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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

I. BAND


WEISHEIT

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EINBANDZEICHNUNG VON VON F. H. EMCKE


3. Die Urbüffel und die Entstehung der wilden Tiere

Im Anfange waren ein wilder Büffel (Itherther) und ein weibliches Kalb (Thamuath) auf der Erde. Beide gingen hervor aus dem Raum unter der Erde, der dunkel war, dem Raum, der Tlam heißt (der Sage nach wörtlich: challekan-itlam, d. h. sie wurden geschaffen in Itlam). Sie gelangten beide nach einem Flusse, dort wo er in einem Tale sich verbreiterte, und dort stiegen sie an einem Felsen aus dem Flusse empor und kamen so auf die Oberfläche der Erde. Vorher kannten sie nichts als die Nacht und das Dunkel. Als sie nun zum ersten Male an das Licht des Tages emporstiegen, sahen sie das Licht der Welt, und sie folgten, aus dem Tlam und aus dem Wasser kommend, dem Licht der Welt und liefen hintereinander her, hierhin und dorthin. Itherther lief immer hinter dem weiblichen Kalb her. Itherther wollte sich von dem Kalb nicht trennen. Itherther lief immer hinter dem Kalb her. Das weibliche Kalb lief hierhin und dorthin. Itherther lief immer hinterher.

Itherther und das weibliche Kalb froren. Sie fühlten die Kälte an ihren Herzen. Sie waren aber so froh, über den Himmel und das Licht, daß sie nicht in das Wasser und nach Tlam zurückkehren wollten. Denn die Welt war heller als alles (= dennith tzafäss), und die Welt war ihnen lieber als das Dunkel. Sie blieben deswegen in der Welt (dennia).

So gingen sie hintereinander her. Itherther folgte immer dem weiblichen Kalb. Sieben Tage lang folgte der Büffel dem weiblichen Kalb, und sie wußten nicht, was Tag und Nacht war. Das weibliche Kalb lief immer voran, und der Büffel folgte. Sieben Tage lang liefen sie hintereinander her. Am siebenten Tage pißte das weibliche Kalb. Der Büffel sah das weibliche Kalb pissen und sagte: "Wie ist das? Das (weibliche) Kalb (eigentlich Thamuath oder Thamuatz) pißt nach hinten. Ich pisse aber nach vorne. Wie kommt das? Wir sind verschieden." Der Büffel pißte auch und sagte: "Ich habe recht, ich sehe, ich pisse nach vorn." Der Büffel kam heran und schnüffelte an dem weiblichen Kalb.

Thamuatz und Itherther schliefen am siebenten Tage. Thamuatz lag vor Itherther. Itherther wacht auf und witterte vor sich das Hinterteil von Thamuatz. Itherther steckte den Finger (athal) in die weibliche Öffnung der Thamuatz. Itherther erregt sich und Thamuatz. Deshalb erregen sich die Kabylen heute noch in der gleichen Weise. Dann begann Itherther mit der Zunge die weibliche Öffnung



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von Thamuatz zu belecken. (Dies heißt athim [ei schi thilthith, d. i. Spielen mit der Zunge. Da dies seinerzeit der erste Büffel mit dem ersten weiblichen Kalb tat, ist es Sitte der Kabylen geworden, daß heute noch verliebte Leute sich zwei- oder dreimal mit der Zunge befriedigen, ehe sie zum eigentlichen Beischlaf übergehen. Auch junge Leute fangen so an.) Als Thamuatz und Itherther auf diese Weise sehr erregt waren, sprang Itherther über Thamuatz her, und so deckte der Büffel das weibliche Kalb, wie es heute noch die Stiere und Kühe tun. Und das wiederholte sich alle Tage mehrmals, bis eines Tages die Kuh trächtig war und dann einen Stier (achimi) gebar. Der junge Stier wurde größer. Als der junge Stier ein Jahr alt war, sah er seine Mutter an. Er schnüffelte an der weiblichen Öffnung seiner Mutter und wurde lüstern. Die Kuh aber war schon wieder trächtig und ging mit einem weiblichen Kalb im Leibe umher. Als ihr Sohn, der Stier, sie beschnüffelte, wies sie ihn zurück, wie das heute noch die Kühe tun, wenn sie trächtig sind, und stieß den eigenen Sohn mit den Hörnern. Darauf lief der junge Stier voller Angst von dannen.

Drei Jahre lief der Stier umher. Dann kam er in das Land, in dem die neunundvierzig Burschen ihre Häuser gebaut hatten und mit ihren Frauen lebten. Sie hatten damals aber schon Kinder, und ihre Kinder hatten wieder Kinder, so daß es mehrere Dörfer und kleine Gehöfte waren, die ringsumher lagen. Die Menschen sahen den ersten jungen Stier und begannen hinter ihm herzulaufen und ihn zu fangen. Die Alten liefen aber zur Ameise und fragten sie: "Was ist das? Welches Geschöpf ist es, das mit Hörnern in der Welt umherläuft? Ist es entstanden und geschaffen, wie wir geschaffen sind?" Die Ameise sagte: "Dieses Tier heißt Achimi. Achimi ist der Sohn der Kuh (mis-tphiinast)." Die Menschen sagten: "Was ist das? Der Sohn der Kuh? Es gibt doch keine Kuh ?" Die Ameise sagte: "Ja, es gibt eine Kuh." Die Menschen sagten: "Wo ist die Kuh ?" Die Ameise sagte: "Es ist ein weibliches Wesen, wie eine Frau ein weibliches Wesen ist. Sie hat auch Brüste. Während aber die Frau der Menschen zwei Beine und zwei Arme hat, hat die Kuh nur vier Beine. Zwei vordere Beine sind kurz, und zwei hintere Beine sind lang. Und während die Frau des Menschen ihre Brüste vorn hat, hat die Kuh die Brüste zwischen den Schenkeln der hinteren Beine. Die Brüste sind groß. Während die Frauen der Menschen nur zwei Brüste und Zitzen haben, haben die Kühe zwei



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Brüste und vier oder sechs Zitzen. (Kuheuter thamathak; Zitzen thibuschin.) Wenn es vier sind, so sind alle vier groß. Wenn es sechs sind, so sind vier groß und zwei klein. Das Fleisch der Kühe und Ochsen ist gut zu essen. Ihr werdet später noch mehr Tiere finden, deren Fleisch ihr genießen könnt."

Die Menschen liefen hinter dem jungen Stier her, um ihn zu fangen. Der Stier lief umher und stieß mit den Hörnern. Der Stier warf die Menschen zu Boden. Die Ameise sagte zu den Menschen: "Ihr könnt die Stiere nur fangen, wenn sie noch keine Hörner haben." Die Menschen versuchten, den Stier zu fangen. Der Stier ward wild und immer wilder. Der Stier sagte sich: "In was für ein wildes Land bin ich gekommen? In dem Lande meiner Eltern ist mir das nicht widerfahren. Ich kehre in das Land meiner Eltern zurück." Der Stier wechselte darauf die Richtung und lief zurück in das Land, aus dem er kam. Er lief in das Land, in dem ihn seine Mutter geboren hatte.

Auf dem Wege in das Land seiner Eltern begegnete der Stier aber der Ameise. Die Ameise sagte zu ihm: "Ich will dir die Welt erklären. (Der Spruch der Ameise lautet wörtlich: äthtueri [ihn aufklären] emich [wie] erräjäsch [leben] erräichthin [ihm machen] äräthchedemen [wie ihn machen] didunith [in der Welt].) Ich will dir alles sagen." Der Stier sagte: "Wer bist du ?" Die Ameise sagte: "Ich bin wie du geschaffen; aber ich weiß mehr wie du." Der Stier sagte: "Was weißt du?" Die Ameise sagte: "Sohn der Kuh, du wirst drei oder fünf, aber nie mehr als sieben Jahre leben." Der Stier sagte: "Leben alle Tiere nicht länger?" Die Ameise sagte: "Ja, einige, Tiere leben länger. Es gibt Menschen, die leben hundert und hundertundzwanzig Jahre, aber sie müssen arbeiten. Wenn du nicht arbeiten willst, kannst du lange leben wie dein Vater, der Ali Itherther-Mskin. (Hier taucht die menschliche Personifizierung zum ersten Male auf.) Aber du mußt dich mit schlechter Nahrung begnügen und hast, wenn es schlechtes Wetter ist, kein Unterkommen. Du mußt mit wilden Tieren auf dem Wege kämpfen und wirst keinen Schutz haben. Wenn du so lebst, wirst du lange leben. Wenn du aber zu den Menschen gehst, wirst du beliebt sein vor allen anderen Tieren. Die Menschen werden dir Nahrung und Haus geben. Du hast nichts zu fürchten vor den wilden Tieren und dem schlechten Wetter. Du wirst aber nur drei oder fünf oder sieben Jahre, aber nicht länger leben." Der Stier sagte: "Ich will lange leben und nicht im Schutze der Menschen leben. Kannst du mir sonst etwas sagen?"



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Die Ameise sagte: "Ich kann dir sagen, daß du von allen Tieren dadurch ausgezeichnet bist, daß du und alle deiner Art vor allen Tieren einen Vorzug haben. Gehe hin. In deiner Abwesenheit hat deine Mutter ein Kalb geworfen, das ist eine Thämuatz. Es ist ein weibliches Kalb. Ihr habt nun vor den anderen Tieren das Recht, eure Mutter und eure Schwestern zu decken. (NB. Der Erzähler fügt hinzu: das ist bis heute so.) Wenn ein Stier geboren und groß geworden ist, weiß er nicht mehr, welches seine Mutter und welches seine Schwester ist und er bespringt eine wie die andere. Gehe also hin, suche deine Eltern und bespringe deine Schwester!"

Der Stier lief in das Land seiner Eltern. Der Stier traf seine Mutter, die Kuh. Bei seiner Mutter, der Kuh, war deren Tochter, ein weibliches Kalb. Der junge Stier lief auf seine Mutter zu, sprang auf sie und deckte sie. Der junge Stier lief auf seine junge Schwester, das weibliche Kalb, zu, sprang auf das junge weibliche Kalb und deckte es. Das weibliche Kalb war aber jung, und als der Stier es gedeckt hatte, legte es sich gleich nieder. Deshalb legen heute sich auch alle Kühe, wenn die Stiere sie gedeckt haben, nieder; große wie kleine legen sich auf den Boden, wenn sie gedeckt sind.

Der Büffel Itherther ward zornig, als er sah, daß der Stier seine Frau und seine Tochter besprang. Er rannte auf den Stier zu. Er kämpfte mit dem jungen Stier, seinem Sohn. Der junge Stier, sein Sohn, war aber stärker als er. Er warf den Itherther, seinen Vater, beiseite. Itherther floh. Er lief in den Wald. Er blieb nicht bei den Kühen und dem Stier, seinem Sohn.

Itherther lief in das steinige Gebirge, in die Felsen bei Häithar. (Das ist eine Partie in der Djudjura oberhalb Mizane im Gebiet von Beni Burardan; vier bis fünf Kilometer von Mizane entfernt, hoch oben, wo im Winter fester Schnee liegt. Die Stelle heißt: Wuahäithar. Heute noch wird da der wilde Büffel als anthropomorphes Wesen unter dem Namen Ali Itherther Mskin verehrt. Das ist eine felsige Landschaft mit mehreren eingemeißelten Bildern von Büffeln und Menschen aus ganz, ganz alter Zeit. In neuerer Zeit sind arabische Schriftzeichen dazugekommen. Dort sieht man die Spuren des anthropomorphen Büffels in dem Felsen. Im Felsen ist hier ein Steinhaus mit einer Tür und einem Fenster, wohl eine Höhle. Nur Menschen mit reinem Herzen vermögen hineinzukommen; anderen ist das Haus verschlossen. Dort opfern die Menschen, die in Not und Sorge sind. Mütter, die steril sind, opfern um Kinder, zumal Söhne. Es wird da geopfert, wenn der Regen ausbleibt. Es wird auch



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um gute Ernte gebetet. Es ist ein hochheiliger Platz, und die Kabylen gehen in allen großen Nöten dorthin. In der Winterzeit ist die Stelle verschneit.) In den Felsen bei Häithar irrte Itherther umher.

Ali Itherther Mskfn war allein. Er konnte die Kuh nicht vergessen. Sein Samen (thell, der menschliche Samen, auch wohl menschliche Gesundheit genannt, heißt: l'challa) sammelte sich. Er wußte nicht, was tun. Da sah er eines Tages bei Häithar einen Stein, der war flach und hatte eine Höhlung. Er war wie eine Schale. Als Itherther sich nicht mehr zu halten vermochte, ging er zu der Schale und ließ seinen Samen hineinfallen. Jedesmal, wenn er nun sich nicht mehr verhalten konnte und der Gedanke an die Kuh ihn quälte, ließ er seinen Samen in die Schale fallen, so daß sie sich füllte. Die Schale war fast gefüllt. Die Sonne schien mit aller Gewalt auf Häithar und die Schale. Ali Itherther Mskfn stieg in ein kühles Tal. Die Schale mit Ali Itherther Mskins Samen stand allein in der Sonne.

Ali Itherther Mskfn blieb fünf Monate im Tale. Dann kam er wieder zurück. Er kam nach Häithar. Da waren aus der Schale mit dem Samen eine männliche (aruthell) und eine weibliche Gazelle (tharuthelt) entstanden. Es waren noch andere wilde Tiere entstanden, im ganzen sieben Paare, immer ein männliches und ein weibliches. Alle diese Tiere waren aus dem Samen Ali Itherther Mskins hervorgegangen, den er in die Steinschale hatte fallen lassen.

Die Tiere wußten nicht, was sie tun sollten. Ali Itherther Mskfn ernährte sie mit Kräutern und den wilden Wurzeln Thachülmeth (einer wilden Mohrrübenart). Im Anfange waren diese wilden Gazellen und die anderen wilden Tiere ganz klein und konnten nicht laufen. Ali Itherther ernährte sie aber so gut, daß sie bald selbst herumlaufen und sich Kräuter suchen konnten.

Als die sieben Paare der wilden Tiere groß geworden waren, rief Ali Itherther Mskfn sie zusammen und sagte: "Ihr seid alle ein männliches und ein weibliches Tier. Tut nun so, wie ich es seinerzeit mit der Kuh getan habe. Die Kuh und ich waren zufrieden und wir haben uns dabei wohl befunden. Wenn ihr das tut, werdet ihr Kinder haben und viele werden." Die Tiere taten so, und es wurden bald viele und sie vermehrten sich mehr und mehr. Sie wurden die, die wir in den Wäldern und Steppen treffen.

Nur der Löwe wurde nicht so. Der Löwe ging aus einem wilden menschenfleischfressenden Manne (s. S. 58/59; 6o Ihebill) hervor.



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Die Katze aber ist ein Kind des Löwen. So entstanden die wilden Tiere auf der Erde.

Die Schale, in die Itherther seinen Samen fallen ließ, ist heute noch bei Häithar. Früher opferten die Kabylen in sie hinein, ehe sie auf die Jagd gingen.


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