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Märchen vom Balkan und den Mittelmeerinseln


Illustrationen von Eva Raupp Schliemann

Märchen europäischer Völker


Gute Tat geht nie verloren

Es war einmal ein Zar, ein großer Geizhals, der hatte einen Sohn, und als dieser erwachsen war, gab er ihm eine Saumlast Gold und schickte ihn fort mitsamt dem Wesir, um noch mehr zu erwerben. Nach drei Jahren möge er drei Lasten zurückbringen, erklärte er ihm, wenn nicht, wolle er ihm den Kopf abschlagen.

Sie gingen nun in ein anderes Reich, und als sie in eine Stadt kamen, sahen sie, wie man einen Menschen mit zusammengebundenen Füßen die Straßen entlangschleifte, und fragten: »Was hat dieser Mensch denn Böses getan, daß er so mißhandelt wird?« Ihnen wurde geantwortet, das sei bei ihnen Sitte; wenn einer gestorben sei, binde man ihm die Füße zusammen und schleife ihn vor die Stadt hinaus, jeder helfe ein wenig, als Seelenopfer für den Toten. Der Zarensohn, der sehr mitleidig war, kaufte ihn los, richtete eine Bahre her, führte ihn hinaus vor die Stadt, bereitete ein Grab, begrub ihn und veranstaltete einen Totenschmaus, ohne auf den Wesir zu hören. Weil aber der Zarensohn alles Geld verschwendete, verließ er ihn; und wirklich gab der Junge mit Wohltaten alles Geld aus. Er kehrte nun in die Stadt zurück, und weil er sich fürchtete, wieder nach Hause zu gehen, verdang er sich am Rande der Stadt bei einem alten Gastwirt, bei dem niemand mehr einkehrte. Der Junge brachte es aber mit seiner Bedienung rasch dahin, daß alle wieder dort einkehrten, und in kurzer Zeit wurde der Alte reich. Einmal fragte ihn der Alte, was er für seine Arbeit haben wollte. Der Junge antwortete: »Etwas Geld, das mir die Möglichkeit schafft, in die Fremde zu gehen.« —»Schön«, sagte der Alte, wollte ihn aber nicht allein gehen lassen und suchte ihm einen Gefährten. Da begegnete ihm ein Neger, der sagte, er möge ihn nehmen. »Nein«, erwiderte der Alte, »du wirst ihm nicht gefallen.« — »Nimm mich nur«, sagte der Neger, »und wenn er mich nicht mag, werde ich schon von selber wieder gehen.«So nahm der Alte ihn mit, und als der Junge ihn sah, gefiel er ihm. Am nächsten Morgen machten sie sich auf die Reise. Als sie zu einem Brunnen kamen, sagte der Neger zu ihm: »Höre, Bruder, wir wollen jetzt in die Fremde gehen; laß uns hier einander schwören, daß keiner dem andern etwas verheimlichen wird, daß wir immer zusammenbleiben, Tag und Nacht, und wenn wir künftig mit Gottes Hilfe zurückkehren, daß wir bei diesem Brunnen alles, was wir erworben haben, aufs Haar genau und brüderlich teilen.«



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Das beschworen sie und zogen weiter. Unterwegs kamen sie an eine Einöde, und die Leute, die ihnen begegneten, rieten ihnen, sie möchten nicht da hineingehen, sie würden umkommen. Aber der Neger hörte auf niemanden. Am Abend kehrten sie in einer verlassenen Herberge ein, der Junge legte sich in eine Stube und versank schnell in Schlaf.

Der Neger aber ging durch alle Stuben und fand eine furchterregende Lamia mit drei Köpfen, welche die Menschen fraß, die sich dort aufhielten, ihr Geld nahm und die ganze Stube damit anfüllte. Der Neger erschlug sie, verschloß das Zimmer mit dem Gelde und sagte dem Jungen nichts. Am Morgen zogen sie weiter und kamen in die Hauptstadt eines Zaren.

Dort war eine Tochter des Zaren, die war schon viele Male verheiratet gewesen, aber die Männer waren nicht am Leben geblieben, sie waren alle schon in der ersten Nacht gestorben. Der Neger ging nun zu dem Zaren und bewarb sich im Namen des Jungen um die Tochter. Der Zar sah sich den Jungen an und richtete sogleich die Hochzeit an. Viele Leute sagten ihm, er möge sie nicht nehmen, denn er werde dann in seinen jungen und blühenden Jahren sterben müssen -der Junge war nämlich sehr schön -, aber der Neger sagte ihm, er möge unbesorgt sein, er sei ja bei ihm. In der ersten Nacht, als das junge Ehepaar sich schlafen legte, verlangte der Neger, in der gleichen Stube zu schlafen. Der junge Mann bat ihn, für sich allein zu schlafen, aber der Neger erinnerte ihn an den Schwur, und er schwieg.

Sie waren eben eingeschlafen, da machte die junge Frau den Mund auf und fing an zu schnarchen. Der Neger stand auf, zog seinen Säbel und stand über sie gebeugt still. Nach kurzer Zeit schon kam eine große Schlange aus dem Munde der Frau heraus und schickte sich gerade an, den Mann zu beißen, als der Neger ihr ein Stück abhieb, ungefähr eine Spanne lang, so weit sie herausgekommen war, samt dem Kopf. Das übrige Stück aber kroch wieder hinein. Als sie am Morgen aufgestanden waren, freute sich das ganze Schloß, daß der Schwiegersohn am Leben geblieben war.

Nach einiger Zeit rüsteten sie sich zur Abreise und nahmen von dem Zaren nichts als vierzig Maultiere und vierzig leere Säcke. Als sie zu der verlassenen Herberge kamen, belud der Neger die Maultiere mit dem Gelde der Lamia, und sie zogen nun mit der jungen Frau der Heimat zu. Eines Tages gelangten sie an jenen Brunnen. »Jetzt«, sagte der Neger, »müssen wir teilen.« Da teilten sie die Maultiere und alles andere



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zur Hälfte. »Jetzt also«, sagte darauf der Neger, »wollen wir auch die Frau teilen. Faß du das eine Bein, ich nehme das andere, und wie du willst, teilen wir quer durch oder der Länge nach.« »Bewahre Gott«, antwortete der junge Mann, »laß ab, nimm du sie ganz, wir wollen sie doch nicht umbringen.« — »Nein«, sagte der Neger, »denk an den Schwur!«Es blieb nichts übrig, der Mann ergriff das eine Bein, und sowie der Neger das Messer zog, schrie die Frau auf, erbrach sich vor Schrecken und spie das restliche Stück der Schlange aus. »Da hast du sie jetzt«, sprach der Neger, »das wollte ich gerade, daß auch dieses Stück der Schlange herauskäme.« Dann erzählte er ihm alles und auch daß er der Mensch sei, den er ehrenvoll begraben hatte. Damit verschwand er.

Der junge Mann bekreuzigte sich und sprach: »Fürwahr, eine gute Tat geht niemals verloren.« Dann stieg er zu Pferde und brachte seinem Vater vierzig Lasten Gold. Später ist er selber Zar geworden und in der ganzen Welt berühmt.


Copyright: arpa, 2015.

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