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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Der Hirschprinz

Es war einmal ein Witwer und eine Witwe, die einander heirateten. Jedes von ihnen hatte eine Tochter. Die Tochter des Mannes war anmutig und hübsch, die Tochter der Frau aber war sehr häßlich. Die Frau war neidisch auf die Tochter des Mannes, weil sie so viel schöner



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war als ihre eigene. Sie überlegte früh und spät, was sie ihr Arges antun könne, und zeigte sich sehr böse gegen sie. Nun war der Mann fast jeden Tag fort vom Morgen bis zum Abend, und weil er nie zu Hause war, merkte er gar nicht, wie es seiner Tochter erging. Eines Abends, nachdem die Tür geschlossen war und alle schon im Bett lagen, klopfte es an die Tür. Da sagte die Frau zu ihrer Tochter, sie solle gehen und aufschließen und sehen, wer draußen sei. Dazu hatte die Tochter keine Lust, und da wollte die Tochter des Mannes gehen und aufschließen; aber sie durfte nicht, denn die Frau wollte durchaus, daß ihre Tochter aufmachen sollte. Das Mädchen ging hin und schloß auf; da stand ein großer Bock oder ein Hirsch oder etwas derart vor der Tür. Sie packte einen Besenstiel und wollte das Tier damit prügeln; aber es war bereits fort. Dann ging sie wieder hinein und erzählte ihrer Mutter, was da gewesen war. Am nächsten Abend, als die Tür schon geschlossen war, klopfte es wieder, und diesmal traute sich die Tochter der Frau nicht hinzugehen und aufzumachen. Da mußte nun die Tochter des Mannes gehen. Als sie die Tür aufschloß, sah sie den Hirsch draußen stehen und sagte zu ihm: »Wo kommst du denn her, du armer Kerl?« Er antwortete: »Kleines Mädchen, setz dich auf meinen Rücken!«Nein, das wollte sie nicht, sagte sie, das sei ja die reine Sünde, der arme Kerl habe an sich selber genug zu schleppen. Ja, aber auf andere Weise könne sie nicht mitkommen, sagte der Hirsch. Da setzte sie sich auf den Rücken des Hirsches, denn zu Hause wollte sie doch nicht bleiben, und er lief mit ihr davon. Sie kamen an eine Wiese, und dort sagte er zu ihr: »Wie wäre es, wenn wir uns hier einmal etwas vergnügen könnten?«

Das Mädchen dachte nach, wie es wohl zugehen solle, daß sie beide sich hier mal vergnügen könnten. Dann kamen sie an einen Wald; und auch da sagte der Hirsch wieder: »Wie wäre es, wenn wir einmal in diesem Wald spazierengehen und uns vergnügen könnten?« Aber sie konnte nicht verstehen, wie das wohl zugehen sollte. Schließlich kamen sie an ein riesig großes Schloß; da führte sie der Hirsch hinein und sagte ihr, hier solle sie nun ganz allein leben; aber alle ihre Wünsche würden ihr erfüllt werden, und sie möge zusehen, wie sie sich am angenehmsten die Zeit vertreibe, er werde sie schon wieder einmal



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besuchen. Aber einen Platz gäbe es, wo sie nicht hindürfe, nämlich einen Ort mit drei Türen, eine von Holz, eine von Kupfer und die dritte von Eisen. Diese dürfe sie um keinen Preis öffnen - er aber dachte bei sich, daß sie ganz gewiß am eiligsten eben das tun werde, was er ihr verboten hatte.

So schlug sie denn den Tag tot, so allein wie sie war; die Nacht kam, und am anderen Morgen sah sie sich um. Nun bekam sie große Lust, die eiserne Tür zu öffnen, sie konnte nicht widerstehen und tat es auch; da sah sie zwei Männer stehen, die rührten mit bloßen Händen und Armen in einem Kessel voll Teer. Sie fragte die Männer, warum sie denn mit bloßen Händen und Armen rührten. Sie sagten, sie könnten nicht anders, bis ihnen ein Christenmensch etwas zum Rühren gäbe. Da nahm sie eine Axt und schnitzte eine Art flachen Rührlöffel und gab ihn den Leuten zum Rühren. Der Tag ging hin und die Nacht kam, und am nächsten Morgen hörte sie großen Lärm im Hof. Überall liefen Männer herum, da waren Knechte, die Pferde fütterten, und Diener, die Silberzeug putzten, und alle waren sehr eifrig, und der ganze Hof war voller Männer. Nun bekam sie auch Lust, die zweite Tür zu öffnen, und sie schloß die kupferne Tür auf. Da sah sie zwei Mädchen stehen, die in glühendem Feuer mit bloßen Händen schürten. Sie fragte, warum sie das täten. Da sagten die Mädchen, sie dürften nicht anders, bis ihnen ein Christenmensch etwas zum Schüren gäbe. Nun gab sie ihnen eine Stange, und die Mädchen bedankten sich dafür sehr. Am nächsten Morgen war das Schloß ganz voll von Mädchen, die fegten und wuschen und putzten alles. Sie aber ließ den Tag hingehen, aber sie konnte nicht anders, sie mußte auch die hölzerne Tür öffnen. Da lag der Hirsch auf einem Strohwisch, und sie fragte ihn, warum er so daliege. Er sagte, er müsse so liegen bleiben, bis ein Christenmensch ihm den Schmutz abwische. Sie nahm eine Handvoll Stroh und wischte ihm den Schmutz ab. Und während sie das tat, verwandelte er sich in den schönsten Prinzen, den man sich denken kann. Dann erzählte er, daß er und das ganze Schloß verzaubert waren, nun aber sei alles gut, und sie wollten Hochzeit machen. Es war eine schöne Hochzeit, und sie dauerte mehrere Tage.

Als einige Zeit vergangen war, fragte der Prinz seine Frau, ob sie



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nicht Lust habe, ihre Mutter und Schwester zu Besuch einzuladen. Sie hatte Lust dazu. Da sagte der Prinz zu ihr, wenn sie nun kämen, so würde er nicht gleich dasein, aber wenn sie ihnen mit Wein aufwartete, solle sie einen Tropfen auf ihren Schuh verschütten, dann würde er kommen und ihn auf trocknen. Auch dürfe sie ihrer Mutter nichts geben, was ein oder drei Dinge seien, sondern nur vielerlei Dinge, wie Korn oder so etwas. Als nun die Mutter und die Schwester kamen, war die Prinzessin -denn nun war sie ja eine Prinzessin —sehr freundlich zu ihnen, und als sie ihnen Wein einschenkte, verschüttete sie einen Tropfen auf ihren goldenen Schuh; im Augenblick kam der Prinz herein und trocknete den Fleck mit seinem Taschentuch ab; und wenn die anderen nicht schon zuvor Mund und Nase aufgesperrt hatten, so taten sie das jetzt, als sie ihn kommen sahen. Sie gingen hinaus in den Garten, und da wollte die Mutter durchaus einen Apfel haben, aber die Prinzessin gab ihr keinen. Die Mutter bestand darauf, sie wolle Äpfel haben, und wenn es nur drei wären, aber nein, die Prinzessin sagte bloß, wenn sie reif wären, könnte sie eine ganze Menge bekommen. Da wurde die Mutter furchtbar zornig, und als sie mit ihrer eigenen Tochter fortging, war sie ganz voller Neid, daß nicht ihre Tochter zu diesem Glück gekommen war. Sie konnte nicht anders und ließ es sie auch hören, daß sie selbst daran schuld sei, und die Tochter gab trotzig Antwort, und wie es so geht -ein Wort gab das andere, und sie kamen einander ordentlich in die Haare: zuletzt zersprangen sie alle beide in lauter Kieselsteine; und das ist der Grund dafür, daß es in der Welt so viele Kieselsteine gibt.


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