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DIE ERZÄHLUNGEN AUS DEN TAUSEND UND EIN NÄCHTEN

VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE AUSGABE IN SECHS BÄNDEN

ZUM ERSTEN MAL NACH DEM ARABISCHEN URTEXT DER CALCUTTAER AUSGABE AUS DEM JAHRE 1839 ÜBERTRAGEN VON ENNO LITTMANN

BAND 1

IM INSEL-VERLAG


DER SCHLUSS DER GESCHICHTE DES SCHNEIDERS

Da sprach der Schneider zu dem König von China: ,Als wir die Geschichte des Barbiers gehört und seine Geschwätzigkeit erkannt hatten und nunmehr wußten, daß er diesem Jüngling sehr geschadet hatte, da legten wir Hand an ihn und schlossen ihn ein, und dann setzten wir uns in Frieden nieder und aßen und tranken, und das Festmahl nahm einen schönen Verlauf, bis der Ruf zum Nachmittagsgebet erscholl; dann ging ich fort und kam nach Hause. Meine Frau aber empfing mich mit sauren Blicken und sagte: Du machst dir immer Freude und Vergnügen, und ich sitze betrübt da. Wenn du mich jetzt nicht ausführst und mir für den Rest des Tages etwas Erholung bietest, so zerschneide ich die Schnur zwischen uns, und das bedeutet meine Trennung von dir.' Deshalb führte ich sie aus, und wir vergnügten uns bis zur Zeit des Nachtmahls; und auf



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dem Wege nach Hause trafen wir diesen Buckligen, der übervoll des Weines war und die Verse trällerte:

Klar ist das Glas und klar ist der Wein;
Sie scheinen einander ganz gleich zu sein.
Erst ist es der Wei,, und nicht der Becher;
Dann ist es der Becher und nicht der Wein.

Und so lud ich ihn ein, mit uns zu speisen, und ging aus, gebratene Fische zu kaufen. Dann setzten wir uns nieder, um zu essen; und meine Frau nahm ein Stück Brot und einen Bissen Fisch und schob ihm beide in den Mund; er aber verschluckte sich und starb. Da trug ich ihn fort und brachte ihn mit List in das Haus dieses Arztes, des Juden; und der Arzt warf ihn mit List in das Haus des Verwalters; und der Verwalter warf ihn mit List dem christlichen Makler in den Weg. Dies ist meine Geschichte und was mir gestern widerfuhr. Und ist sie nicht wunderbarer als die Geschichte des Buckligen?' Als der König von China die Erzählung des Schneiders gehört hatte, schüttelte er vor Freude den Kopf, zeigte sein Erstaunen und sagte: ,Die Geschichte von dem Jüngling und dem aufdringlichen Barbier ist wirklich ergötzlicher und schöner als die Geschichte von dem buckligen Flunkerer.' Darauf befahl er einem der Kämmerlinge, mit dem Schneider zu gehen und den Barbier aus dem Gefängnis zu holen, und sagte: ,Ich wünsche, ihn sprechen zu hören, und das soll euer aller Rettung sein; dann aber wollen wir den Buckligen begraben.' — —«

Da bemerkte Schehrezâd, daß der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an. Doch als die 34. Nacht anbrach, fuhr sie also fort: »Es ist mir berichtet worden, o glücklicher König, daß der König von China befahl: ,Bringt mir den Barbier, und er soll eure Rettung sein; dann wollen wir diesen Buckligen begraben, der seit gestern tot ist,



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und ihm ein Grabmal errichten.' Im selben Augenblick gingen der Kämmerling und der Schneider zu dem Gefängnis, holten den Barbier heraus und kehrten mit ihm vor den König zurück. Der sah ihn prüfend an, und siehe, er war ein uralter Mann von über neunzig Jahren, mit dunklem Gesicht, weißem Bart und weißen Brauen, mit kleinen Ohren und langer Nase und einem Gesicht von albernem und eingebildetem Ausdruck. Der König lachte über diesen Anblick und sagte: ,O Schweiger, ich wünsche, daß du mir ein wenig von deiner Geschichte erzählest.' Da sprach der Barbier: ,O größter König unserer Zeit, wie ist die Geschichte dieses Christen und dieses Juden und dieses Muslims und dieses Buckligen, der tot vor euch liegt? Und weshalb seid ihr hier alle versammelt?' Da sprach der König von China zu ihm: ,Und weshalb fragst du nach alledem?' Jener erwiderte: ,Ich frage nach ihnen, damit der König erkenne, daß ich nicht aufdringlich bin und daß sie mich zu Unrecht der Geschwätzigkeit bezichtigt haben; denn ich bin der, der da geheißen ist der Schweiger, und wahrlich, ich habe Glück mit meinem Namen, wie es der Dichter sagt:

Selten schauen, wenn du forschest, deine Augen einen Mann,
Dessen Name dir sein innres Wesen nicht erklären kann.'

Nun sprach der König: ,Erkläret dem Barbier die Geschichte dieses Buckligen und was ihm beim Nachtmahl widerfuhr, ferner auch, was der Christ, der Jude, der Verwalter und der Schneider erzählt haben!' —Doch hier noch einmal zu erzählen, würde die Hörer nur quälen. —Als der Barbier alles gehört hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: ,Bei Allah, dies ist eine höchst seltsame Sache! Jetzt aber deckt mir diesen Buckligen auf.' Da nahmen sie das Laken von ihm, und jener setzte sich ihm zu Häupten nieder, nahm dessen Kopf in seinen Schoß und sah ihm ins Gesicht; und er lachte, bis er auf den Rücken



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fiel, und sagte: ,Ein Wunder ist jeglicher Tod, doch der Tod dieses Buckligen sollte mit Lettern aus flüssigem Golde verzeichnet werden!' Da waren alle Anwesenden ob der Worte des Barbiers erstaunt, und auch der König verwunderte sich darüber und fragte: ,Was gibt es, Schweiger? Erzähle es uns!' Der Barbier aber rief: ,O größter König unserer Zeit, bei deiner Huld, in dem buckligen Flunkerer ist noch Leben!' Darauf nahm er von seinem Gürtel eine Tasche, öffnete sie und holte ein Töpfchen Salbe hervor und salbte damit den Hals des Buckligen und seine Adern. Dann holte er eine eiserne Zange heraus und schob sie dem Buckligen in den Hals und zog das Stück Fisch mit der Gräte heraus; und als es draußen war, siehe, da war es mit Blut getränkt. Der Bucklige aber nieste, sprang auf, strich sich mit der Hand über das Gesicht und sagte: ,Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah und daß Mohammed der Prophet Allahs ist.' Der König und alle Anwesenden staunten über das, was sie sahen und mit eigenen Augen wahrnahmen; und dann lachte der König von China, bis er in Ohnmacht fiel, und ebenso taten die anderen alle. Da sprach der Sultan: ,Bei Allahs wahrlich, dies ist eine wunderbare Geschichte! Nie habe ich etwas Merkwürdigeres erlebt! O ihr Muslime, o ihr Söldner alle, habt ihr je in eurem Leben einen Menschen gesehen, der verstarb und dann wieder lebendig wurde? Wahrlich, hätte ihm Allah nicht &esen Barbier geschickt, der ihn lebendig machte, er wäre des Todes!' Sie sprachen: ,Bei Allah, dies ist ein wunderbares Wunder.' Dann befahl der König von China, daß diese Geschichte aufgezeichnet und verwahrt werden sollte in dem königlichen Archiv; darauf verlieh er dem Juden, dem Christen und dem Verwalter kostbare Ehrengewänder und hieß sie davongehen. Sie also zogen davon. Danach wandte der Sultan sich dem Schneider



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zu, gab ihm ein Ehrengewand, ernannte ihn zu seinem Hofschneider und setzte ihm ein festes Jahrgeld aus; und er stiftete Frieden zwischen ihm und dem Buckligen, und auch diesem verlieh er ein kostbares Ehrengewand und ein festes Jahrgeld und machte ihn zu seinem Tischgenossen. Schließlich bewies er auch dem Barbier seine Huld, indem er ihm ein Ehrenkleid und ein Gehalt verlieh und ihn zum Staatsbarbier und zu seinem Tischgenossen machte. Und sie lebten das schönste und fröhlichste Leben, bis der Vernichter der Freuden und Trenner der Freunde zu ihnen kam.

Und doch, o glücklicher König - so fuhr Schehrezâd fort -, ist diese Geschichte nicht wunderbarer als die von den beiden Wesiren und Enis el-Dschelîs. «Da sprach ihre Schwester zu ihr: »Und wie mag sie wohl seine«Und sie begann zu erzählen


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