Medizin und Universität —
Medizin und Gesellschaft
Eine programmatische Rede
Rektoratsrede von
Prof. Dr. Marco Mumenthaler
Verlag Paul Haupt Bern 1989
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Mumenthaler, Marco:
Medizin und Universität —Medizin und Gesellschaft:
eine programmatische Rede; Rektoratsrede / von Marco
Mumenthaler. —Bern; Stuttgart: Haupt, 1989
(Berner Rektoratsreden; 1989)
ISBN 3-258-04143-l
NE: GT
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Medizin und Universität —
Medizin und Gesellschaft
Eine programmatische Rede
Rektoratsrede von Prof. Dr. Marco Mumenthaler
1. Einleitend
Es gehört zur Tradition bernischer Rektoratsreden,
dass der sein Amt antretende
neue Rektor aus seinem eigenen
Fachgebiet vorträgt. Dies haben weitgehend
auch 15 Mediziner getan,
welche in den vergangenen 80 Jahren
bereits eine Rektoratsrede hielten.
Folgerichtig müsste ich Ihnen also
etwas über die Neurologie, ihre Errungenschaften,
ihre Entwicklungstendenzen,
ihren Beitrag zum Fortschritt der
Medizin oder ähnliches berichten. Ich
will dies nicht tun, und zwar aus mehreren
Gründen. Wenn ich also von der
Tradition abweiche, so nicht etwa aus
grundsätzlicher Ablehnung der Tradition
— was Erleichterung bei einigen
erzeugen mag! Aber auch nicht etwa,
weil ich glaube, dass alles Neue und
Andersartige besser als das Frühere
wäre — was Enttäuschung bei anderen
bewirken dürfte! Die Gründe für die
Wahl eines nicht ganz der Tradition
verpflichteten Titels dieser Rektoratsrede
sind vielmehr durchaus rationale
und sollen wie folgt umschrieben
werden: In fast 40 Jahren der Ausübung
des Berufes eines Neurologen,
in 27 Jahren meiner Zugehörigkeit zu
einer Medizinischen Fakultät, sind
immer mehr Zweifel an der Bedeutsamkeit
des eigenen engeren Fachbereiches
aufgekommen. Immer deutlicher
wurde hingegen die Erkenntnis,
dass wir einen wesentlichen Teil unserer
ärztlichen Aufgabe nur dann erfüllen
können, wenn wir ein engeres
Fachgebiet in ständiger Beziehung mit
der ganzen Medizin sehen. Daher
werde ich nicht über die Neurologie,
sondern über Medizin reden.
Ein weiteres Noch drängte sich mir
seit der Habilitation vor fast 30 Jahren
auf: Der ungeheure Wissenszuwachs
in der Medizin, der zunehmende technologische
Aspekt, die zunehmende
Zahl Auszubildender drängte mich
immer unerbittlicher in die Rolle des
Wissensvermittlers und Fachlehrers
und immer mehr weg von der Funktion
des Dozenten im Sinne des akademischen
Lehrers an einer Universität.
Daher werde ich also über Medizin und
Universität reden.
Ein weiterer Grund kommt hinzu: Vor
allem in den vergangenen 20 Jahren
etwa hat eine grundlegende Wandlung
der Wechselwirkung zwischen dem
Menschen in seiner Berufsausübung
Prof. Dr. med. Marco Mumenthaler
Prof. Marco Mumenthaler ist 1925 geboren und
wuchs als Auslandschweizer in Mailand auf, wo
er die Mittelschule absolvierte und die Maturität
ablegte. Das Medizinstudium in Zürich, Paris
und Amsterdam schloss er 1950 in Basel mit dem
Staatsexamen ab. Er bildete sich dann in Paris
und in der Schweiz zum Spezialarzt aus und habilitierte
sich 1960 in Zürich für das Fach Neurologie.
Er war zunächst Oberarzt der Neurologischen
Universitätspoliklinik und dann Leiter der
Forschungsabteilung jener Klinik in Zürich, arbeitete
während eines Jahres am National Institute
of Health in Bethesda, Md., in den USA. Seit
1962 leitet er, zunächst als vollamtlicher Extraordinarius,
seit 1966 als Ordinarius die Neurologische
Klinik der Universität Bern.
Im Rahmen der Medizinischen Fakultät fungierte
er als Fachgruppenpräsident, als Fakultätssekretär
und als Vorsitzender des Ärztekollegiums
des Universitätsspitals. In gesundheitspolitischen
Belangen hat sich Prof. Mumenthaler für die Zusammenarbeit
von Ärzten und Pflegepersonal
sowie für die Weiterbildung der Ärzte eingesetzt
und ist zurzeit Vorsitzender der Weiterbildungskonferenz
für Ärzte. Nicht zuletzt seine im Ausland
erworbenen Sprachkenntnisse haben es ihm
auch immer wieder ermöglicht, Funktionen in
ausländischen Fachverbänden, im Internationalen
Komitee des Roten Kreuzes und anderen internationalen
Gremien auszuüben.
Sein spezielles Forschungsgebiet umfasst die Erkrankungen
der peripheren Nerven, die Muskelkrankheiten
sowie die Kopfschmerzen. Prof. Mumenthaler
hat immer ein reges Interesse an der
Didaktik im Hochschulbereich gezeigt. Er hat
sich im Rahmen der Studienreform der Berner
Medizinischen Fakultät für die Bereitstellung
neuer Unterrichtsmittel engagiert und zahlreiche
Lehrbücher für Ärzte und Studierende verfasst,
die in insgesamt elf Sprachen erschienen sind.
einerseits und der Umwelt andererseits
stattgefunden. Während noch vor
30 Jahren eine weitgehende Autonomie
in der Entwicklung einzelner
Wissenschaftsbereiche und Fachgebiete
durch günstige ökonomische Bedingungen
und durch rasante technologische
Errungenschaften ermöglicht
wurde, und übrigens durch unerschütterlichen
Glauben an den Segen des
Fortschrittes legitimiert wurde, haben
sich diesbezüglich die Voraussetzungen
gründlich geändert:
— Knappere Mittel zwingen die Gesellschaft
und uns selber zum selektiven
Einsetzen derselben.
— Die zunehmende Dichte der Weltbevölkerung
hat das Problem der
Umweltbelastung und die Grenzen
des Wachstums ins Bewusstsein
gebracht.
— Der trotz technologischem Fortschritt
nicht erreichte Glückszustand
einer von Hunger, Krieg und Unrecht
geplagten Menschheit zwingen
uns zur Revision unserer Wertmassstäbe
und zu neuen Zielsetzungen.
Dies alles konvergiert in der Forderung,
dass wir alle bei der Verfolgung
unserer durchaus legitimen fachbezogenen
Arbeits- und Entwicklungsziele
mehr und mehr auch die Beziehung
zur Umwelt und zu den Mitmenschen,
zur Gesellschaft also, in der wir eingebettet
sind, mit im Auge behalten sollen.
Daher also muss ich auch zum
Thema Medizin und Gesellschaft sprechen.
Und schliesslich noch ein Letztes: Am
heutigen Tag spricht erstmals ein
Rektor, dessen Amtsdauer nicht nur
ein Jahr, sondern ein wenig länger —
wenn auch nicht viel länger —betragen
wird. Dies bringt rein theoretisch die
Möglichkeit mit sich, gestaltend und
prägend zu wirken. Gewiss sind die
Randbedingungen kaum verändert,
gewiss sind realiter die Möglichkeiten
zum Wandeln sehr begrenzt. Ohne also
einer unkritischen und unrealistischen
Planungseuphorie sich hinzugeben, legitimiert
die etwas längere Rektoratszeit
immerhin die Andeutung eines
Programmes. Daher werde ich eine
programmatische Rede halten.
2. Medizin und Universität
2.1 Fragen
Und nun zur Sache. Zum Thema der
Beziehungen der Medizin zur Universität
drängen sich zunächst einige —zugegebenermassen
zum Teil provokatorische
—Fragen auf. Welches ist die
Stellung einer Medizinischen Fakultät
im Vergleich zu den anderen Fakultäten
unserer Hochschule? Hat unsere
Fachschule für Ärzte überhaupt einen
Platz im Gefüge einer auf Forschung,
auf Querverbindungen und Horizonterweiterung
basierenden Universität?
Kann man noch zur Forschung in der
Medizin stehen, wenn man Aspekte
wie die Tierversuche, Medikamentennebenwirkungen,
extracorporelle Befruchtung,
künstliche Lebensverlängerung
und Genmanipulation berücksichtigt?
Gehört eine Medizinische
Fakultät noch in den Verband der Universität,
wenn man weiss, dass laut
Jahresbericht 1987/88 die 662 Assistenzärzte
und Oberärzte zwar 54%
der 1228 Universitätsassistenten und
Oberassistenten ausmachen, dass aber
die allermeisten dieser Medizinassistenten
sich lediglich eine fachliche
Weiterbildung im Hinblick auf die
Ausübung des Arztberufes am Universitätsspital
zulegen wollen und keineswegs
akademische Ambitionen haben?
Im Gegensatz zu jenen der anderen
Fakultäten erfüllen sie nur sehr begrenzt
Forschungs- und Lehraufgaben,
und eine der jährlich etwa 900 medizinischen
Dissertationen unseres Landes
kann beispielsweise nicht mit den
gleichen Massstäben wie in anderen
Fakultäten gemessen werden. Kann
man die Angehörigen der Medizinischen
Fakultät, die vollamtlichen Professoren,
ernstlich mit den gleichen
Massstäben wie die Hochschullehrer
anderer Fakultäten messen? Vergessen
wir nicht, dass vornehmlich die
zahlreichen Klinikleiter unter Ihnen
zu einem Übermass an Administration
und Dienstleistung als Direktor einer
Institution mit bis zu 200 Mitarbeitern
verpflichtet sind, dass sie, als oberste
praktisch-ärztliche Instanz, täglich persönlich
Verantwortung für zahlreiche
Menschenleben mitzuübernehmen
haben, dass viele in Spitalgremien oder
im Rahmen der Ärzteorganisation oder
gesundheitspolitischer Gruppierungen
mitzuwirken haben und gewissermassen
daneben dann noch recht ausgedehnt
Lehre und auch Forschung betreiben
sollten. Wen wundert es, dass
der eine oder andere den Blick für das
Übergeordnete universitäre Ganze
verliert oder seine Akzente falsch setzt?
Aber gehört dann diese Tätigkeit noch
in den universitären Rahmen?
2.2. Historisch
Historisch gesehen besteht ja wohl kein
Zweifel: Zusammen mit Philosophie,
mit Jurisprudenz und mit der Theologie
betrachtete man als eine der vier
Fakultäten einer Universität seit alters
her die Medizin. Ohne Faustens Monolog
zu zitieren sei daran erinnert,
dass es diese vier Fakultäten waren,
welche im Abendland schon im Mittelalter
die ersten Säulen der Universität
darstellten. Die Medizin war die
erste, für welche die Verpflichtung zur
Wissenschaftlichkeit im Sinne naturwissenschaftlichen
Grundlagenstudiums
stipuliert wurde: 1240 erliess
der Hohenstaufer-Kaiser Friedrich der
Zweite ein Gesetz, welches die Teilnahme
an der Sektion einer menschlichen
Leiche im Rahmen der Ausbildung
an einer medizinischen Fakultät
der Universitäten Süditaliens und Siziliens
vorschrieb. Dass dennoch über
Jahrhunderte vorgefasste Meinungen
und Dogmen die Lehren der Medizin
beherrschten, zeigt höchstens, dass Naturbeobachtung
alleine nicht Erkenntnisse
schafft, wenn sie nicht von kritischer
Aufmerksamkeit, von logisch
deduktivem Denken, von der Bereitschaft,
Geglaubtes in Frage zu stellen,
und von Unvoreingenommenheit begleitet
wird.
2.3 Naturwissenschaftliche Ära
Dieser Übergang von der Doktrin zur
Forschung vollzog sich auch für die
Medizin im Rahmen der Universitätsreform
durch Wilhelm von Humboldt.
Die industrielle Entwicklung und damit
verbunden der technische Fortschritt
in der Mitte des letzten Jahrhunderts
stellten auch für die Medizin Erkenntnisse
und Arbeitsinstrumente zur Verfügung,
welche der Entfaltung des
Wissens und dem Aufbau systematischer
Kenntnisse über Anatomie und
Funktion des menschlichen Organismus
dienten. Das Experiment hielt in
der Physiologie Einzug, die Biochemie,
die Erforschung der Infrastruktur
mit dem Mikroskop — seit 1933 mit
dem 60000fach vergrössernden Elektronenmikroskop
— trugen ihren Teil
bei. Die Molekularbiologie schliesslich,
die einen grossen Teil dieser
Einzelbereiche wieder synthetisch zusammenfasst,
hat die Medizin als Wissenschaft
immer exklusiver in den
Bereich des Messbaren und Steuerbaren,
in den Baupreis also, und auch in
die Abhängigkeit der Naturwissenschaften
gebracht. Insofern also ist und
bleibt Medizin eine Wissenschaft, und
als solche ist sie auch als Teil der
Universität legitimiert.
Trotz dieser grundsätzlichen und klaren
Bejahung der Universitätszugehörigkeit
auch der Medizinischen Fakultät
bleiben eine Reihe der eingangs
aufgeworfenen Fragen und problematischen
Aspekte unbeantwortet, namentlich
die Mehrfachfunktionen der
medizinischen Fakultätsangehörigen
betreffend.
2.4 Weg von den Naturwissenschaften?
Mehr und mehr hat in letzter Zeit die
ausschliesslich naturwissenschaftliche
Bindung der Medizin zu Gegenbewegungen
geführt. Dies aus sehr
unterschiedlichen Gründen. Sie sind
zum Teil in der Ausübung der Medizin
durch uns Arzte selber zu suchen, zum
Teil aber in einem allgemeineren gesellschaftlichen
Wandel und in Wertverschiebungen.
Erwähnt seien nur
einige der Ursachen: Das Versagen naturwissenschaftlich-kausaler
Betrachtungsweisen
bei der Betreuung der
zahlreichen psychosomatisch bedingten
Beschwedebilder begründete entsprechende
neue Schulen und Institutionen.
Die technisch mögliche Stützung
der vitalen Funktionen beim
Hirntoten, die im Extremfall zur Erhaltung
eines vegetativen Daseins ohne
menschenspezifische Qualität führen
kann, rief EXIT-Erklärungen und Juristen
auf den Plan. Die nicht immer
vermeidbaren Nebenwirkungen stark
wirksamer Medikamente liessen den
Ruf nach homöopathischen Medikamenten
und überhaupt nach Alternativmethoden
laut werden: Gemäss einer
Umfrage bei Mitgliedern der Bernischen
Ärztegesellschaft im Frühjahr
1988 wandten nicht weniger als 60%
solche Methoden selber an oder überwiesen
die Patienten für solche Behandlungen.
Die Sorge um einen
kritiklosen Missbrauch von Laboratoriumstieren
zu Versuchszwecken
bewirkte Tierschutzgesetze, die Angst
vor unverantwortbaren Untersuchungen
und Versuchen am Menschen zum
Gewinnen neuer wissenschaftlicher
Daten hat ethische Kommissionen —
auch an der Medizinischen Fakultät
Bern —einsetzen lassen. Die Möglichkeit,
durch Eingriffe an Chromosomen
das Genom zu verändern und damit
das Erscheinungsbild von Pflanze und
Tier gezielt zu beeinflussen, hat zur
Angstvorstellung des von Menschen
fabrizierten Ungeheuers und zur
Kampfansage gegen die Gentechnologie
geführt. Steigende Kosten im Gesundheitswesen
und finanzielle Missbräuche
einzelner veranlassten staatliche
Eingriffe und Kontrollen. Darüber
hinaus aber erzeugten Fehlverhalten
einzelner einerseits sowie die dem
Wirken des Arztes immanente Machtposition
andererseits Misstrauen und
Ablehnung. Und dies alles hat auf die
Medizin an sich, also auch auf die
Medizin als Teil der Universität und
somit auf die Universität selber, zumindest
indirekt Auswirkungen.
3. Medizin und Gesellschaft
Gerade am Beispiel der Medizin wird
klar, wie diese und damit die Universität,
der sie angehört, in einem sehr
dynamischen Verhältnis zur Gesellschaft,
ihren Forderungen sowie ihren
Entwicklungen und Wandlungen steht.
Wenn die bisherigen Ausführungen
vom Beispiel der Medizin ausgingen,
so kann uns dies nicht darüber hinwegtäuschen,
dass ähnliches auch für so
gut wie alle anderen Bereiche der Wissenschaft
gilt, die an unserer Universität
gepflegt werden, vielleicht mit
Ausnahme vereinzelter Orchideenfächer.
Dies aber, dieser immer deutlichere
Anspruch der Gesellschaft an
die Universität, fordert von uns vier
Dinge:
— das Hören dieses Aufrufes
— das Offenbleiben für Wandlungen
— die Fähigkeit, unser Reagieren in
angemessene Strategien zu kleiden
— und schliesslich und vielleicht vor
allem: die Haltungen und Strukturen
der Gesellschaft durch unser eigenes
initiatives Wirken aufgrund
unserer Forschungs- und Lehrtätigkeit
aktiv und konstruktiv mitzugestalten.
4. Strategien einer Wandlung
—programmatische
Schlussfolgerungen
Und damit komme ich zum letzten
programmatischen Abschnitt meiner
Ausführungen, nämlich zur Frage einer
Strategie einer gesellschaftsgerechten
Wandlung der Universität in der Zukunft.
Lassen Sie mich zunächst einmal
eine andere Gruppe unter Ihnen
enttäuschen: Jene nämlich, die sich
nach den bisherigen Ausführungen
vom ersten mehrjährigen Rektor ein
kritikloses Eingehen auf alle Appelle
und Änderungswünsche um ihrer selbst
willen erwarten. Nicht alles, was neu
ist, ist besser. Die Zukunft in Freiheit
wurde im Europa des beginnenden 19.
Jahrhunderts wesentlich von Universitätsangehörigen,
Studenten und
Dozenten gestaltet. Auch heute gehen
in vielen Ländern aller Kontinente von
den Universitäten gesellschaftsrelevante
Erneuerungen aus. Es ist bitter,
erfahren zu müssen, dass diese gelegentlich
zunächst mit Gewalt unterdrückt
werden. Auf die Dauer aber
lässt sich demokratische Freiheit nie
verhindern. Nichts verbietet uns, auch
in einem friedlichen und etwas satten
Lande, als Universität aktiv an einer
Evolution unserer Gesellschaft teilzunehmen
und diese mitzugestalten.
Wenn dabei keine Molotowcocktails
zum Einsatz kommen, so mag dies der
eine oder andere vielleicht bedauern —
dem Erreichen eines konstruktiven
Zieles muss dies aber nicht unbedingt
abträglich sein.
An dieser Stelle könnte ich der Versuchung
erliegen, Ziele der neuen Universitätsleitung
für die kommenden
zwei Jahre im Detail zu formulieren,
ein politisches Programm gewissermassen
zu umschreiben. Ich will mich
auf die Skizzierung einiger Probleme
beschränken, die uns in allernächster
Zeit beschäftigen müssen. Es könnte
diese Liste übrigens schon eine Themensammlung
für eine nächstjährige
Rektoratsrede sein. Welche Probleme
also müssen wir in den kommenden
Jahren lösen? Welche Prioritäten werden
wir setzen? Lassen wir diese letztere
Frage, die zum Teil auch von ausseruniversitären
Faktoren abhängt,
noch offen, und zählen wir die Probleme
zunächst auf:
— Im Rahmen der neuen Universitätsstrukturen
müssen
•die Fakultäten und die neue Universitätsleitung
ein unverkrampftes,
angstfreies Verhältnis zueinander
finden. Dies im Dienste einer
Wahrung der legitimen föderalistischen
Ansprüche der Fakultäten
einerseits, jedoch unter Schaffung
der notwendigen Stärke und Einheitlichkeit
übergeordneter universitärer
Ansprüche andererseits.
Gelingt dies nicht und behalten
Partikularinteressen immer die
Oberhand, dann wird die Universität
immer mehr zum Spielball
äusserer Einflüsse werden.
• Innerhalb der Universitätsleitung
müssen die Aufgabenverteilungen
sich einspielen. Vor allem muss
die Art der Zusammenarbeit geübt
werden. Die sechs Mitglieder der
Universitätsleitung dürfen nicht
eine lose Gruppe von Einzelkämpfern
sein, sondern müssen über ihre
individuelle Haltung hinaus in
wesentlichen Belangen einen
gemeinsamen Standpunkt wirksam
vertreten.
— Über die formalen Strukturen hinaus
muss das Zusammengehörigkeitsgefühl
aller Universitätsangehörigen
gefördert werden. Ich betone:
aller, also nicht nur der mit administrativen
Funktionen ausdrücklich
betrauten, sondern aller Mitglieder
sowohl der Angehörigen des
Lehrkörpers wie auch der Studenten,
welcher Richtung und Gruppierung
sie auch immer angehören
mögen. Die nötige Offenheit und
Toleranz, um auch Heterogenes zu
vereinen, sollte gerade die Universität
bei Gott doch aufbringen können.
Es soll unsere Universität sein,
die jeden von uns angeht und der
sich jeder von uns verpflichtet und
verbunden fühlt.
Die Stellung der kantonalen Universitäten
im schweizerischen und
europäischen Verband wird in allernächster
Zukunft grossen Wandlungen
unterworfen sein. Das Stichwort
ist hier Freizügigkeit. Die Leitgedanken,
nämlich die gegenseitige
Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse
und anderer Befähigungsausweise,
sind schon 1957
im Gründungsvertrag der EG enthalten
und in den Hochschulkonventionen
des Europarates in Strassburg
bestätigt worden. Ohne die
problematischen Aspekte — z.B.
jenen der Niederlassungsfreiheit —
ignorieren zu wollen, würde es einer
Institution, die in ihrem Namen
sogar das Universale postuliert, sehr
schlecht anstehen, wenn sie in ängstlicher Abkapselung
die Zukunft verweigern
würde.
— Ein weiterer Problemkreis betrifft
die Stellung der Universität im Verhältnis
zu politischen Instanzen und
den vorgesetzten Behörden. Das
Stichwort lautet hier Autonomie.
Unter Autonomie versteht die Universität
keineswegs Willkür, gesellschaftliche
Unverbindlichkeit, Herauslösung
aus jeglichem Bezugssystem
oder gar Narrenfreiheit. Jedoch
ist die Erfüllung einer fundamentalen
Aufgabe der Universität,
nämlich die Forschung im Sinne der
Wahrheitsfindung, nur in einem
Umfeld mit sehr viel Freiheit möglich.
Wo Misstrauen und Kontrolle
vorherrschen, kann fruchtbare Forschung
nicht stattfinden. Es ist dann
jener Zustand erreicht, den der Musikkritiker
Volkmar Braunbehrens
in seiner Mozart-Biographie für das
letzte Viertel des 18. Jahrhundets in
Wien schildert: «Zwar war der kirchliche
Einfluss (vor allem der der
Jesuiten) vollständig gebrochen,
aber die Universitäten verloren
zugleich auch ihre Autonomie und
standen gänzlich unter staatlichem
Zwang. Das Unterrichtswesen wurde
völlig verschult..., eine Erfolgskontrolle
eingeführt und die Studiendauer
dadurch beträchtlich verkürzt.
Die Folge war eine Entwissenschaftlichung
der Universität, die
ihren Stellenwert als Forschungsanstalt
fast gänzlich verlor;... Die
Universität war nicht mehr ein Teil
der Gelehrtenrepublik, sondern ein
in jeder Weise unselbständiges, staatlich
kontrolliertes Ausbildungsinstitut.»
Das Vertrauen in die Universität
zu rechtfertigen ist unsere Aufgabe.
Den vertrauensvollen Freiraum
nicht zu zerstören, in dem allein
Forschung und Fortschritt gedeihen
können, ist jedoch Aufgabe
unserer politischen Instanzen und
vorgesetzten Behörden. Der Ruf
nach dem Nutzen und der Anwendung
darf nie an den Anfang der
Forschung gestellt werden. Ebenso
wenig darf Forschung aber zum
Selbstzweck werden, da sie sonst,
wie dies Jaspers ausdrückte, «...in
die Endlosigkeit des bloss Richtigen...»
entgleist.
In diesem Bereiche kann niemals ein
Diktat, sondern nur der offene Dialog
mit den Regierungsinstanzen und
der Öffentlichkeit zu einer konstruktiven
Lösung echter Probleme führen.
Hierbei sind die legitimen
Ansprüche beider Seiten zu berücksichtigen,
jedoch auch den Sachkompetenzen
Rechnung zu tragen.
Doch genug der Problemlisten. Werden
wir wieder konkret in bezug auf
die Strategie der Schritte zum Wandel.
Eine Wandlung muss im Sinne der
Wissenschaft mit der Definition der
Ziele und Prioritäten beginnen und
unter Berücksichtigung der Prinzipien
der Logik und der Machbarkeit vor
sich gehen. Beginnen wir mit einigen
praktischen Randbedingungen unserer
ökonomischen und strukturellen
Gegebenheiten:
— Die notwendigen Mittel müssen
beschafft werden.
— Die schlussendlich vorhandenen
Mittel müssen optimal genutzt und
wenn nötig selektiv für die zu erreichenden
Ziele eingesetzt werden.
— Es muss Kongruenz zwischen den
vorhandenen und optimal genutzten
Mitteln einerseits und den gestellten
Aufgaben andererseits herrschen.
Dies bedingt für die Universität
u.a. auch die Freiheit, Aufgaben
zu verweigern.
— Wir müssen einen Verwaltungsapparat
und vor allem eine Führungsstruktur
in der Universität haben,
welche das permanente Schritthalten
mit den notwendigen Wandlungen
ermöglichen. Das neue Universitätsgesetz
hat gewisse Voraussetzungen
hierfür geschaffen — wenn
auch nur bruchstückhaft.
— Dies alles ist wertlos, wenn nicht
jeder Universitätsangehörige motiviert
und engagiert für die übergeordneten
Interessen mitzuwirken
gewillt ist. Er muss dies als Pflicht
und Ehre und nicht als lästige Zusatzaufgabe
empfinden. Dies sei als
Warnung für viele von Euch ganz
klar gesagt: Trotz sogenannt stärkerer
Universitätsleitung ist und bleibt
unsere Universität eine Milizorganisation,
die nur bei gewissermassen
ausserdienstlichem Einsatz aller
überleben kann. Dies gilt für
Dozenten und für Studenten.
— Die Geisteshaltung, in welcher die
Universität neue Aufgaben im Rahmen
einer sich wandelnden Gesellschaft
bewältigt, muss im ursprünglichen
und echten Sinn des Wortes
wissenschaftlich sein. Dies bedeutet
• klare Fragestellung bzw. Zielsetzung,
• beste Information,
• vorurteilsfreie Analyse der Fakten,
• Suche nach kausalen Zusammenhängen,
• und Formulierung einer Strategie
zum Erreichen der gesteckten
Ziele.
In die Definition dieser letzteren
dürfen ruhig auch wertende Momente
mit einfliessen.
Wichtiger aber als diese formalen und
das intellektuelle Instrument betreffende
Prämissen sind einige weitere
Voraussetzungen einer gesellschaftsgerechten
Strategie für die Universität.
Zunächst einmal ein offener Geist
für das Neue und das Andersartige.
Et c'est bien ce mot-clé «d'esprit
ouvert», Mesdames et Messieurs, qui
me donne l'occasion de poursuivre
dans une autre langue, langue qui d'ailleurs
n'est, comme l'allemand, pas la
mienne. Ces quelques mots en français
représentent un acte symbolique: Ils
documentent l'ouverture de notre université
vers ce qui est different et vers
tous ceux qui représentent une minorité
C'est aussi pour confirmer que notre
canton n'est pas seulement bilingue,
mais, qu'en plus les portes de notre
université restent largement ouvertes
aux romands désirant y entrer. Qu'ils
emploient leur langue, qu'ils comprennent
la nôtre et qu'ils soient les bienvenus.
Berne a eut depuis toujours cette fonction
de pont entre la culture et langue
alémanique d'une part et les régions
romandes de notre pays d'autre part.
Notre université se doit d'assumer cette
part de responsabilité.
E se già stiamo parlando di apertura,
permettetemi di aggiungere due parole
in quella che è in realtà la mia madre
lingua. Lo faccio in onore della terza
regione del nostro paese quella italiana
e cioè del Ticino. Lo faccio però anche
per quella che fu per me la prima
patria, l'Italia. Sopratutto vorrei incoraggiare
gli studenti Ticinesi a venire a
fare i loro studi universitari a Berna.
Come ne ha dato prova il mio predecessore
ed amico, Prof. Caroni, hanno
persino la possibilità di diventare rettori
di questa università!
Keine Angst, meine Damen und Herren:
Ich werde nicht auf Romantsch
weiterfahren und auch nicht in der
internationalen Sprache der Mediziner,
auf Englisch. Lassen Sie mich
vielmehr mit dem Hinweis auf eine
letzte Voraussetzung schliessen, die
ich als unabdinglich für eine fruchtbare
gesellschaftsgerechte Arbeit an der
Universität erachte: Wir müssen unsere
Arbeit mit Begeisterung tun, denn
nur dann können wir aus der Leistung
auch die volle Befriedigung schöpfen.
Wir müssen die Menschen, mit denen
wir zusammenarbeiten, um ihrer Qualitäten
willen gerne haben und nicht
um ihrer Fehler willen, die jeder auch
hat, ablehnen. Dies gilt übrigens sogar
gegenüber unserer vorgesetzten Behörde
und den Politikern. Wir müssen
die jungen Menschen, die sich uns anvertrauen,
von Herzen mögen, auch
wenn sie ruspetieren, denn nur dann
können wir —mit etwas Glück —ihren
Ansprüchen wirklich genügen.
Schlussendlich aber sollen wir, trotz
aller Anerkennung der geistigen und
emotionalen Sphäre unseres Handelns,
uns nicht von realitätsfernen Illusionen
lenken lassen. Ohne klare wissenschaftliche
Analyse der Situation und
der Ziele geht es nicht. Wenn wir alle
aber —und ich meine auch Sie alle, die
Mitglieder und die Freunde der Universität
—in diesem Geiste mitwirken,
dann können wir auch dieses neue, das
155. akademische Jahr der Universität
Bern, getrost gemeinsam anpacken.