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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Der Ring des Drachen

Es war einmal eine alte Frau, die hatte einen Sohn, den sie jeden Tag in den Wald schickte, Holz zu holen. Die Alte selbst spann jeden Tag eine Strähne Wolle und gab sie dem Sohn, daß er sie verkaufe. Der Sohn verkaufte die Wolle um einen Heller, aber anstatt das Geld seiner Mutter zu geben, benutzte er es, um Gutes zu tun.

Als der Sohn einst wieder in den Wald ging, traf er einige Kinder, die einen kleinen Hund schlugen. Das Hündchen tat ihm leid. Da gab er den Kindern einen Heller und rettete damit den Hund vor den Prügeln. Das Hündchen ging mit dem Holzfäller.



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Als der Holzfäller ein andermal in den Wald ging, sah er andere Kinder, die ein Kätzchen schlugen und es töten wollten. Das Kätzchen tat ihm leid, und ob er es nun wollte oder nicht, er mußte den Kindern einen Heller geben und ihnen das Kätzchen abkaufen, um es vor dem Tode zu retten. Das Kätzchen ging dann mit dem Holzfäller, und von da an lebten das Hündchen und das Kätzchen miteinander und begleiteten stets den Holzfäller, wohin er auch ging.

Als der Holzfäller wieder einmal auf den Berg gegangen war, um Bäume zu fällen, sah er eine brennende Buche. Auf der Buche war eine Schlange, die kreischte und schrie um Hilfe. Als der Bursche an die Buche herantrat, bat ihn die Schlange, er solle ihr helfen und sie aus dem Feuer retten.

»Ich fürchte mich«, sagte der Holzfäller, »denn du wirst mich beißen.« »Fürchte dich nicht«, antwortete ihm die Schlange, »ich werde dir nichts Böses tun. Im Gegenteil, ich werde dir geben, was du dir wünschest.« Da lehnte der Holzfäller eine Stange gegen die Buche, und die Schlange wand sich um die Stange und entkam so dem Feuer. Dann sagte sie ihm: »Jetzt komm mit mir zum Drachen, dem Kaiser der Schlangen. Wenn er dir viel Geld anbietet, nimm es nicht, sondern verlange von ihm den Ring, den er unter der Zunge trägt. Wenn er ihn dir gibt, lege ihn unter deine Zunge und halte ihn dort fest. Wenn du den Ring unter der Zunge hast, wird sich dir alles erfüllen, was du dir wünschest.«

Der Holzfäller ging mit der Schlange zum Drachen, dem Schlangenkaiser, und erbat sich von ihm den Ring, wie die Schlange es ihm gesagt hatte. Der Kaiser gab ihm den Ring, den der Jüngling unter seine Zunge legte. Dann ging der Bursche nach Hause.

Als der Holzfäller nach Hause kam, sagte er zu seiner Mutter: »Mütterchen, geh zum Kaiser und bitte ihn, er solle mir seine Tochter zur Frau geben.«

Die Mutter ging und bat um die Kaiserstochter für ihren Sohn. Der Kaiser aber jagte sie hinaus und sagte: »Schau, daß du von hier wegkommst! Wie sollte ich denn meine Tochter einem Holzfäller zur Frau geben? Wenn dein Sohn sich ein solches Schloß erbaut, wie ich eines habe, dann gebe ich sie ihm.«

Die Mutter des Holzfällers ging nach Hause und erzählte ihrem Sohn, was der Kaiser geantwortete hatte. Da sagte der Holzfäller zu seinem Ring: »Ich wünsche mir, daß meine Kate sich in ein Schloß verwandle,



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wie der Kaiser eines hat.«Im gleichen Augenblick verwandelte die Kate sich in ein Kaiserschloß.

Wieder sandte der Bursche seine Mutter zum Kaiser, sie sollte zum zweitenmal um dessen Tochter werben und dem Kaiser sagen, ihr Sohn hätte sich ein Schloß erbaut, genauso wie das des Kaisers. Und der Kaiser sollte nun sagen, ob er ihm seine Tochter zur Frau gäbe oder nicht. Die Mutter ging zum Kaiser, erzählte ihm vom Schloß ihres Sohnes und bat ihn wieder um seine Tochter. Der Kaiser aber sagte ihr: »Wenn dein Sohn den Weg, auf dem meine Tochter gehen wird, ganz mit Gold pflastert, dann gebe ich sie ihm.« Wiederum kehrte die Mutter heim und wiederholte ihrem Sohn die Worte des Kaisers.

»Der Kaiser sagte mir«, berichtete sie ihrem Sohn, »daß er dir seine Tochter gibt, wenn du vom Tor des Kaisers bis zu deinem Tor den Weg, auf dem seine Tochter gehen wird, ganz mit Gold pflasterst. So hat der Kaiser gesprochen.«

Mit Hilfe seines Ringes pflasterte der Bursche den ganzen Weg vom Tor des Kaisers bis zu seinem Tor mit Gold und sandte seine Mutter wiederum zum Kaiser, daß sie ihm dies erzähle und ihn um die Kaiserstochter bäte.

Die Mutter ging zum Kaiser und sagte ihm: »Erlauchter Kaiser, sieh, mein Sohn hat den ganzen Weg von deinem zu seinem Tor mit Gold gepflastert. Gibst du ihm jetzt deine Tochter zur Frau?« Der Kaiser aber entgegnete: »Wenn dein Sohn Gärten hat, wie meine es sind, in denen Nachtigallen singen und über denen Falken fliegen wie im Mai, dann gebe ich sie ihm.«

Die Mutter ging nach Hause und sagte ihrem Sohn, was der Kaiser ihr geantwortet hatte. Da sagte der Bursche zu seinem Ring: »Ich wünsche mir, daß morgen, wenn ich aufstehe, rings um mein Schloß Gärten seien, wie sie der Kaiser hat, mit Nachtigallen und mit Falken.« Und am nächsten Morgen war sein Wunsch erfüllt.

Wiederum ging seine Mutter zum Kaiser, um dessen Tochter für ihren Sohn zu erbitten. Da sagte ihr der Kaiser: »Dein Sohn möge mit seinen Brautwerbern kommen. Alle sollen weiß gekleidet sein und auf weißen Pferden sitzen.«Da nahm ihr Sohn Brautwerber, kleidete sie weiß und setzte sie auf weiße Pferde, ritt zum Kaiser, erhielt dessen Tochter zur Frau und kehrte mit seiner jungen Gemahlin nach Hause zurück.

Der Kaiser hatte aber einen treuen Diener. Man sagt, er sei ein Araber gewesen. Eines Tages sagte dieser Araber zur jungen Frau: »Kannst du



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nicht erfahren, womit dein Mann alles durchführt, was er sich ausdenkt.« Die Frau antwortete: »Er hat einen Ring, den er unter der Zunge trägt. Mit dem macht er alles.«

Da sagte ihr der Araber: »Könntest du ihm den nicht wegnehmen und ihn mir geben? Schließlich hat er ja schon alles und braucht nichts mehr.« »Ich kann ihm den Ring nicht wegnehmen«, sagte die junge Frau, »denn er trägt ihn immer unter der Zunge.« Der Araber entgegnete ihr: »Mache deinen kleinen Finger naß, stecke ihn in Asche und dann in die Nase deines Mannes. Dann wird er niesen, und der Ring wird ihm unter der Zunge hervor ins Bett fallen. Dann nimm den Ring und gib ihn mir.« Die junge Frau tat alles, wie geheißen, und gab den Ring dem Araber, der ihn nahm und unter seine Zunge steckte.

Eines Tages sagte der Araber zum Ring: »Ich wünsche, daß du mich mit diesem Schloß auf einen Berg tragest und daß das Schloß mein werde. Der Bursche aber möge wieder in einer Kate leben wie zuvor.« Im Nu war das geschehen.

Als der Jüngling, der Schwiegersohn des Kaisers, am nächsten Morgen erwachte, fand er sich wieder in seiner armseligen Kate. Er sagte seiner Mutter: »Mütterchen, ich werde meinen Esel, meine Katze und mein Hündchen nehmen und ausziehen, mein Schloß zu suchen.« Sie gingen und gingen und kamen endlich an einen Fluß, der schnell dahinströmte. Am Ufer des Flusses fand der Jüngling einen Fisch, der auf dem Trockenen lag. Er nahm ihn und warf ihn ins Wasser. Der Fisch dankte ihm für seine Güte und sagte: »Für die Wohltat, die du mir erwiesen hast, will ich dir etwas Gutes tun, ganz nach deinem Wunsch. Schneide nur eine meiner Flossen ab, und wenn du mich einmal brauchst, senge die Flosse an. Im gleichen Augenblick komme ich dir zu Hilfe.«Der Jüngling schnitt eine Flosse des Fisches ab und verwahrte sie wohl.

Einige Zeit später sah er sein Schloß. Da sandte er das Hündchen und die Katze vor, sie sollten sich ins Schloß schleichen, dem Araber den Ring nehmen und ihm diesen bringen. Die beiden gingen weg. Die Katze schlich sich ins Schloß, das Hündchen aber wartete vor dem Tor. Die Mäuse feierten damals eben Hochzeit. Als die Katze in den Saal kam, ergriff sie den Bräutigam. Da versammelten sich alle Mäuse um die Katze und baten sie, sie sollte den Bräutigam freilassen. Sie versprachen ihr, alles für sie zu tun, was sie nur wünschte, wenn sie ihnen bloß den Bräutigam freigabe.

Da sagte die Katze, sie wollte ihnen den Bräutigam zurückgeben, wenn



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die Mäuse dem Araber den Ring nähmen und ihn ihr brächten. Sie belehrte sie, wie sie ihm den Ring nehmen könnten: Sie sagte ihnen: »Taucht eure Schwänze ins Wasser und dann in Asche. Wenn er schläft, steckt ihr ihm dann die Schwänze in die Nase. Dann wird er niesen, und der Ring wird ihm aus dem Munde fallen. Nehmt ihn und bringt ihn mir, dann gebe ich euch den Bräutigam.« Die Mäuse taten, wie geheißen, und brachten den Ring. Die Katze ließ den Bräutigam frei, nahm den Ring und ging hinaus. Das Hündchen erwartete sie draußen vor dem Tor. Die Katze rief ihm zu: »Lauf schnell, ich habe den Ring!« Und die beiden liefen weg.

Als sie an einen Fluß kamen, sagte die Katze zum Hündchen: »Jetzt muß ich auf deinen Rücken steigen, damit wir über den Fluß kommen.« Das Hündchen legte sich, die Katze stieg auf seinen Rücken, und so schwammen sie über den Fluß. Als sie in der Mitte des Flusses waren, sagte das Hündchen zur Katze: »Gib mir den Ring, daß ich ihn trage. Tust du es nicht, so werfe ich dich in den Fluß.«Um ihn dem Hündchen zu geben, nahm die Katze den Ring aus dem Mund, und als sie ihn eben dem Hündchen geben wollte, fiel der Ring ins Wasser. Was nun?

Die beiden gingen zu ihrem Herrn, dem Holzfäller. Die Katze erzählte ihm, wie sie den Ring bekommen hatten, wie das Hündchen ihn gewollt hatte und wie der Ring in den Fluß gefallen war, als sie ihn hatte übergeben wollen. Da erinnerte sich der Bursche des Fisches. Er verbrannte ein Stückchen von der Fischflosse, die er bei sich trug. Da wurde es dem Fisch warm. Er kam gleich zum Burschen und fragte ihn: »Was willst du von mir? Hier bin ich!« Der Jüngling antwortete dem Fisch: »Mein Ring ist mir in die Mitte des Flusses gefallen. Kannst du ihn mir wiederbringen?« »Mit Leichtigkeit«, sagte der Fisch, »den bringe ich dir.« Im gleichen Augenblick tauchte er auf den Grund des Flusses, fand den Ring und brachte ihn dem Jüngling.

Als der Jüngling den Ring genommen und sich auf den Weg nach Hause begeben hatte, sagte er: »Ich will, daß ich sei wie zuvor. Das Schloß soll mein sein, der Araber und meine Frau sollen darin aber gemeinsam nur ein Zimmer haben.« Im Nu war geschehen, was er gewünscht hatte. Da lud der Jüngling seinen Schwiegervater, den Kaiser, zum erstenmal zu einem feierlichen Abendessen ein. Der Kaiser kam, aber die ganze Zeit hindurch, die er dort saß, fragte er nicht ein einziges Mal nach seiner Tochter. Nach dem Essen ging er durch das Schloß seines Schwiegersohnes, es zu besichtigen.



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Da schloß der Schwiegersohn die Tür des Zimmers auf, in dem der Araber und die Kaisertochter wohnten, und erzählte dem Kaiser alles, was die beiden ihm angetan hatten. Als der Kaiser das sah und alles hörte, was sein Schwiegersohn ihm erzählte, zog er seinen Säbel und schlug dem Araber und der jungen Frau die Köpfe ab.

Dann sagte er zu seinem Schwiegersohn: »Jetzt werde ich dir meine wirkliche Tochter zur Frau geben.«


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