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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Gottes Schwiegersohn und der Richter

Ein Vater hatte einen Sohn. Einmal, um die Frühjahrszeit, nahm der Gutsherr dem Vater sein Gesinde, so daß der Arme betteln gehen mußte. Der Sohn ging dann auch in die Welt hinaus und verdang sich bei einem Geistlichen als Knecht. Nach drei Jahren erhielt er vom Geistlichen drei Groschen Lohn und schickte sich an, fortzugehen. Im letzten Augenblick kam ihm noch der Gedanke, am Brunnen zu trinken; aber -verdammt! —während er trinkt, fallen ihm seine drei Groschen, plumps!, in die Tiefe. Der Geistliche, der das Unglück seines Knechtes vom Fenster mit angesehen hatte, sagte: »Willst du, mein Söhnchen, deine Groschen zurückbekommen, so mußt du weitere drei Jahre dienen: in jedem Jahr kannst du dir einen Groschen zurückschöpfen.«

So geschah es; als der Bursche nach abermals drei Jahren fortzog, gab ihm der Geistliche seine zurückverdienten Groschen, dazu eine kleine Spritze, ein Tüchlein und folgenden Rat: »Zieh in das Spritzchen Wasser, spritz damit einen Strahl rings um dich her und breite das Tüchlein unter deinen Kopf, so wird dir kein Leid widerfahren.«



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In der ersten Nacht gedachte der Bursche im Walde zu nächtigen. Er tat, wie der Geistliche ihn gelehrt hatte, und schlief ein. Da, um Mitternacht, kommen mit Gebrüll Löwen, doch nicht näher als bis zu dem Bannkreise; sie verbeugen sich ehrerbietig und gehen wieder fort. Nach den Löwen kommen Bären, sodann Wölfe, die machen es ebenso. Als der Morgen dämmerte, kam ein schönes Mädchen an den Kreis, weckte lächelnd mit leiser Stimme den Jüngling und sagte: »Liebes Brüderchen, du kannst wohl zu mir gelangen, nicht aber ich zu dir. Reich mir die Hand und führ mich über den Bannkreis. Fürchte dich nicht, ich bin nicht etwa ein Gespenst, denn ein Gespenst hat nicht Fleisch und Bein.

Der Bursche reichte ihr die Hand, aber nun auch fürs ganze Leben. In seiner Freude über das ihm von Gott geschenkte Liebchen dünkte er sich der Glücklichste auf Erden.

Aber seine Liebste erklärte ihm: »Hier im Walde unter Bären und Wölfen ist unser Glück noch nicht voll. Komm nur mit mir, ich führe dich in Haus, Hof und Feld deiner Väter zurück, und dort wollen wir ein glückliches Leben führen.«

So geschah es, das Gesinde, das seinen Vätern gehört hatte, wurde gefunden. Zwar war die Hütte inzwischen verfallen, aber während er sich nach einem Beil auf den Gutshof begab, entstand ein stattliches Schloß und war die Hochzeit gerüstet. Doch am dritten Tage stellte sich auch schon der Neider ein, und das kam so: Als der in der Nachbarschaft wohnende Richter das ungeheure Glück der jungen Leute sah, lief er auf das Gut und erzählte dem Gutsherrn das Wunder: »Kannst du dir denken, so ein Bube erfrecht sich, auf deinem Gebiet ein Schloß zu errichten. Wirf sie doch hinaus, daß sie sich auf ehrliche Weise ihr Brot verdienen.«Der Herr schickte einen Arbeiter und ließ fragen, wer dort wohne. Man antwortete ihm, der Sohn des armen Mannes. Da sagte der Richter zum Herrn: »Gib diesem Bettlerssohn den Auftrag, einen Bären müde zu reiten; kann er das, so mag er im Schlosse leben.«Aber was will man dem Gerechten zuleide tun? Der Sohn des Armen breitet sein Tüchlein aus und reitet den Bären in Schaum. Als der Bär auf dem Gutshof freigelassen wird, wirft er alles über den Haufen, und der Herr muß noch bitten, daß der Bär wieder fortgeführt wird. So vergehen drei



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Wochen. Danach erschien der Richter wieder beim Herrn. »Wie untersteht er sich, auf deinem Grund und Boden ein Schloß zu bauen! Befiehl ihm, deines Vaters Schatz aufzusuchen. Kann er das, so mag er wohnen bleiben.« Der Sohn des Armen übernahm es, die Stelle zu nennen, wo der Schatz verwahrt sei, das könne jedoch erst nach sieben Jahren geschehen. Er müsse zuerst in den Himmel fahren, um den Vater des Gutsherrn zu fragen, wo er den Schatz verborgen habe. Als der Richter von dieser Absicht hörte, bat er, ihn mitzunehmen. Jener war damit einverstanden. Da schlachtete der Richter eine Menge Vieh und backte sich einen Vorrat Brot, um sieben Jahre damit zu langen, und am dritten Tage fand er sich mit seinen Vorräten an der besprochenen Stelle, im Morast bei einer Tanne, ein.

Der Sohn des Armen hingegen kam nur mit einem kleinen Stöckchen, das seine Frau ihm gegeben hatte, zur Tanne. Er hieß den Richter auf den Wipfel der Tanne steigen, er selbst setzte sich auf die Wurzeln wie in einen Lehnsessel, schlug dann dreimal mit seinem Stäbchen an die Tanne, knauks! knauks! knauks!, und sieh da, die Tanne flog auf wie ein Vogel. Erst vor dem Himmel fiel dem Richter sein großer Vorratssack ein, der unten im Sumpf liegengeblieben war. Spring jetzt hinunter und hol ihn!

Im Himmel fällt ihnen zuallererst ein kleiner Krug (Wirtshaus) ins Auge, vor dem sich zwei raufen. Als der eine von diesen die beiden vorübergehen sah, rief er dem Sohne des Armen mit lauter Stimme zu: »Schwiegersohn Gottes, tritt auch für uns ein!« — »Ich weiß nicht, ob ich Gottes Schwiegersohn bin«, antwortet jener und geht seines Weges weiter. Darauf kommen sie zu einer Mühle, wo Tag und Nacht Hunde heulen. Die rufen ebenso: »Schwiegersohn Gottes, tritt auch für uns ein!« —»Ich weiß nicht, ob ich Gottes Schwiegersohn bin«; so antwortend, geht er weiter. Bald nach der Mühle sehen sie ein großes Feld, wo Mensch an Mensch mit den Nasen pflügen. Die rufen ebenfalls: »Schwiegersohn Gottes, tritt auch für uns ein!« — »Ich weiß nicht, ob ich Gottes Schwiegersohn bin.« —Nicht weit hinter dem Felde erblicken sie ein großes Milchmeer, auf dem Schiff an Schiff steht, alle mit Menschen gefüllt. Das Meer schlägt so gewaltige Wogen, daß man denkt, die Schiffe müßten augenblicklich umschlagen und die Insassen



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ertrinken. Die rufen auch: »Schwiegersohn Gottes, tritt für uns ein.« Endlich gelangen die beiden an das Himmelstor und klopfen an. Gott macht ihnen auf und wundert sich: »Mein liebes Schwiegersöhnchen, was willst du hier?« —»Je nun, mein Herr hat mich hergeschickt, um mich zu erkundigen, wo seines Vaters Geld sich befindet, wenn ich ihm das nicht sagen könne, werde er mir mein Schloß wegnehmen.« —»Ich weiß, ich weiß alles. Sag, war es nicht der Richter, der deinem Herrn diesen Rat eingegeben hat?« —»Ich weiß nicht, ob ihm jemand den Rat gegeben hat«, antwortete der Schwiegersohn Gottes. —»Aber ich weiß es. Darum geh du, gerechter Richter, geradeswegs zu jenem eisernen Karren, spanne den Vater deines Herrn ab und dich selbst für sieben Jahre an seiner Stelle ein, damit der Alte sich inzwischen ausruht. — Aber nun sag, mein Söhnchen, was hast du denn unterwegs hier im Himmel Schönes gesehen?« — »Ich sah vor dem Kruge zwei miteinander raufen.« —»Das sind die, welche sich auf Erden in den Krügen gerauft haben. Die müssen jetzt unaufhörlich bis zum Jüngsten Tage miteinander raufen. Nun, was hast du noch gesehen?« —»Ich hörte an einer Mühle Hunde heulen.« — »Das sind die Gerichtsbeamten und die Vögte, die ohne Grund die Geringen auf Erden gequält haben. Dafür müssen sie hier heulen bis zum Jüngsten Gericht. Was sahst du noch?« —»Ich sah auf dem Felde Menschen mit ihren Nasen pflügen.« — »Das sind die, welche ihrer Nachbarn Gemarkung und Feldscheide umgepflügt oder sonst durch unredliche Mittel Gewinn eingeheimst haben. Dafür müssen sie bis zum Jüngsten Gericht so pflügen. Was sahst du noch?« —»Ich sah ein großes Milchmeer, wo die Leute in ewiger Gefahr zu sinken sind, ohne doch wirklich zu versinken.« —»Das sind Hexen, die bis zum Jüngsten Gericht in Gefahr bleiben, im Wasser unterzugehen.

Nach sieben Jahren gab der Vater des Gutsherrn an, daß sein Schatz, sieben Fässer Gold und sieben Fässer Silber, unter der Kornkammer vergraben sei. Darauf ließ Gott den Richter abschirren und den Vater des Gutsherrn wiederum anschirren. Als das geschehen war, rief der Schwiegersohn Gottes: »Tanne, trag uns vom Himmel auf die Erde hinab.« Beide gelangten wieder auf die Erde.

Des Morgens eilte der Gutsaufseher zum Herrn und meldete ihm, daß



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der Richter wieder zu Hause sei. Sogleich berief ihn der Herr zu sich, aber als er ihn sah, wunderte er sich: »O weh, Brüderchen, wie bist du abgemagert! Rein zu einer Gräte bist du eingeschrumpft! Hat man dir denn im Himmel gar nichts zu essen gegeben? Hast du auch etwas über den Schatz in Erfahrung gebracht?«

»Zu essen habe ich ja wohl bekommen, aber viel war es nicht. Vom Schatz habe ich auch nichts erfahren. Du mußt den Sohn des Armen rufen lassen, vielleicht wird der etwas davon wissen.« Von dem eisernen Karren sagte der Richter kein Sterbenswörtchen.

Nun ließ der Herr den Sohn des Armen rufen und erfuhr von ihm, wo das Geld verborgen war. Der Herr war über den wiedergefundenen Schatz hocherfreut und erlaubte jenem, in seinem Schlosse zu wohnen, solange es ihm gefiele. Nach einigen Wochen erschien der Richter wieder bei dem Gutsherrn: »Weshalb erlaubst du ihnen, dort zu wohnen? Weißt du was, wir wollen von den Arbeitern einen großen Kessel mit Pech füllen lassen, ein ordentliches Feuer darunter anheizen, und dann sollen die beiden dort hineinspringen.«Alles wurde getan, wie er gesagt hatte, aber die beiden brannten nicht im Pech, sie plätscherten darin wie in einem Bade und lasen ohne Ende goldene Dukaten in ihre Taschen. »Herr«, rief der Richter, als er das sah, »das ist dein Kessel, dein Pech und Holz, wie können sie daraus goldene Dukaten lesen?« —»Sie gehören wohl mir«, erwiderte der Herr, »aber was ist dabei zu machen?« — »Was dabei zu machen ist? Laß sie herauskommen, und wir wollen hineinspringen, die Dukaten zu sammeln.« —»Ja, das wollen wir tun!« Aber wie nun die beiden hineinsprangen, so schmoren sie noch bis zu dieser Stunde. Dem Sohn des Armen blieb sein Schloß, und das Gut des Herrn, mit allem, was dazugehörte, fiel ihm noch obendrein zu.


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