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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Die alten Leute auf dem Berge

In alten Zeiten herrschte in einem Kaiserreich die Sitte, die Menschen, wenn sie alt waren und nicht mehr arbeiten konnten, in die Berge zu tragen, wo sie Hungers sterben mußten. Ein Jüngling lud, dieser Sitte gemäß, seinen Vater auf seine Schultern und trug ihn in die Berge. Als er ihn an eine gewisse Stelle gebracht hatte, hob er ihn von seiner Schulter und legte ihn auf den Boden.

»Ich bitte dich, Sohn«, sagte der Alte, »laß mich nicht an dieser Stelle sterben, sondern trage mich ein wenig höher.«



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»Warum paßt dir diese Stelle nicht, Vater?«fragte der Jüngling.

»Aber, lieber Sohn, wie kann jemandem das Grab seines Vaters gefallen?« fragte der Vater. »Als ich in deinen Jahren war, habe ich meinen Vater auch hierhergebracht, als er alt geworden war, damit er Hungers stürbe, so, wie ich jetzt sterben werde. Schau, mein Kind, deshalb will ich nicht, daß du mich hier lassest. Ich bitte dich, gehorche mir noch dieses eine Mal und trage mich ein wenig höher.«

Auf die Bitten des Alten trug ihn der Sohn ein wenig höher hinauf in die Berge. Doch als er ihn so trug, überlegte er die Worte seines Vaters und sagte sich: >Verflucht sei der Mensch, der diese Sitte eingeführt hat, daß man die eigenen Väter in die Berge trage und sie dort Hungers sterben lasse, ohne daß wir denken, daß der Mensch das, was er einem anderen zufügt, auch selbst zurückerhält. Wird mein Sohn mich auch hierhertragen, wenn ich alt bin, wie ich es meinem Vater tue? Werde auch ich Hungers sterben? Nein, ich werde meinen Vater wieder nach Hause tragen. Ich werde ihn pflegen, und er soll sterben, wann er will. Vielleicht werde ich mit dem, was ich tue, diese Sitte abschaffen. Damit mich aber meine Freunde und Nachbarn nicht verlachen, werde ich meinen Vater heimlich nach Hause bringen und verborgen halten.< Als er alles genau überlegt hatte, trug er seinen Vater abends in der Dämmerung wieder nach Hause. Zu Hause legte er ihn in ein Zimmer und pflegte ihn so, wie man seinen Vater pflegt. Niemand, kein Nachbar und kein Freund, wußte, daß der Jüngling seinen Vater wieder im Hause hatte. Jeden Abend, wenn der Jüngling vom Basar nach Hause kam, befragte er seinen Vater über die Dinge, die er an diesem Tage gesehen und gehört hatte. So lernte er täglich etwas von seinem Vater. Der Jüngling bedankte sich sehr, und sein Vater wunderte sich darüber.

Der Kaiser, der in dieser Stadt lebte, war sehr traurig darüber, daß man die alten Leute in die Berge trug, um sie dort Hungers sterben zu lassen. Doch da es beim Volk einmal eine Sitte war, konnte der Kaiser nichts ausrichten. Trotzdem überdachte und überlegte er, wie er die Söhne davon abbringen könnte, ihre Väter in die Berge zu tragen. Deshalb beschloß er, alle Söhne, die einen alten Vater hatten, zu zwingen, eine Kette aus Sand zu machen. Er befahl, es sollten sich alle diese Söhne an einem bestimmten Tage versammeln, die, die noch einen Vater hatten, und die, die keinen mehr hatten. Als sie den Befehl des Kaisers hörten, traten alle Söhne vor den Kaiser.



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»Hört zu«, sagte der Kaiser. »Ich will, daß ihr mir eine Kette aus Sand machet. Ich gebe euch drei Tage Zeit. Wenn ihr sie macht, ist es gut, wenn nicht, werde ich euch die Köpfe abschlagen lassen.«

Als die jungen Männer dies hörten, verneigten sie sich vor dem Kaiser und machten sich daran, eine Kette aus Sand anzufertigen. Alle kamen an einer Stelle zusammen und begannen die Kette aus Sand. Sie klebten und klebten, aber es gelang ihnen nicht, aus dem Sand eine Kette zu machen.

An den beiden ersten Abenden sprach der Jüngling, der seinen Vater wieder aus den Bergen heimgetragen hatte, kein Wörtchen mit seinem Vater.

Der Alte sagte ihm: »Geliebtes Kind, warum bist du seit zwei Abenden so stumm und traurig?«

»Wie sollte ich fröhlich sein?«entgegnete der Jüngling. »Ich habe ja nur noch bis morgen zu leben. Denn morgen wird uns der Kaiser alle umbringen, weil wir keine Kette aus Sand machen können.«

»Hmm, deshalb also bist du in Sorgen! Gut, daß ich lebe«, sagte der Alte. »Sieh, ihr sagt dem Kaiser folgendes: >Erlauchter Kaiser, wir haben angefangen, eine Kette aus Sand zu machen, doch unsere Arbeit hat keinen Sinn. Denn niemand weiß, ob dir die Kette gefallen wird, die wir begonnen haben. Deshalb sind wir gekommen, dich um ein Muster zu bitten, damit wir wissen, welch eine Kette wir dir machen sollen, eine dicke oder eine dünne.<

Als der Kaiser die Worte des Jünglings hörte, trat er zu ihm und fragte ganz verwundert, wie er zu diesen Worten gekommen wäre.

»Jüngling«, sagte der Kaiser, »wie kamst du zu diesen Worten, die du mir gesagt hast? Sage es mir, damit ich wisse, von wem du diese Worte gehört hast.«

Der Jüngling erzählte freudig dem Kaiser, sein Vater hätte sie ihn gelehrt. Der Kaiser fragte ihn genau aus, was er mit seinem Vater gemacht hätte. Der Jüngling erzählte ihm, wie er seinen Vater auf den Schultern in die Berge getragen, was der Vater ihm dort gesagt und wie er ihn wieder heimgebracht hatte und wie ihm der Vater geraten, was er dem Kaiser sagen sollte. Schließlich sagte er: »Siehe, erleuchteter Kaiser, das habe ich von meinem Vater gelernt.«

Als der Kaiser hörte, daß die Klugheit des Alten die Antwort erdacht hatte, die der Jüngling ihm gegeben, freute er sich, denn nun hatte er einen Grund gefunden, die alten Männer vor dem Tode zu bewahren.



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»He, ihr Jünglinge, habt ihr gesehen, wie ein Alter euch das Leben gerettet hat? Seht, soviel ist ein alter Mensch wert. Mit einem einzigen Wort rettet er so viele Jünglinge vor dem Tode. Deshalb hegt und pflegt die Alten, bis der Tod von selbst kommt, denn wir brauchen die Alten wie den Brunnen vor dem Hause.« Da begriffen alle Jünglinge, daß man die alten Männer in schlimmen Augenblicken braucht: Sie schafften die Sitte ab, die alten Leute umzubringen, und so ist es bis zum heutigen Tage geblieben.


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