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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Von einem Königssohn und seinem ungetreuen Diener

Es war einmal ein Königssohn mit Namen Jonas. Der hatte sehr große Lust, in die Welt zu wandern, und er bat beständig seinen Vater um die Erlaubnis. Aber der Vater erlaubte es ihm nicht, bevor er zwanzig Jahre alt war. Dann segneten ihn die Eltern für seine große Reise und gaben ihm einen Diener als Begleiter. Der Königssohn sagte zu seinen Eltern: »Lebet wohl!«und ritt von dannen. Als er einige Meilen geritten war, sah er, wie ein Adler eine Taube fing. Er nahm sein Gewehr von der Schulter, zielte und schoß den Adler. Die Taube blieb leben und sagte: »Ich danke dir, mein lieber Freund, du hast mich von einem Zauberer errettet, der sich in einen Adler verwandelt hatte und mich greifen wollte. Denn ich bin die Tochter des Ritters >Unsichtbar<, die in eine Taube verwandelt ist. Mein Vater wird es dir lohnen. Wenn du in Not bist, rufe nur: >Ritter Unsichtbar, komm mir zur Hilfe!<Sofort wird er dann bei dir sein und wird tun, was du wünschst!«Nach diesen Worten verschwand die Taube, und der Königssohn ritt seines Wegs.

Als er lange Zeit durch die Welt geritten war, kam er an eine große Wüste. Da er nicht achtgab, ritt er immer tiefer hinein. Den ganzen Tag



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war der Königssohn schon durch die Wüste geritten. Da wollte er trinken. Es war aber nirgendwo Wasser zu sehen. Denn alle Niederungen waren infolge der Dürre ausgetrocknet und nur in den tiefen Gruben war feuchte Erde, aber Wasser nicht ein Tropfen. Lange Zeit suchte der Königssohn so nach Wasser. Schließlich fand er einen sehr tiefen Brunnen. Er rief seinen Diener und hieß ihn in den Brunnen steigen, um Wasser zu schöpfen. Der Diener aber erwiderte ihm: »Ich steige nicht hinein, denn du kannst mich nicht wieder herausziehen; besser du steigst hinein, dann ziehe ich dich heraus.« Der Königssohn hörte auf die Worte des Dieners, ließ sich in den Brunnen hinab und erquickte sich. Dann schöpfte er Wasser für seinen Diener und bewegte den Strick, damit er ihn wieder aus dem Brunnen zöge. Aber der Diener antwortete ihm: »Königssohn, von klein auf bis heute lebtest du in großem Glück und ich immer in Not. Jetzt sei du mein Diener, und ich bin an deiner Statt Königssohn! Sonst werde ich dich ertrinken lassen.« Der Königssohn dachte nach und sagte: »Ich werde dein Diener sein, zieh mich nur aus dem Brunnen!« Da der Diener den Worten des Königssohnes nicht traute, so ließ er in den Brunnen ein Stück Papier mit einem Bleistift hinab und ließ ihn die Worte schreiben: »Der den Brief vorzeigt, ist der richtige Königssohn namens Jonas mit seinem richtigen Diener, den ihm der König als Begleiter gab.« Der Diener warf einen flüchtigen Blick auf die Schrift und steckte sie in seinen Busen. Dann zog er den Königssohn aus dem Brunnen, vertauschte mit ihm Kleider und Pferd, und dann ritten sie immer weiter durch die Wüste. Schließlich kamen sie an einen Königshof.

Der angebliche Königssohn ging in den Palast, begrüßte den König und sagte: »Ich habe eine solche weite Reise nur deshalb unternommen, damit du mir deine Tochter zur Frau gibst. Sonst werde ich dir den Krieg erklären.« — »Lieber Freund«, sagte der König, »du weißt nicht, daß ich in großer Not bin. Meine Feinde haben mein Heer besiegt, und jetzt fordern sie von mir viel Geld. Besieg meine Feinde! Dann will ich dir gern meine Tochter zur Frau geben.«Der falsche Königssohn ging ganz heimlich in den Stall zu seinem Diener und bat ihn, er sollte hinreiten und das Heer bekriegen, das vor der Stadt stünde. Da zog dieser ritterliche Kleider an, setzte sich auf sein Pferd, ritt aus der Stadt und rief:



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>Ritter Unsichtbar, komm mir zur Hilfe!« — »Hier bin ich«, antwortete der Ritter und stand neben dem Königssohn. »Ich danke dir, lieber Freund, weil du meine Tochter von einem Zauberer befreit hast. Für diese Wohltat will ich dir helfen.«Nach diesen Worten gab der Königssohn ihm seinen Säbel, und er nahm den des Königssohns, und sogleich begann ein furchtbarer Kampf. Die Soldaten der Feinde fielen wie die Bäume, und nach einer Stunde war das ganze Heer erschlagen. Der Königssohn dankte dem Ritter und ritt in den Stall zurück, um sich auszuruhen.

Die Königstochter, die der Vater dem falschen Königssohn versprochen hatte, schlief die ganze Nacht nicht, sondern sie stand auf der Freitreppe und sah und hörte alles. Sie sah, wie der falsche Königssohn seinem Diener vor seinem Ausritt Ritterkleider anlegte, wie er dann wieder nach Hause kam und ihn wieder entkleidete. Sie hörte auch, wie sie über das Schriftstück sprachen, das er in dem Brunnen geschrieben hatte. Aber bisher hatte sie geschwiegen. Am nächsten Morgen ging der falsche Königssohn zum König und rühmte sich, er habe das ganze Heer der Feinde erschlagen. Der König reichte ihm vor Freude die Hand und versprach ihm die Hälfte seines Königreiches und seine einzige Tochter. Als die Königstochter eine solche Rede hörte, umarmte sie den Diener des angeblichen Königssohnes, führte ihn zum König und sagte: »Erlauchter König und Vater, der hat uns geholfen und ist der richtige Königssohn, und dieser Schelm hat den richtigen Königssohn belogen und betrogen. Ich habe heute nacht alles gehört und gesehen. — Der angebliche Königssohn soll das Beglaubigungsschreiben seines Königreiches zeigen!«

Der Königssohn aber zog sofort das in dem Brunnen geschriebene Schriftstück aus dem Busen und reichte es dem König.

Der König nahm es in seine Hand und las mit lauter Stimme: »Der den Brief vorzeigt, ist ein Schelm und Lügner. Der Diener des Königssohnes Jonas, der selbst ein Diener geworden ist. Dieser bittet in seiner Not den Leser, den Schelm und Betrüger gerecht zu bestrafen. Der Brief wurde von dem Königssohn Jonas im Brunnen geschrieben.«Als der falsche Königssohn diese Worte hörte, fiel er dem König zu Füßen und bat ihn um sein Leben. Aber die Diener des Königs ergriffen ihn



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und ließen ihn von Pferden zerreißen. Aber der wahre Königssohn Jonas heiratete die Tochter des Königs und erhielt das ganze Königreich.


Copyright: arpa, 2015.

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