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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Der Schuster und der Schneider

Es waren einmal zwei Brüder, der eine war Schuster, der andere war Schneider. Sie lebten einträchtig miteinander. Was jeder von ihnen verdiente, teilten sie immer zur Hälfte. Schließlich beschlossen sie, in die Welt zu gehen. Sie machten sich auf, wanderten und wanderten und gelangten an einen Kreuzweg. »Hier«, sprach der eine zum andern, »wollen wir uns trennen!« —»Ich«, sagte der Schneider, »gehe zur Rechten und du, Bruder, geh zur Linken! Nach zehn Jahren wollen wir uns hier wieder treffen und unsern ganzen Verdienst wiederum zur Hälfte teilen!« — »Gut!« Sie segneten und küßten sich, und der eine ging zur Rechten, der andere zur Linken. Der Schneider, der zur Rechten gegangen war, wanderte den ersten, zweiten und dritten Tag. Schließlich kam er zu einem Fluß. Er schritt weiter an dem Fluß entlang und gelangte zu einem See. Da sah er am Rande des Sees drei umgedrehte Kähne liegen, und es war schon Abend. Die Sonne war bereits untergegangen, und Menschen waren nirgends zu sehen.

>Wo kann ich hier übernachten?< dachte der Schneider bei sich. >Ich werde unter einen Kahn kriechen.< Und das tat er auch. Aber, siehe, um Mitternacht flogen drei Hexen herbei, setzten sich auf die Kähne und sprachen: »Was hast du zu sagen, was du und was du?«Da begann die erste: »Ich habe zu sagen: Es lebte ein Vater. Der hatte zwei Söhne. Der Vater starb und vergaß zu sagen, wo sein Geld verborgen sei. Da zankten die Söhne einander, schlugen und rauften sich. Zwietracht und unaussprechlicher Hader erhub sich, und alles um das Geld. Der eine sagte: >Der Vater hat es dir hinterlassen, und du willst es nicht bekennen.< Der andere sagte: >Dir hat es der Vater hinterlassen, und du willst es nicht bekennen.<« —»Und wo ist das Geld?«fragten die beiden andern Hexen. »Unter der Tür bei dem Pfosten. Wer dort nachgräbt, würde es rasch finden.« —»Und was hast du zu erzählen?«fragten sie die zweite. »Ich habe zu erzählen: Ein Zauberer hat aus Ärger durch seine Zauberkunst erreicht, daß in einem Kirchspiel überall das Wasser verschwunden ist. Brunnen, Teiche und Flüsse sind gänzlich ausgetrocknet, und jetzt kostet dort ein Mäßchen Wasser zehn Groschen.« —»Was muß da geschehen, daß sich dort wieder Wasser findet?«fragten



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die beiden andern. »Am Waldesrande liegt ein großer Stein, und wenn einer diesen Stein umdreht, findet sich dort überall wieder Wasser, wie es vordem war.« —»Und was hast du zu sagen?«fragten sie die dritte. »Ich habe etwas sehr Feines zu erzählen: Unsere Königstochter ist krank und ist schon ganz schwach. Die Ärzte fahren aus allen Gegenden hin und her. Aber sie können die Krankheit nicht verstehen.« — »Und was fehlt ihr?«fragten die beiden andern Hexen. »Das ist eine traurige Geschichte. Sobald die Königstochter einschlafen will, schleicht hinter der Wand eine Kröte hervor und saugt die Brust der Königstochter aus. Wenn einer die Kröte totschlüge, sie kochte, zerriebe und das Mehl der Königstochter reichte, dann wird sie nach acht Tagen wieder völlig gesund sein.«

Der Schneider, der unter den Kahn gekrochen war, hörte alles. Als die Hähne krähten, flogen die Hexen davon. Der Schneider aber kroch unter dem Kahn hervor und ging weiter seines Wegs. Er wanderte und wanderte. Gegen Abend kam er in ein Dorf. Da hörte er: »In einem Gehöft streiten sich zwei Brüder den ganzen Tag.« Er fragte sie: »Weshalb zankt ihr euch?«Da antworteten sie: »Wir zanken uns aus folgendem Grunde: Wir haben eine schöne Wirtschaft. Alles geht nach unserem Wunsche. Nur wissen wir nicht, wem der Vater bei seinem Tode das Geld hinterlassen hat. Ich sage ihm, und er sagt mir. Deshalb glauben wir einander nicht und zanken uns.« — »Still! Zankt euch darum nicht! Ich will euch zeigen, wo das Geld eures Vaters sich findet. Laßt mich nur heute nacht bei euch bleiben!« — »Sei so gut und sage uns die ganze Wahrheit. Dann geben wir dir dafür die Hälfte des Geldes.« — »Ich danke euch dafür«, entgegnete der Schneider, »aber ich brauche es nicht. Gebt mir nur zu essen!« Am nächsten Morgen hieß der Schneider die Brüder Schaufeln nehmen, führte sie zum Tor und befahl an dem Pfosten zu graben. Sie gingen sofort an die Arbeit, und horch! sie gruben einen Kessel mit Geld aus.

Die Brüder freuten sich unsagbar, vertrugen sich wieder und dankten dem Schneider aus vollem Herzen. Sie boten ihm die Hälfte des Geldes an, aber er nahm nichts davon und blieb nur drei Tage bei ihnen zu Gaste. Dann wanderte er wieder in die Welt hinaus.

Er wanderte und wanderte. Nach einigen Tagen kam er in ein Dorf,



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und er bat sich etwas zu trinken. »Was sollen wir dir geben? Wir möchten dir Bier geben, aber wir haben kein Geld, um was zu kaufen.« — »Was brauche ich Bier?« sagte der Schneider. »Für mich einfachen Mann ist auch Wasser gut genug.« — »Man sieht daraus«, erwiderten die Dorfbewohner, »du bist von weit her und weißt hier keinen Bescheid. Bier fahren sie uns wenigstens aus der Ferne her. Aber mit dem Wasser steht es sehr schlecht. Alle Brunnen, Teiche und Flüsse sind überall versiecht. Es ist die reinste Strafe Gottes!«

»Nun, dann will ich morgen früh versuchen, daß ihr wieder Wasser habt, wie ihr es wünscht.« — »Ist denn das möglich?«fragten sie. »Ja!« antwortete er. Sofort hinterbrachten sie es dem Herrn. Der rief den Schneider zu sich, ließ ihm gut zu essen und gut zu trinken geben und befahl allen, das auszuführen, was der Schneider ihnen gebieten werde. Am nächsten Morgen ließ der Schneider zwanzig und noch mehr Männer zusammenkommen und alle Stangen nehmen. Dann führte er sie nach dem Waldrand und ließ sie einen großen Stein umwälzen, der dort zur Hälfte in der Erde steckte. Sobald sie damit fertig waren, sprudelte sofort Wasser hervor, und alle Brunnen, Teiche und Flüsse füllten sich wieder. Der Herr wußte darauf nicht, wie er dem Schneider danken sollte. Er bewirtete ihn reichlich und wollte ihm Geld geben. Aber er nahm nichts und blieb nur einige Tage zu Gaste. Dann zog er wieder in die Ferne.

Er wanderte und wanderte und kam in eine Stadt. Da fragte er: »Was gibt es hier Neues?« —»Oh, Gott sei Dank, geht sonst alles gut, nur unsere junge Königstochter ist schwer erkrankt, und niemand kann sie heilen.« Der Schneider erwiderte: »Oh, es ist nur eine leichte Krankheit, ich kenne sie und könnte sie auch heilen.«

Sofort hinterbrachten sie das natürlich dem König. — »Was, du Zerlumpter und Zerrissener kannst meine Tochter heilen?« fragte der König. »Ärzte aus allen Gegenden kamen mit vier und sechs Rossen herbeigefahren und konnten sie nicht gesundmachen, und du versprichst, das zu tun? Ist das möglich?« —»Ja, Herr König, ich kann sie heilen. Gebt mir nur ein Zimmer und laßt mich mit ihr acht Tage allein!« —»Wenn du meine Tochter gesundmachst«, erwiderte der König, »gebe ich dir mein halbes Königreich.« — Gut. Er verschloß sofort das



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Zimmer, heizte den Ofen und wartete. Sieh, da kroch hinter der Wand eine häßliche Kröte hervor. Der Schneider wartete nicht lange, er griff nach dem Kohlenhaken, und krach! er schlug das Tier tot. Dann briet er es in einer Pfanne, zerrieb es und gab der Jungfrau nach und nach von dem Mehl. Der Jungfrau ging es sofort besser und immer besser. Nach zwei Tagen konnte sie sich schon hinsetzen, nach sechs Tagen ging sie schon spazieren, wobei sie sich auf die Arme des Schneiders stützte. Nach acht Tagen sandte der König Diener, die nachsehen sollten, ob die Jungfrau noch lebe. Die meldeten dem König, sie ginge mit dem Schneider spazieren. Der König glaubte das nicht und sandte andre Diener. Die meldeten ihm das Gleiche. Da kam der König selber herbeigeeilt, um nachzusehen. Da erkannte er die ganze Wahrheit. Die Jungfrau war gesund und voller Freude. Der König wußte nicht, wie er dem Schneider danken sollte. Er schenkte ihm sogleich das halbe Königreich. Auch die Jungfrau wollte sich nicht mehr vom Schneider trennen. »Ich werde ihn heiraten«, sagte sie. Und genug damit. Nichts war dagegen zu machen. Der König vermählte den Schneider mit seiner Tochter. Von nun an lebte der Schneider das erste, zweite und dritte Jahr voller Freuden und herrschte über sein halbes Königreich.

Während er so lebte, verstrichen die zehn Jahre, seitdem er sich von seinem Bruder getrennt hatte. Er dachte daran und erzählte es dem Könige, wie es ihm ginge und daß er seinen Bruder durchaus wiedersehen müsse.

Das erlaubte ihm der König, und der Schneider nahm zwei Abteilungen Soldaten und ritt von dannen. Er ritt und ritt, und nach einigen Wochen oder Monaten kam er zu einem Kreuzweg. Da wartete schon der Schuster auf ihn. Beide Brüder umarmten sich voller Liebe, und einer fragte den andern: »Was hast du verdient?« —»Ich«, sagte der Schuster, »habe wenig verdient, aber um so mehr Not gelitten.« —»Und ich«, sagte der Schneider, »habe ein halbes Königreich erhalten, außerdem habe ich zwei Abteilungen Soldaten und die Königstochter zur Frau. Komm mit mir! Du erhältst von mir die Hälfte meines Reiches, ferner gebe ich dir eine Abteilung Soldaten, und wir werden schön miteinander leben.« — »Wie hast du das alles erreicht?«fragte der Schuster. Da erzählte er, wie alles gekommen war. Der Schuster dachte bei sich: >Mein Bruder hat



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ein halbes Königreich erhalten. Am Ende bekomme ich ein ganzes. Ich muß es nur versuchen.<Darauf dankte er seinem Bruder und ging von dannen. Er fand den Fluß, den See und die drei umgedrehten Kähne, genau so, wie es sein Bruder gesagt hatte. Dann wartete er die Nacht ab und kroch unter einen Kahn. Um Mitternacht flogen die drei Hexen herbei und sprache unter sich: »Was hast du zu erzählen, was du und was du?« Die erste sagte: »Ganz wunderbar, bei mir ist alles in Ordnung!« —»Auch bei mir«, sagte die zweite. »Auch bei mir«, sagte die dritte. »Wer hat denn das getan? Ist nicht etwa ein Mensch hier?« Sie drehten den ersten Kahn um - nichts war zu sehen, sie drehten den zweiten um, auch da war nichts zu sehen, sie drehten den dritten um und fanden darunter den Schuster. Sogleich fielen sie über den Armen her und zerrissen ihn. Der Schneider aber wurde glücklich, herrschte über sein halbes Königreich und lebt noch heute.


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