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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Wie ein Mädchen als Hexe viele Jünglinge zu Tode quält

In einem Dorfe wohnte ein Bauer. Der hatte eine wunderhübsche Tochter. Jede Nacht suchte er einen Jüngling, der bei seiner Tochter schlafe, und er machte für die Nacht jedesmal dreihundert Dukaten aus. Aber wer auch zu ihr ging, am Morgen fand man ihn tot. Einst beschloß ein armer Knecht, drei Nächte bei dem Mädchen zu ruhen. Als es Abend war, ging er zur Tür des Schlafgemachs und klopfte an. Das Mädchen sprang aus dem Bett, öffnete die Tür und warf einen Zaum auf ihn. Sogleich wurde der Knecht ein Roß. Dann setzte sich das Mädchen auf ihn und ritt und ritt durch Felder, durch Wälder, immer dort, wo der Weg am schlechtesten war, oder durch sumpfiges Moor. Und solange ritt sie ihn, bis der Hahn krähte. Dann ritt sie zurück zur Tür ihres Schlafgemachs, streifte den Zaum ab, und er ward wieder ein Knecht wie vordem. Das Mädchen hatte den armen Knecht so sehr gepeinigt und gequält, daß er fast wie tot in das Schlafgemach hineinkroch. Er dachte bei sich: >Wie wird es dir in den beiden anderen Nächten ergehen? Aber du kannst nicht zurück.<Es nahte der zweite Abend. Der Knecht ging wieder zu dem Mädchen. Dabei mußte er durch ein Gebüsch und kam zu einer Hütte. Dort wohnte eine alte Frau. Die Leute erzählten sich von ihr, sie wäre eine Zauberin. Der Knecht sagte zu ihr, er habe sich verpflichtet, bei dem Mädchen drei Nächte zu ruhen.



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Aber in der vergangenen Nacht habe ihn das Mädchen so geritten, daß er kaum am Leben geblieben sei. Die Alte antwortete: »Ich kenne das Mädchen. Sie hat schon viele Burschen zu Tode gequält. Nur gut, daß du zu mir kommst. Ich will dir helfen.«Die Alte gab dem Burschen einen Zaum und befahl ihm, wenn das Mädchen die Tür öffnete, nicht zu warten, bis sie warf, sondern ihr sogleich den Zaum umzulegen; dann würde sie in eine Stute verwandelt werden. Der Bursche bedankte sich und ging zu dem Mädchen. Als sie die Tür öffnete, wollte sie sogleich den Zaum auf ihn werfen, er wartete es aber nicht ab, sondern warf ihr seinen Zaum um, und das Mädchen ward zu einer Stute.

Da setzte sich der Bursche auf sie und ritt auf ihr durch Gebüsche, Dornen, über Steinhaufen, und immer schlug er mit der Peitsche. So ging es die ganze Nacht. Schließlich ritt er gegen Morgen nach Hause zum Schlafgemach und nahm ihr den Zaum ab. Da ward sie wieder ein Mädchen und seufzte, und halbtot schlüpfte sie auf dem Bauche in ihre Schlafkammer und legte sich zu Bett. Der Vater des Mädchens kam in die Kammer und fragte: »Hast du gut geschlafen?« —»Gut!« antwortete fröhlich der Bursche. Der Vater sah, daß seine Tochter krank war, und schlich betrübt aus der Kammer.

Es kam der dritte Abend. Der Bursche kam und dachte: >Wie wird es heute gehen? Sie weiß, daß ich einen Zaum habe, heute kann ich sie nicht betrügen. Ich muß also wieder zu der Alten gehen.< Das tat er dann auch. Sie gab ihm einen anderen Zaum und sagte: »Sobald du zu ihr kommst, klopfe an die Tür und schmiege dich an die Türpfosten! Und wenn sie dann öffnet, wirf sogleich den Zaum auf sie! Triffst du, dann gut! Triffst du aber nicht, dann wehe dir!« Er dankte der Alten und ging von dannen. Sobald der Bursche angelangt war und an die Tür geklopft hatte, schrie das Mädchen: »Warte, ich finde meine Strümpfe nicht!« Im selben Augenblick öffnete sie jedoch die Tür und warf den Zaum, aber da sich der Bursche an den Türpfosten geschmiegt hatte, verfehlte ihn der Zaum und flog in den Hof. Sofort warf er seinen Zaum auf sie, und das Mädchen wurde wieder eine Stute. Der Bursche setzte sich auf sie, und wie der Wind ritt er hinaus. Er ließ die Stute laufen und hieb auf sie ein, daß sie sich am Morgen halbtot in ihre Kammer schleppte. Als der Bursche abstieg und ihr den Zaum abnahm, ward sie



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sogleich wieder ein Mädchen, aber es dauerte gar nicht lange, da sank sie zu Boden, schüttelte ihre Füße und erstarrte. Da kam der Vater aus der Hütte und sagte zu dem Burschen: »Du hast meine Tochter zu Tode gequält, nun begrab sie auch, dann will ich dir das ausbedungene Geld bezahlen.«

Als es Abend geworden war, wollte sich der Bursche daranmachen, das Mädchen zu begraben. Denn ein anderer tat es nicht. Er ging aber zuvor zu der Alten und sagte ihr, das Mädchen sei gestorben, und er müsse es jetzt begraben.

»Gut, mein Sohn!« antwortete die Alte, »ich will dir ein Buch und eine Kerze geben, und wenn du zu ihr kommst, steig sogleich auf den Ofensims, zieh mit der Kerze einen Kreis um dich, brenne sie an und lies laut Gebete aus dem Buch?« Der Bursche dankte der Alten und tat so, wie sie es ihm gesagt hatte. Als es dunkel geworden war, erhob sich das Mädchen aus dem Sarge und weinte, und die Teufel kamen von überall herbei. Es waren ihrer so viele, daß die Hütte gestopft voll war. Alle streckten die Nasen vor und schnüffelten. Das Mädchen aber sagte: »Sucht ihn! Er ist hier.«Überall suchten sie ihn. Sie krochen unter den Ofen, unter die Bänke und stachen mit Nadeln in die Spalten, aber sie fanden ihn nirgends. Auch das Mädchen taumelte und taumelte nach allen Seiten und schrie dabei. Als der Hahn krähte, fiel sie tot in den Sarg zurück, und alle Teufel verschwanden. Nur der Bursche blieb zurück. Am Morgen trat des Mädchens Vater ins Zimmer und fragte ihn: »Nun, hast du ausgehalten?« —»Ja, Väterchen, aber genügt nicht bloß diese Nacht? Denn es ist ganz schrecklich.« — »Nein, nein! Halte alle drei aus!« Der Alte ließ ihn nicht weiter sprechen und ging hinaus. Auch der Bursche lief nach Hause, wo er den Tag über blieb. Am Abend machte er sich wieder an die Beerdigung. Zuvor ging er aber zu der Alten. Die gab ihm die andere Kerze und hieß ihn zwei Kreise um sich ziehen. Er dankte ihr für den Rat, zog die zwei Kreise und begann zu beten. Als es dunkel geworden war, stand das Mädchen sogleich vom Totenbrett auf und weinte. Auf ihren Ruf brauste eine zahllose Menge von Teufeln herbei. Das Mädchen schrie mit unmenschlicher Stimme: »Sucht ihn! Hier ist er.« Die Teufel suchten und suchten. Als der Hahn krähte, fiel das Mädchen zur Erde, und die Teufel flogen



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durch die Bodenluke hinaus. Dann ging des Mädchens Vater in die Stube und sah, daß die Tote an der Erde lag. Er brüllte auf den Knecht ein und sagte: »Als sie noch lebte, hast du sie gequält, und jetzt gibst du der Toten keine Ruhe. Hüte dich und achte darauf, daß das nicht wieder geschieht!«


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