe heute noch gute vierzig Werst zu marschieren und brauche mein Geld selber auf den Weg!«

Der Blinde stellte sich taub und fing wieder an: »Ihr rechtgläubigen Christen, gebt einem armen Blinden eine milde Gabe.«

Da packte den Burschen ein heftiger Zorn: »Heda, du alter Schelm! Gib heraus, oder ich werde mit dir auf meine Art abrechnen!« Er begann den Alten kräftig herumzuzerren, der aber fing schrecklich an zu brüllen: »Um Gottes willen, man bestiehlt mich! Zu Hilfe! Zu Hilfe!«

Da ließ der Bursche von dem Blinden ab und stieß ihn zurück. >Es ist besser<, dachte er, >die Sünde zu fliehen. Womöglich kommt noch die Polizei, und ich werde wegen eines halben Rubels ins Gefängnis geworfen.<

Er zog seines Weges weiter. Nach etwa zehn Schritten blieb er stehen



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und schaute auf den Blinden zurück. Es tat ihm leid um den letzten Lohngroschen.

Als der Blinde gemerkt hatte, daß der Bursche weggegangen war, machte er sich auf den Heimweg. Er tastete nach seinen Krücken und sagte heiter: »Was meint ihr, meine lieben Krücken! Ist es nicht Zeit heimzugehen ?«

Er machte sich auf den Heimweg, der Bursche aber folgte ihm und ließ ihn nicht aus dem Auge. Nach einer Weile sah er am Saum des Waldes zwei Hütten stehen. Der Blinde machte seinen Gürtel locker, zog daraus einen Schlüssel und öffnete die Tür der einen. Während er mit seinen Krücken und seinem Gürtel hantierte, schlüpfte der Bursche schnell in die Hütte hinein, setzte sich auf eine Bank und hielt den Atem an. Auch der Blinde betrat nun die Hütte, verriegelte die Tür, warf seinen Sack und die Mütze auf den Tisch und kroch unter den Ofen. Dort klapperten eine Bratpfanne und eine Ofengabel. Er zog ein Fäßchen heraus und warf das Geld hinein. Lachend sagte er dabei: »Dank diesem Jungen, der mir heute einen halben Rubel gegeben hat, habe ich jetzt meine fünfhundert voll!«Darüber wurde er so lustig, daß er sich auf den Boden setzte, die Füße ausstreckte und das Fäßchen mit dem Geld vor sich herrollte, zur Wand hin und wieder zurück. Da packte den Burschen die helle Wut. >Wart<, dachte er, >ich will dir die Freude versalzen<. Er beugte sich von der Bank herunter und nahm das Geldfäßchen an sich.

>Jetzt hat es sich unter der Bank verklemmt<, meinte der Blinde und begann auf dem Boden herumzusuchen, aber er fand nichts. Da geriet der alte Schelm in Schrecken. Er öffnete die Tür und rief seinen blinden Kameraden herbei. »Bruder, komm schnell mal herüber!« Der blinde Nachbar kam und fragte: »Was ist denn los?« Da erzählte er ihm von dem Fäßchen.

»Man muß immer Angst vor Dieben haben«, sagte der Nachbar. »Es ist dir eingefallen, mit dem Geld zu spielen, und jetzt weinst du darüber! Wozu auch ein Fäßchen? Hättest du es so gemacht wie ich: Ich habe auch fünfhundert, aber in meiner alten Mütze eingenäht, wer soll sie mir nehmen können?« Kaum hatte unser Bursche diese Worte gehört, da schoß er wie ein Pfeil von der Bank auf, riß dem Blinden die Mütze weg, sprang zur Türe hinaus und lief davon, ohne sich umzusehen. Der blinde Nachbar schalt aber den anderen Blinden:



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»Nein, Bruder«, sagte er, »so kannst du es bei mir doch nicht machen! Du hast dein Geld verloren und möchtest dich jetzt an dem meinigen vergreifen!«

Einer suchte den anderen niederzuringen, sie packten sich bei den Haaren, und es begann eine große Balgerei.

Aber während sie rauften, war der junge Bursche seines Weges gegangen. Er kam nach Hause und lebte dort noch lange. Seinen Enkeln erzählte er noch, wie er es damals den beiden Schelmen gezeigt hatte.


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