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Kapitel 

Schweizerisches

Sagenbuch.


Nach

müdlichen Ueberlieferungen, Chroniken und andern gedrukten and handschriftlichen Quellen herabgegeben


und mit

erläuternden Anmerkungen begleitet von


C. Kohlrusch.

Leipzig,

Rob. Hoffnann

1854.


9. Das Wütisheer.


Mündliche Mittheilung.

Vom Rothenthal zwischen Hasli und Grindelwald über die Scheideck hinweg hört man ost das Brausen des wüthenden Heeres oder das Wütisheer, wie man es hier nennt. Am ärgsten treibt es jedoch seinen Spuck um die heilige Weihnachtszeit. Mächtige Riesen, Ureinwohner des Landes, Wesfriesen genannt, führen den nächtlichen Zug an, dann kommen Zwerge von scheuslicher Gestalt, reitend auf allem möglichen Ungethier und die Geister aller jener Fluchbeladenen, denen die Sage das Rothenthal und den Roththalgletscher als Aufenthaltsort anweist. Wenn aber der heulende Sturm das Nahen dieser wilden Jagd verkündet, müssen oben auf der Scheideck, da wo der Weg nach Gassen und dem Faulhorn führt, diesem Geisterspuck die Thore des Melkhauses geöffnet sein. Wehe dem Hause, wenn dies nicht geschieht.

Sagen von nächtlichen Geisterzügen, welche sich zu gewissen Zeiten des Jahres mit furchtbarem Getöse in der Luft hören lassen, sind nicht nur in der Schweiz, sondern unter allen Himmelsstrichen daheim. Ueberall aber, wo man sie antrifft, verdanken sie ihre erste Entstehung den tönenden Luftschwingungen, die größern Veränderungen der Temperatur vorherzugehen pflegen; daher es auch in der Sage vom Wütisheere heißt, daß es am tollsten zur Weihnachtszeit sein Wesen treibe, zu welchem Zeitpunkt heftige nächtliche Stürme den Anfang des Winters zu verkünden pflegen. Was nun die Sage vom wüthenden Heere oder Wütisheere, wie es im berner Oberlande genannt wird, an sich selbst betrifft, so ist dieselbe uralt und hängt mit der höchsten Gottheit unsrer heidnischen Voreltern, dem Wodan, in engem Zusammenhange, wie denn auch seine Benennung, wüthendes Heer, süddeutsch: Muotes-Heer, ursprünglich nichts anderes als Muotane-Heer bedeutet. Unter andern Aeußerungen seiner Alles durchdringenden Kraft dachten sich nämlich



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unsere Vorfahren den Allvater Odin, Othan, Wuotan oder Wodan auch als Lenker der Schlachten und als Führer der im Kampfe gefallenen Helden bei ihren himmlischen Jagdvergnügungen in Walhalla, die sie über ihren Häuptern im Geräusch der Lüfte vernahmen. Zu Schonen wird noch heutigen Tages ein eigenthümliches, wahrscheinlich von Seevögeln herrührendes Getöse, das sich an den Abenden des Dezembers hören läßt, Odens jagt genannt. Von dem siegenden Christenthum wurde jedoch später die sinnige Mythe, in welche das Heidenthum die Naturerscheinung des heulenden Sturmwindes eingekleidet hatte, verdunkelt, indem es auch hier, wie überall, wo die Reste des alten Glaubens nicht gänzlich verdrängt werden konnten, dieselben durch häßlich entstellende Zusätze oder Veränderungen in eine andere Grausen erregende Fassung zu bringen suchte. So verwandelte es den allmächtigen Himmelsgott Odin oder Wodan in den Teufel und die von ihm angeführten Geister der selig dahin geschiedenen Helden in die Seelen ewig Verdammter, die als wüthendes Heer, jene Gottheit in ihrer neuen Gestalt an der Spitze, abergläubische Gemüther in diesem Augenblick noch mit Angst und Schrecken erfüllen. Daß aber der Teufel in obiger Sage sein Amt als Anführer des wüthenden Heeres den riesenmäßigen Ureinwohnern des Landes abtritt (die Vorstellung, daß Riesen seine Anführer sind, ist in der Schweiz überhaupt die allgemeinere), liegt in dem engen Anschluß, der nach christlich mythischer Anschauungsweise zwischen der Vorstellung vom Teufel und der von den Riesen stattfindet, ein Punkt, auf welchen später zurückzukommen ist.Eine interessante Zusammenstellung von tönenden Lufterscheinungen , die dem wüthenden Heere analoge Mythen in's Dasein riefen, bringt F. Nork nach einer von dem Universitätskanzler Autenrieth in Tübingen herausgegebenen Sammlung von Zeugnissen glaubwürdiger Reisender über die sogenannten "Stimmen aus der Höhe". So erzählt der Engländer Davy, daß er im April auf Ceylon zu Anfang der dortigen Regenzeit im flachen, waldigen Theil der Insel den "Dämonenvogel " der Eingebornen gehört habe, der noch Niemand zu Gesichte gekommen sei. Sein Geschrei drückt den größten Jammer aus, daher er den Einwohnern als Todesbote gilt.Der Holländer Hafner hörte, gleichfalls auf Ceylon, als er das gebirgige Hochland der Insel zu Ende der Regenzeit durchwanderte, um Mitternacht ein fernes Hundegekläffe, das aus den gegenüberliegenden Bergen hervorzubrechen schien. Dies Geräusch wurde bald laut und lauter, bald glaubte er lachende, bald schwatzende Menschenstimmen zu vernehmen. Alle diese Töne kamen und schwanden in einigen Minuten wechselsweise wieder in die Nähe und in die Ferne, bald dünkten sie ihm aus der Höhe herabzuschweben, bald tief aus der Erde herauf zu wimmern.



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Plötzlich trat Todtenstille ein, bis eben so plötzlich wieder Stimmen durch die Luft schallten, die das Echo der benachbarten Berge beantwortete . Hierauf ertönte dicht hinter der Klippe, unter welcher er Schutz gesucht, ein so gellender Schrei in seine Ohren, als Sollte sein Trommelfell zerreißen. Außer sich stürzte er unter seinem Felsenobdach hervor. Da war es, als ob hundert durcheinander kreischende Töne, so falsch, so fremd, so unerhört ihm in Nacken schwirrten, daß er eilig, die Finger in den Ohren, in die Grotte zurücksprang. In Jaffanapatnam hörte er später, daß ähnliche Stimmen im Gebirge und an den Ufern des Mawelingangastroms nichts Seltenes wären und nach dem dortigen Volksglauben von dorthin gebannten Geistern hervorgebracht würden. Ein Mecklenburger, Namens Wolf, der zwanzig Jahre auf Ceylon zubrachte und im Jahre 1784 seine Reisebeschreibung herausgab, sowie der Engländer Knox, der im Jahr 1681 ein Werk über diese Insel veröffentlichte, wollen diese fürchterlichen Stimmen gleichfalls gehört haben. Ersterer sagt von ihr: sie laufe so geschwind von einem Orte zum andern, daß weder der Wind, noch ein Vogel solche Geschwindigkeit haben könne. In wenigen Sekunden höre man sie fast eine Viertelstunde weit. Aehnlich läßt sich auch der letztere Reisende aus, nur fügt er noch hinzu: es glaube auch die ganze dortige Welt, der Teufel sei es, der bei Nacht diesen grausenerregenden Schrei ausstoße. Töne wie von Waffengeräusch oder auch wie von verschiedenartigen musikalischen Instrumenten wurden von mehrern Reisenden in der Wüste Kobi bemerkt, welche das schneebedeckte, gebirgige Tibet von den mildern Gegenden Asiens abgrenzt, und Morier, der zu Anfang dieses Jahrhunderts Persien bereiste, gedenkt einer hochgelegenen Salzwüste in der Nähe der Stadt Khom, in der Reisende durch das Geschrei eines Gespenstes, von den Einwohnern Ghul benannt, verlockt und zerrissen würden. Russische Nachrichten über Chiew wissen von einer in einem salzigen Sumpfe zwischen dem kaspischen Meere und dem Aralsee liegenden Insel zu erzählen, die in Folge von Hundegebell und verschiedenen andern Thierstimmen, welche sich dort des Nachts hören lassen, als der Aufenthaltsort böser Geister von den Reisenden gemieden wird. Im westlichen Asien sind diese tönenden Lufterscheinungen oder Stimmen aus der Höhe nicht weniger bekannt. Bei den Rabbinen tritt die Bath Kol (die Stimme aus der Höhe) an die Stelle der frühern direkten Offenbarung und einer solchen schrieb Paulus seine Bekehrung zu. Endlich wußten die Mönche des auf dem Berge Sinai gelegenen Klosters dem Reisenden Burkhardt, der ihn im Jahre 1816 bestieg, viel von einem donnernden Lärm zu erzählen, der sich zu etlichen Malen von seinem Gipfel herab habe vernehmen lassen. Wohl möglich, daß dieser Schall in der mosaischen Zeit



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als Sprache des sich seinem Volke offenbarenden Gottes galt. Aehnliche donnernde Töne hörte Pater Gilii im Jahr 1782 an den Ufern des Orinoko in Südamerika und die Holländer an der Südspitze von Afrika, am Vorgebirge der guten Hoffnung, nannten einen Berg den Teufelsberg , wegen des Getöses, das man dort vernimmt.Wie wir sehen, sind alle diese merkwürdigen Naturerscheinungen in ihren Grundzügen dieselben, nur daß die hie und da vernommenen Töne je nach der Beschaffenheit des Landes eine mehr oder minder grausenerregende Wirkung hervorbringen, von der sich die Phantasie beim Entwerfen ihrer mythischen Vorstellungen gewöhnlich auch leiten ließ. Sagen von Wütisheer knüpfen sich im Kanton Bern noch an verschiedene Lokalitäten, so unter anderen an dem Büttenberg und an dem Hühnliwald, links an der Straße nach Thun, wo, antiquarischen Angaben nach, in heidnischer Zeit eine Opferstätte gewesen sein soll. Analog dem Wütisheere sind die nächsten zwei Sagen, welche, da sie die fast gleiche auf Naturerscheinungen basirte Erklärung finden, ohne weitere Erläuterung hier folgen mögen.
Copyright: arpa, 2015.

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