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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Der Zwerg

Der Zwerg ist ein naher Verwandter des Knecht Ruprecht. Er ist ein kleiner Kerl, nur zwei oder drei Fuß hoch. Nie habe ich feststellen können, was so ein Zwerg wohl in seiner Jugend tut, denn niemals bekommt man andere als alte zu Gesicht, solche mit großen spitzen und roten Mützen und mit langen weißen Bärten. Sich mit einem Zwerg gut zu stellen ist für den Bauern sehr wichtig, wenn sein Feld tragen und sein Vieh gesund und kräftig sein soll. Denn ein verärgerter Zwerg kann Menschen wie Tieren eine Menge Schaden zufügen. Ist ein Zwerg freundlich gesinnt, dann schaut er nach dem Vieh, füttert es, wenn es hungert oder wenn er selber glaubt, der Bauer habe ihm nicht genug gegeben. Außerdem schützt er die Tiere auch vor Krankheit. Meist sieht man ihn in der Nähe des Bauern oder der Mägde, wenn sie das Heu in die Scheune einbringen. Plötzlich lugen da zwei glänzende Äuglein aus einem Heubündel, oder ein schemenhaftes Etwas flitzt durch die Tenne, verschwindet im Tor oder droben hinter den Sparren. Manchmal kommt ein Zwerg auch in das Bauernhaus selbst.

Da waren einmal zwei Mägde auf einem reichen Hof. Sie hatten gerade nach dem Abendessen das Geschirr abgewaschen und gingen nun in ihre Schlafkammer, die neben der großen Küche lag. Plötzlich hörten sie ein fürchterliches Klirren und Krachen, so als habe jemand alle Teller und Tassen und alles Geschirr von der Anrichte auf den Boden geworfen. Sie erschraken sehr, und es dauerte ein paar Minuten, bis eine von ihnen Mut faßte und die Kammertür einen Spalt öffnete, um vorsichtig in die Küche zu schauen und zu sehen, was da wohl geschehen sei. Als sie die Tür aufmachte, erblickte sie mitten auf dem Küchentisch einen Zwerg. Alles kostbare Porzellan aber war von der Anrichte zur Erde geworfen worden.

Als nun der Zwerg das erschrockene Gesicht der jungen Magd sah, lachte und lachte er unaufhörlich, bis ihm die Seiten weh taten, und wenn er vor und zurück schwang, stießen immer abwechselnd die Spitze seines roten Hutes und die seines weißen Bartes gegen die Tischplatte. Kaum war er jedoch wieder zu sich gekommen, da verschwand er mit einem Husch durchs Fenster. Ängstlich lief nun das



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Mädchen herzu, um alle Scherben aufzusammeln. Wie staunte es: denn da war nicht ein Teller, nicht eine Tasse, kein einziges Geschirrstück zerbrochen.

Ein paar Tage später schickte der Bauer seinen Sohn in den Stall, um den Pferden Heu zu geben. Es war schon spät am Abend, und in der beginnenden Dunkelheit konnte der Bursche eben noch sehen, was er tat. Beim Aufnehmen eines Heubundes streiften seine Hände an etwas Haariges, und einen Augenblick lang starrten ihn zwei helle kleine Augen an.

»Das also ist der Kerl. Er weiß genau, daß er hier nicht sein soll.« Der Jungbauer gab den Pferden ihr Heu, griff dann nach einem kurzen Stock und kam damit zurück, um den Zwerg zu vertreiben. Doch soviel er auch suchte, nirgends konnte er die geringste Spur entdecken. >Nun gut, da ich ihn weder sehen noch hören kann, ist er wohl schon hinausgeschlüpft<, dachte er im stillen, wandte sich um und wollte ins Haus zurückgehen. Doch an der Scheunentür angelangt, wickelte sich der Strick, den er noch in der Hand hielt, um seine Beine, und er fiel glatt auf den Rücken. Voller Wut aufstehend, sah er den Zwerg auf der Kante des Scheunentores sitzen und so vergnügt lachen, daß er fast seine rote Mütze verlor.

Wenn ein Zwerg etwas lieber als alles andere mag, so ist das bestimmt der Weihnachtspudding, und da er selber nicht weiß, wie man ihn zubereitet, muß das die Bäuerin für ihn tun, und an jedem Weihnachtsabend hat die Magd eine ziemlich große, heiß dampfende Schüssel voll Pudding zu füllen und für den Zwerg in die Scheune zu stellen. Dieser Weihnachtspudding ist nämlich etwas ganz anderes als ein gewöhnlicher Pudding. Er besteht aus Sahne, saurer Sahne, mit Zimt, Zucker und Rosinen mit obendrauf herrlichen süßen Plätzchen und darüber nochmals Zucker. Goldbraun glänzt er. Wenn du ihn erst einmal gekostet hast, wirst du gewiß oft noch davon träumen, genauso wie der Zwerg selbst. Wenn es eine Bäuerin vergißt, ihm seinen Anteil vom Weihnachtspudding zuzuteilen, wird er sehr böse. Alle Tiere auf dem Hofe werden krank, und in dem Jahre geht dem Besitzer alles, was er tut, verquer.

Da lebte einmal ein Bauer, der hatte einen schönen wohlbestellten Hof. Seine Tiere waren gesund, seine Kühe gaben viel Milch, seine



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Pferde waren groß und stark und hatten ein glänzendes dichtes Fell. Was er auch tat, alles gelang ihm. Er war ein erfolgreicher, zufriedener Mann, der zudem ein fröhliches Weib und glücklich lachende Kinder sein eigen nannte.

Nach vielen Jahren entschloß er sich fortzuziehen. Deshalb verkaufte er seinen Hof, und ein neuer Mann kam an seine Stelle. Zwerg und Bauer hatten gute Freundschaft gehalten, und nun war der Zwerg recht neugierig, wie wohl der neue Hof besitzer sein würde. Voller Wut und Ärger hörte er gleich am ersten Abend, wie der neue Eigentümer über den Hof kam und zu der Frau sagte: »Denk nur, meine Gute, der Vorgänger, dieser närrische alte Knabe, erklärte mir vorhin, ich müsse bei allem, was ich hier täte, auch immer an den Zwerg denken. So etwas Lächerliches habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört. Was für ein Aberglaube von dem alten Mann! Solche Wesen gibt es doch überhaupt nicht.«

Und jedesmal wenn der Mann nun in die Scheune trat -der Zwerg war meistens unsichtbar darin, rief er spöttisch: »Husch, husch, raus hier!«oder: »Los, weg von hier! Mach daß du rauskommst, Kerl!« Darüber wurde der Zwerg allmählich immer zorniger, und eines Abends beschloß er, das nicht länger zu dulden, sondern dem Ungläubigen eine gründliche Lehre zu erteilen.

Es war genau eine Woche vor Weihnachten, als der Mann abends wie gewöhnlich in die Scheune ging, um Heu zu holen. Er bückte sich, um ein Bündel aufzuheben. Im gleichen Augenblick aber wurde er in den Nacken geschlagen. Er schaute sich um, konnte aber niemanden sehen. Dann bekam er Schläge in den Rücken, auf den Kopf, auf die Arme, die Beine, die Zehen, die Brust, überallhin. Er schrie vor Schmerzen auf, sprang hoch und versuchte vergebens, die Schläge abzuwehren. Plötzlich erblickte er einen kleinen alten Mann mit langem weißen Bart und einer roten Mütze, der in jeder Hand einen Strick hielt. Trotz seiner Kleinheit schlug er kräftig und hart zu. Sosehr der Mann es auch versuchte, er konnte nicht entfliehen. Bei jedem Schlag aber rief der Zornige:

»Komm und sieh den Zwerg, komm und sieh den Zwerg, du dummer Tropf, du dummer Tropf!«

Schließlich ließ er von seinem Opfer ab. Der Mann konnte kaum in



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sein Haus hinüberhumpeln, und, mit Mühe dort angelangt, kroch er in sein Bett und mußte mehrere Tage unbeweglich liegen.

Der Zwerg freute sich, daß der Mann nun wohl keinen Zweifel mehr an seinem Vorhandensein haben könne, und begann schon die Tage bis Weihnachten - und das hieß für ihn bis zu dem süßen Weihnachtspudding - zu zählen. Der Weihnachtsabend kam, und erwartungsvoll eilte der Zwerg in die Scheune -aber da war nirgends etwas von einem Weihnachtspudding zu entdecken. Durch die Fensterscheiben blickte er nachher in das festlich erleuchtete Haus und sah alle vergnügt drinnen sitzen, feiern und trinken. Die Tische waren beladen mit allen nur denkbaren schönen Dingen - einschließlich eines wunderbaren, prächtig dampfenden goldfarbenen Puddings -, aber niemand schien an den Zwerg auch einen einzigen Gedanken zu verschwenden.

Das ganze folgende Jahr nun geriet dem neuen Hofbesitzer alles daneben. Das Gras wollte nicht wachsen, die Pferde magerten ab, die Kühe wurden krank oder sie gaben wenig und nur dünne Milch. Der Bauer verlor Geld, und von überallher traf ihn Unheil. Verzweifelt schrieb er an den früheren Besitzer und teilte diesem seine Not mit. »Hast du auch immer gut für den Zwerg gesorgt?« Das war darauf die ganze Antwort des klugen alten Mannes.

Der neue Besitzer wunderte sich sehr. Dieser wütende kleine Mann, der in der Scheune so hart auf ihn eingeschlagen hatte, sollte das etwa wirklich ein echter Zwerg gewesen sein?

Jedenfalls als der nächste Christabend kam, bat er sein Weib, eine große Schüssel voll besonders gutem Pudding zu kochen; und als der fertig war, trug er selbst ihn in die Scheune und stellte ihn dort auf ein sauberes weißes Tuch für den Zwerg hin. Und von dem Tage an tat er alles, womit er den Zwerg nur erfreuen konnte. Und selbstverständlich ging es ihm nun im nächsten Jahr gut. Sein Hof wurde bald wieder der beste, der reichste und glücklichste von allen Höfen ringsum im weiten Tal.


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