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Märchen

aus Polen Ungarn und der Slowakei

Märchen europäischer Völker


Raduz und Ludmilla

Es war einmal ein König, der hatte drei Söhne und eine Tochter. »Du, mein Weib«, sprach er eines Tages zur Königin, »wir sind zu zahlreich, wir müssen etwas unternehmen, sonst werden wir es nicht weit bringen. Weißt du was? Wir wollen einen unserer Söhne in die Welt schicken, er mag nach einem Dienst suchen und sich zurechtfinden, so gut er eben kann.«

»Ja, ja«, nickte darauf die Königin, »das leuchtet auch mir ein. Das beste wäre wohl, wenn wir Raduz ziehen ließen.«

»Recht hast du«, erwiderte der König, »auch ich habe an ihn gedacht. Statte ihn also für die Reise aus, vielleicht bringt er es in der Fremde zu etwas.«

So geschah es dann auch.

Raduz nahm von seinen Eltern Abschied und wanderte viele Tage über Berg und Tal. Schließlich gelangte er in einen dichten Wald, und dort stand ein Haus. Er dachte sich: hier will ich anklopfen, vielleicht finde ich eine Arbeit. In dem Haus aber wohnten drei Menschen:



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eine Hexe, ihr Mann, der Hexenmeister, und außerdem noch ein schönes Mägdelein, das hieß Ludmilla.

»Gott zum Gruß, gute Leute!«sprach Raduz, als er in die Stube trat.

»Gott zum Gruß! Wo kommst du denn her?«erwiderte die Hexe. »Ich bin bei euch eingekehrt, weil ich Arbeit suche. Möchtet ihr mich nicht in Dienst nehmen?«

»O weh, mein Söhnchen«, sprach die Hexe, »ein jeder möchte gerne sein Brot essen, doch verdienen kann es sich kaum einer. Welche Arbeit hast du gelernt?«

»Jede, die ihr mir geben wollt. Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, und ich will mich auch wirklich sehr bemühen.«

Die Hexe hatte keine große Lust, ihn aufzunehmen, der Hexenmeister jedoch redete ihr gut zu, und so ließ sie sich schließlich umstimmen.

Inder ersten Nacht ruhte sich Raduz von seiner Wanderung aus. Als er dann am Morgen erwachte, begab er sich zur Hexe.

»Frau, was für eine Arbeit wollt Ihr mir heute geben?«

Die Hexe maß ihn vom Scheitel bis zur Sohle und führte ihn dann zu einem Fensterchen.

»Schau da hinaus«, sprach sie, »und sag mir, was du siehst!«

»Was soll ich schon sehen? Eine Waldlichtung sehe ich.«

»Ja. Da, nimm diese hölzerne Hacke, du gehst jetzt auf die Lichtung, hackst den Boden auf und pflanzt Bäume, aber so, daß sie über Nacht wachsen, blühen und Früchte tragen. Morgen früh mußt du mir das reife Obst bringen. So, und nun spute dich!«

Während sich Raduz auf die Lichtung begab, zerbrach er sich den Kopf, was er nun beginnen solle. Hat der Mensch schon so etwas gehört? So eine Arbeit mit einer hölzernen Hacke verrichten, und dazu auch noch in so kurzer Zeit! Er machte sich ans Werk. Doch kaum hatte er ein paarmal richtig zugeschlagen, da ging die Hacke auch schon in Stücke. Er erkannte, daß er da nicht viel ausrichten würde. Er warf also den Hackenstiel fort, setzte sich unter eine Eiche und blickte stumpf vor sich hin.



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Inzwischen hatte die Hexe Frösche gekocht und befahl Ludmilla, sie dem Jüngling als Mittagessen zu bringen. Ludmilla wußte freilich, was hier gespielt wurde, sie wartete also, bis die Hexe aus der Stube ging, nahm dann die Gerte, die auf dem Schemel lag, merkte sich aber genau, wie sie vorher gelegen hatte. Dabei dachte sie sich: >Wie soll dieser arme Kerl Frösche essen? Ich will mein Mittagessen mitnehmen und es ihm geben.<

Dann begab sie sich zu Raduz und traf ihn mit bekümmerter Miene unter der Eiche an.

»Ach«, sprach sie zu ihm, »mach es dir nicht so schwer! Freilich, die Hausfrau hat dir gekochte Frösche zum Mittagessen geschickt, ich aber habe sie fortgeschüttet, denn ich habe mir gedacht, sie taugen nicht als Speise für dich. An ihrer Statt habe ich dir mein Mittagessen gebracht. Und vor deiner Arbeit brauchst du keine Angst zu haben«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Sieh diese Gerte! Wenn ich den Boden hier mit ihr berühre, wird bis zum Morgen alles wachsen, blühen und reifen, wie es die Frau von dir verlangt hat.«

Da wußte Raduz nicht, wie er dem Mädchen danken sollte.

Ludmilla berührte den Boden mit der Gerte, und gleich sprossen Bäumchen hervor, schlugen aus, wuchsen, blühten und setzten Früchte an. Da war es Raduz freilich leichter ums Herz, und er aß, was ihm Ludmilla gebracht hatte. Dann begann er mit ihr zu reden. Und er hätte sich gerne bis zum Abend mit ihr unterhalten, sie jedoch mußte bald wieder nach Hause eilen.

Am Morgen brachte Raduz das Obst heim und gab es der Hexe. Die hatte natürlich nicht gedacht, daß er seine Aufgabe erfüllen würde, und schüttelte nur den Kopf.

»Nun, und was für eine Arbeit gebt Ihr mir heute?«fragte Raduz nach einer Weile.

Die Hexe führte ihn zu einem anderen Fenster und fragte ihn, was er hier sähe.

»Was sollte ich schon sehen? Da ist nichts als ein steiniger, mit Dornengestrüpp bedeckter Hang.«

»Nun gut. Nimm die Hacke, die hinter der Tür steht, und geh hin!



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Rode den Hang, pflanze Weinstöcke, und morgen früh bringst du mir die reifen Trauben.«

Raduz tat, wie ihm geheißen, und begann den Hang zu roden. Doch kaum hatte er mit der hölzernen Hacke zugeschlagen, da ging sie auch schon in Stücke.

>Ach, ich Unglückseliger, was soll ich nun beginnen?<dachte er sich. Er warf den Stiel fort und setzte sich bekümmert auf einen Stein, denn es war nicht einmal daran zu denken, daß er die Arbeit bis zum Morgen vollbringen könnte. So saß er lange Zeit in Gedanken versunken da und wartete, was nun wohl geschehe.

Daheim hatte die Hexe inzwischen einen Topf Schlangen gekocht, und als es Mittag wurde, sprach sie: »Ludmilla, geh und bring das dem Diener.«

Ludmilla gehorchte und nahm auch gleich die Gerte und ihr eigenes Mittagessen mit. Raduz hatte ihr Kommen kaum mehr erwarten können, und sein Herz begann freudig zu schlagen, als er sie von ferne sah.

»Gut, daß du kommst!« sprach er, als sie bei ihm war, »ich sitze schon seit dem Morgen bekümmert hier. Die Arbeit will mir nicht glücken, auch ist die Hacke in Stücke gegangen. Wenn du mir nicht hilfst, steht es schlimm um mich.«

»Ach, mach dir nur keine Sorgen«, erwiderte Ludmilla. »Die Hausfrau hat dir zwar gekochte Schlangen geschickt, ich habe sie jedoch weggeschüttet und habe dir mein Mittagessen gebracht. Auch die Gerte habe ich mitgenommen. Wir werden den Weinberg schon schaffen, und bis zum Morgen wirst du der Frau die Trauben bringen können.«

Sie reichte ihm das Essen und berührte den Boden mit der Gerte. Sogleich begann es zu sprießen, zu wachsen und zu blühen, und schon setzten die Weinstöcke auch Trauben an.

Ein Weilchen unterhielten sie sich noch miteinander, dann nahm Ludmilla das Eßgeschirr und die Gerte und ging nach Hause.

Am Morgen kam Raduz mit den Trauben. Die Hexe wollte ihren Augen nicht trauen. Er jedoch verlangte eine neue Arbeit. Da führte



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sie ihn unverzüglich zum dritten Fenster und sagte ihm, er solle hinausschauen und ihr sagen, was er da sehe.

»Was sollte ich schon sehen? Da ist nichts als ein großes steiniges Brachfeld.

»Gut, und von dort mußt du mir bis zum Morgen Mehl bringen und daraus Brot backen. Wenn du es nicht tust, wirst du was erleben!«

Raduz erschrak ein wenig, als er diese Drohung vernahm, doch was sollte er machen? Er ging kurz entschlossen an die Arbeit.

Das Obst und die Trauben aber wollten der Hexe nicht aus dem Kopf.

»Alter«, sprach sie zum Hexenmeister, »das geht nicht mit rechten Dingen zu! Unser Mädchen steckt mit diesem Diener unter einer Decke, denn er selber hätte das alles nie fertiggebracht. Ich muß der Sache auf den Grund gehen, und dann will ich es den beiden schon zeigen! Heute bringe ich ihm das Mittagessen selbst.«

»Ach du«, erwiderte darauf der Hexenmeister, »was redest du da? Ludmilla ist ein braves Mädchen. Wir stellen doch ihre Treue schon seit langer Zeit auf die Probe. Sie ist über jeden Zweifel erhaben. Gib also Ruhe, wozu willst du den beiden nachspionieren?«

»Warte nur, warte nur, Alter, du wirst schon noch sehen! Mir jedenfalls läßt die Sache keine Ruhe.«

»So oder so«, erwiderte nun der Hexenmeister, »jetzt ist's genug! Ich dulde nicht, daß du hier Unheil stiftest!« Die Hexe verstummte.

Inzwischen hatte sie Eidechsen gekocht und schickte Ludmilla mit dem Mittagessen fort. Das Mädchen freilich ahnte bereits, daß die Alten über sie gestritten hatten und daß der Hexenmeister für sie eingetreten war. Deshalb nahm sie die Gerte ganz vorsichtig vom Tisch, versteckte sie unter der Schürze und ging mit dem Eßgeschirr fort, als sei nichts geschehen.

Raduz hatte inzwischen einige Steine auf dem Feld gesammelt, doch wie sollte er daraus Mehl und Brot machen? So erwartete er Ludmilla schon sehnsüchtig, und endlich sah er sie eiligen Schrittes nahen.



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»Ich hätte dir gekochte Eidechsen bringen sollen«, rief sie ihm schon von weitem zu, »doch mich hat es geärgert, daß sie dir so ein widerliches Mittagessen schicken, so habe ich dir lieber meines gebracht« — und sie reichte es ihm mit einem freundlichen Lächeln.

»Die Hausfrau hat Verdacht geschöpft, daß ich dir helfe. Der Alte hat sie aber umzustimmen gewußt. Wenig hat gefehlt, und sie wäre selbst mit dem Essen gekommen, dann hätte sie sogleich herausgekriegt, wie wir das machen. Das hätte dich wie mich das Leben gekostet.«

»Ach, du mein Alles, ich sehe schon, wie sehr du mir geholfen hast«, sprach Raduz. »Wie soll ich dir das jemals vergelten?«

So hätten sie gerne noch länger miteinander gesprochen, doch da erinnerte ihn Ludmilla daran, daß noch die Arbeit verrichtet werden mußte.

Und als sie den steinigen Boden mit der Gerte berührte, stand auch schon eine Mühle da, und das Mühlenrad drehte sich polternd. Das Mehl rann in den Trog, der Brotteig ging auf, und im Backofen brannte Feuer.

Ludmilla sah noch einmal nach dem Rechten, dann eilte sie nach Hause.

Am Morgen brachte Raduz das frisch gebackene Brot, und die Hexe wäre vor Zorn fast zersprungen. Sie ließ sich jedoch nichts anmerken, sie sagte lediglich: »Ich sehe, daß du alles wohl verrichtet hast, was ich dir anbefohlen habe. Nun ruh dich tüchtig aus.«

Der Abend kam. Die Alte hatte mit dem Alten etwas ausgeheckt, und nun befahl sie Raduz, den großen Kessel mit Wasser zu füllen. Als das geschehen war, stellte sie den Alten zum Kessel, er solle das Wasser heiß werden lassen, wenn es dann kochte, solle er sie rufen. Ludmilla brachte dem Alten aber sehr starken Wein, von dem er einschlief. Dann ging sie zu Raduz und sprach zu ihm: »Siehst du, so liegen die Dinge: du sollst in diesem Kessel gekocht werden, wenn man dich am Morgen noch hier antrifft. Ich jedoch will dich retten und will mit dir gehen, wenn du mir schwörst, mich niemals zu verlassen.«



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Nur allzugerne schwor ihr Raduz Treue, denn er hätte sie ohnehin für nichts auf der Welt mehr hergegeben. Nun spuckte Ludmilla auf ein Holzscheit im Ofen, steckte die Zaubergerte ein, und dann eilten beide von hinnen.

Bald darauf erwachte der Zaubermeister.

»Diener«, rief er, »schläfst du noch?«

»Ich schlafe nicht«, erwiderte der Speichel, »ich räkele mich nur noch ein wenig.«

Nach einem Weilchen rief der Zaubermeister abermals: »Diener, steh auf, bring mir die Stiefel!«

»Gleich, gleich«, antwortete der Speichel. »Warte nur noch einen Augenblick, bis ich mir die Pantoffeln anziehe.«

Da erwachte auch die Hexe: »Ludmilla, steh auf, reich mir den Rock und die Schürze!«

»Gleich, gleich«, antwortete der Speichel, »ich will mich nur schnell zurechtmachen.«

»Was ist denn los mit dir«, sagte die Hexe, »daß du dich so langsam ankleidest?«

»Sofort«, antwortete der Speichel.

Da riß der Hexe die Geduld, sie hob den Kopf und sah das leere Bett.

»Der Teufel soll das holen! Alter, schau an! die beiden sind nicht da!

Schau die leeren Betten! Sie sind davongelaufen!«

»Daß sie die Hölle verschlinge«, erwiderte der Hexenmeister.

Sie erhoben sich, und die Hexe begann zu schimpfen: »Da hast du nun deine treue Ludmilla! Schön hat sie dich an der Nase herumgeführt! Schenk du nur noch einmal einem Mädchen Glauben, du alter Hohlkopf!«

Betreten schwieg der Alte.

»So, und jetzt eilst du ihnen nach, und daß du sie so bald wie möglich erwischst und zurückbringst!«

Der Alte brach auf und flog davon.

Da sprach Ludmilla zu Raduz: »Ach, wie brennt mir doch die linke Wange! Blick zurück, Liebster mein, siehst du etwas?«



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»Ich sehe nichts«, erwiderte er. »Nichts außer einer schwarzen Wolke, die fliegt hinter uns her.«

»Wehe, wehe, das ist der Alte auf einem schwarzen Roß«, sprach Ludmilla. »Bleib stehen, wir müssen uns vorsehen.« Sie berührte mit der Gerte den Boden, und dieser verwandelte sich in einen Acker, sie wurde zu Gerste und verstreute sich auf dem Acker, ihn stellte sie hin und hieß ihm tun, als mähe er das Korn. Wenn der Alte käme, solle er ihm klug antworten.

Da kam der Alte auch schon in der schwarzen Wolke mit Donner und Hagelschlag herbeigebraust, fast hätte er das ganze Korn vernichtet.

»Ach, Alter«, sprach der Schnitter zu ihm, »vernichtet mir nicht das ganze Korn, ein wenig davon soll doch noch für mich übrigbleiben.«

»Ich will es dir lassen«, erwiderte der Alte und sprang vom Pferd, »sag mir aber, ob du hier zwei junge Leute auf der Flucht gesehen hast!«

»Nein, seitdem ich hier mähe, ist keine Menschenseele des Weges gekommen. Doch als das Korn hier gesät wurde, sollen zwei junge Leute, wie du sie beschreibst, gesehen worden sein.«

Der Hexenmeister schüttelte den Kopf, verschwand in der Wolke und begab sich nach Hause.

Raduz und Ludmilla aber setzten ihren Weg fort. »Nun, was hast du ausgerichtet, mein Herr und Gebieter«, sprach die Alte zum Hexenmeister, »da du so schnell zurückgekehrt bist?«

Und er erwiderte: »Weiß der Teufel, wo die beiden stecken! Ich habe keine Menschenseele gesehen außer einem Schnitter und viel Korn.«

»Ach, du Dummkopf, das waren sie doch! Wie hast du dich so täuschen lassen können? Warum hast du von diesem Korn nicht wenigstens eine einzige Ähre heimgebracht? Auf der Stelle eilst du ihnen nach!«

Der Alte schwieg betreten und flog davon.



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»Ach«, sprach Ludmilla nach einer Weile, »wie brennt doch meine linke Wange, blick zurück, Raduz, schau nach, was da hinter uns los ist!«

»Nichts«, antwortete er, »nur eine graue Wolke fliegt hinter uns her.«

»Wehe, wehe, das ist der Alte auf seinem Apfelschimmel. Hab aber keine Angst und gib ihm nur eine kluge Antwort!« Dabei berührte sie mit der Gerte ihr Hütchen, und dieses verwandelte sich im Nu in eine Kapelle.

Sie selbst wurde eine Fliege, und sie schuf noch viele andere Fliegen um sich herum. Raduz aber machte sie zum Einsiedler in dieser Kapelle, und er sollte nun den Fliegen predigen.

Da kam auch schon die graue Wolke mit Schnee und Eis herangepfiffen und verbreitete eine Kälte, daß das Dach nur so krachte. Der Hexenmeister sprang vom Pferd und begab sich in die Kapelle zum Einsiedler.

»Habt Ihr«, sprach er, »hier nicht zwei Wanderer gesehen, ein Mädchen und einen Jüngling?«

»Wo sollen sie denn herkommen?« erwiderte der Einsiedler, »seit ich hier lebe, predige ich nur den Fliegen da. Doch damals, als diese Kapelle erbaut wurde, sollen zwei junge Menschen hier vorübergekommen sein. Aber ich bitte Euch«, fügte er hinzu, »laßt mir die Kälte nicht herein, sonst erfrieren noch meine Zuhörer.«

»Hab nur keine Angst, ich geh ja schon. Bin ich doch ganz vergeblich bis hierher geeilt!«

Und mit diesen Worten flog er davon.

Die Alte erwartete ihn schon im Hof. Und als sie sah, daß er allein zurückkehrte, schrie sie ihn sofort an: »Ach, du Nichtsnutz, wieder bringst du niemanden zurück, wo hast du denn die beiden gelassen?«

»Wo soll ich sie denn gelassen haben, da ich sie doch nirgends gesehen habe? Nur eine Kapelle stand dort, und in dieser predigte ein Einsiedler den Fliegen. Ich habe so eine Kälte gegen sie losgelassen, daß alle fast erfroren wären!«



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»Ach, du Schafskopf, das waren sie doch! Konntest du nicht wenigstens eine Dachschindel mitnehmen? Aber warte, ich kriege sie schon!«

Mit diesen Worten raffte sie sich auf und flog davon.

»Ach«, sprach da Ludmilla wieder, »wie brennt doch meine linke Wange! Dreh dich um, Raduz, schau, ob uns jemand verfolgt!« »Ja, eine rote Wolke ist hinter uns her.«

»Das ist die alte Hexe auf ihrem Rotfuchs. Bis jetzt ist alles ein Kinderspiel gewesen. Nun mußt du dich aber sehr zusammennehmen, damit wir mit ihr fertig werden. Schau, ich verwandle mich in eine goldene Ente und werde auf diesem Meer hier herumschwimmen. Du tauche im Wasser unter, sonst verbrennt sie dich. Wenn sie mich aber haschen wird, eile zu ihrem Pferd, ergreif es am Zügel, alles Weitere wird sich dann ergeben.«

Da kam die Alte schon herangebraust, und sie verbreitete so eine Glut, daß alles rundherum verbrannte. Am Ufer des Meeres sprang sie vom Pferd und begann die Ente zu haschen. Diese jedoch lockte sie immer weiter hinaus, bis sie sich ein gutes Stück von ihrem Pferd entfernt hatten.

Da sprang Raduz aus dem Meer und ergriff die Zügel des Pferdes. Sogleich kam auch die Ente zu ihm geflogen und verwandelte sich wieder in ein Mädchen. Beide schwangen sich auf das Pferd und flogen über das Meer davon.

Als die Hexe das sah, begann sie fürchterlich hinter den beiden herzufluchen. Sie verwünschte Raduz, daß er Ludmilla vergesse, sobald ihn jemand küßte. Ludmilla aber rief sie nach: »Du nichtsnutziges Ding du, sieben Jahre lang sollst du diesen Kerl nicht sehen!«

Die Hexe mußte den ganzen Heimweg zu Fuß zurücklegen. Nun hatte sie ihre Zauberkraft restlos eingebüßt, und ihr Mann lachte sie tüchtig aus, weil sie sich so hatte an der Nase herumführen lassen.

Raduz und Ludmilla flogen nun auf dem Pferd dahin, bis sie zu der Stadt gelangten, in der die Eltern des Jünglings lebten.

»Was gibt es hier Neues?«fragte Raduz einen Bürger, dem sie auf der Straße begegneten.



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»Was sollte es schon Neues geben?« erwiderte der Mann, »unser König, seine Söhne und die Töchter sind gestorben, nur die alte Königin ist noch am Leben und weint ununterbrochen ihrem letzten Sohn nach, der sich irgendwo in der Welt herumtreibt. Wir aber haben nichts als Streit und Hader, weil wir nicht wissen, wer nun König werden soll.«

»Gestorben sind sie?«meinte Raduz. »Ja, das ist wahrlich eine traurige Nachricht!«

Erließ den Bürger stehen und nahm Ludmilla zur Seite. »Weißt du, was wir nun tun? Du bleibst hier bei diesem Brunnen, denn in den zerrissenen Kleidern, die du jetzt trägst, kannst du nicht vor meine Mutter hintreten. Versteck dich hinter dem dichten Baum da und warte, bis ich zurückkehre. Ich will mich inzwischen ins Schloß begeben, und wenn man mich erkannt und zum König ausgerufen hat, kehre ich zurück und bringe dir schöne Kleider.«

Ludmilla war damit einverstanden.

Raduz begab sich ins Schloß. Die Mutter erkannte ihn sofort. Mit ausgebreiteten Armen eilte sie ihm entgegen, umschlang ihn überglücklich und versuchte ihn zu küssen. Er jedoch ließ es nicht geschehen. Auch die übrigen erkannten ihn, sie riefen ihn zum König aus, ein großes Festmahl wurde bereitet, und da ging es hoch her wie schon lange nicht.

Raduz, der von der langen Reise müde war, legte sich früher als die anderen zur Ruhe, und während er schlief, kam seine Mutter und küßte ihn auf beide Wangen. Von diesem Augenblick an hatte er seine Ludmilla ganz und gar vergessen. Ja, er nahm sogar eine andere zur Frau.

Die verlassene Ludmilla jammerte und klagte lange, was nun beginnen. Die Arme wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte, also stellte sie sich unweit des Schlosses neben einen Bauernhof hin und verwandelte sich in eine wunderschöne Pappel. Diese Pappel war eine Zierde für den ganzen Hof, ja für das ganze Land, nur dem König selber wollte sie nicht gefallen. Es ärgerte ihn, daß sie die Aussicht aus seinem Fenster verstellte. Schließlich verlor er die Geduld und



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befahl, den Baum zu fällen. Der Bauer bat ihn sehr, die schöne Pappel doch stehen zu lassen, aber all sein Flehen fruchtete nicht, der König ließ den Baum fällen.

Kurze Zeit später begann genau vor dem Schloß ein schöner Birnbaum zu wachsen, der goldene Birnen trug. Und wenn man sie auch am Abend pflückte, waren bis zum Morgen wieder neue herangereift. Der König ließ sie jeden Tag holen, und er mochte diesen Baum sehr gern. Die Königin jedoch konnte und konnte ihn nicht leiden. »Ach«, sprach sie immer wieder zum König, »wenn die Birne doch bald verdorrte! Wie sehr ärgert mich dieser Baum!«

Der König versuchte sie immer wieder umzustimmen und bat sie, endlich Ruhe zu geben, der Baum wäre doch so schön. Die Königin jedoch redete und redete auf ihn ein, bis der König schließlich ihren Willen erfüllte und den Birnbaum fällen ließ.

Da gingen die sieben Jahre auch schon zu Ende. Ludmilla verwandelte sich also in eine goldene Ente und schwamm vor den Fenstern des Königsschlosses auf und ab und schnatterte dabei. Schließlich bemerkte sie auch der König, und da war es ihm, als hätte er diese Ente schon irgendwo gesehen. Er befahl also, sie zu fangen. Doch niemand vermochte die Ente zu erhaschen. Er ließ Fischer und Vogelfänger aus dem ganzen Lande kommen, doch auch diesen glückte es nicht. Das ärgerte den König von Tag zu Tag mehr.

»Da dem nun so ist«, sprach er einmal, »daß niemand meinen Wunsch erfüllen kann, will ich selbst mein Glück versuchen.«

Und er begab sich auf den See und verfolgte die Ente. Die Ente schwamm lange hin und her; er ihr immer nach. Schließlich fing er sie dennoch. Kaum hielt er sie in seinen Händen, verwandelte sich die goldene Ente in die wunderschöne Ludmilla, und diese sprach: »Schlecht hast du mir meine Treue vergolten! Ich aber vergebe dir, da es anders gar nicht hatte kommen können.«

Der überglückliche Raduz brachte seine Ludmilla ins Schloß und führte sie schnurstracks zur alten Königin. »Das ist sie«, sprach er, »die mir so viele Male das Leben gerettet hat. Sie soll mein Weib sein und keine andere.«



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Die erste Frau ließ er auf der Stelle ziehen und heiratete Ludmilla. Ach, war das eine prunkvolle Hochzeit! Und von nun an lebten sie glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch.


Copyright: arpa, 2015.

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