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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


54. Tropsen

Einst lebte ein armer Mann, der hatte vier Söhne. Sie gingen fort, um Arbeit zu suchen, und kamen zu einem Herrn, bei dem sie für ein Drittel des Ertrages droschen. Sie verdienten sich so jeder zehn Scheffel Getreide und brachten es ihrem Vater. »Nimm, Vater, iß, wir wollen wieder weggehen, um noch mehr zu verdienen.« Wieder fanden sie einen



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Herrn, einen Pferdebesitzer, der versprach jedem ein Pferd als Jahreslohn. Den Jüngsten, der Tropsen hieß, bestellte der Herr als Stallmeister. Da bekam eine Stute ein Junges, und dies Fohlen sagte: »Tropsen, nimm mich, denn nun ist das Jahr um.«

Als der Herr sie dann aufforderte: »Nehmt euch nun Pferde als Lohn«, da nahmen sich die drei ältesten Brüder drei gute Pferde, aber Tropsen sprach: »Gib mir dies Fohlen, Herr!« — »Was willst du damit anfangen, es ist doch noch klein«, meinte der. »Mag es auch klein sein!« Tropsen nahm es und ging weg. Doch das Füllen sprach: »Laß mich zu meiner Mutter gehen, Tropsen, daß ich ihre Milch trinken kann.« Er ließ es zu seiner Mutter laufen, und es kam als ein starkes Pferd zurück, von dessen Hufschlag die Erde dröhnte. »Sitze nun auf«, sprach es. Er bestieg es, und es galoppierte so schnell davon, daß er bald seine Brüder einholte, die ihn verwundert fragten, woher er das Pferd habe. »Ich habe einen Herrn getötet und mir sein Pferd genommen. Wir wollen eilig reiten, damit wir entkommen.«

Die Nacht überraschte sie auf einem Felde, doch sie sahen einen Feuerschein. Sie gingen dem Schein nach und kamen so zu dem Haus einer alten Frau. Die Alte war eine Zauberin und hatte vier Töchter. Sie gingen hinein und Tropsen sagte: »Guten Abend!« — »Willkommen!« — »Nehmt Ihr uns auf und können wir die Nacht über hierbleiben?« — »Ich weiß es nicht«, erwiderte ein Mädchen, »denn unsere Mutter ist nicht zu Hause. Doch wenn sie heimkommt, wird sie euch schon aufnehmen.« Als die Mutter zurückkam, fragte sie: »Was wollt ihr Jünglinge hier?« — »Wir wollen um Eure Töchter werben.« — »Schön.« Alsbald machte sie auf der Erde ein Lager zurecht mit dem Kopfende nach der Türschwelle und für die Töchter eines mit dem Kopfende nach dem Innern zu. Dann schärfte sie ein Schwert, um ihnen die Köpfe abzuschlagen. Tropsen nahm nun seinen Brüdern die Mützen ab und setzte sie den Mädchen auf. Als die Mutter aufstand,



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tastete sie sogleich nach den Mützen, hieb die Köpfe ab und tötete so ihre Töchter. Nun erhob sich Tropsen, führte seine Brüder hinaus und sprach: »Geht eilig weg!« Tropsen aber hatte bemerkt, daß die Alte einen goldenen Vogel im Käfig hielt, und sprach daher zu seinem Pferde: »Ich will mir eine Feder von dem Vogel nehmen.« Das Pferd erwiderte: »Tu's nicht!« — »Pah, ich nehm sie doch.« So nahm er sich eine Feder, steckte sie in einen Sack, dann bestiegen sie ihre Pferde und ritten weg.

Sie kamen nun in eine Stadt. Dort lebte ein großer Herr, ein Graf, der fragte die vier Brüder: »Wohin geht ihr?« — »Wir wollen uns verdingen.« — »Nun, so kommt zu mir.« Jener Herr war noch unvermählt. Sie gingen zu ihm, und er gab ihnen Arbeit; einen machte er zu seinem Pferdeknecht, der andere hatte die Rinder zu besorgen, der dritte wurde Schweinehirt, und Tropsen bestellte er zu seinem Wagenlenker.

Nachts steckte Tropsen seine Feder in die Wand, und sie leuchtete wie eine Kerze. Da wurden seine Brüder böse und gingen zum Herrn: »Höre nur, Herr, Tropsen hat eine goldene Feder, die leuchtet so hell, daß du keine Kerze mehr brauchst.« Da rief der Herr: »Tropsen, komm hierher und bringe mir die Feder.« Und Tropsen gab sie ihm. Als ihn jetzt der Herr bevorzugte, gingen seine Brüder zu dem Herrn und sagten: »Herr, Tropsen hat gesagt, daß er auch den Vogel lebend bringen könne.« Da rief der Herr wieder Tropsen: »Bringe mir den Vogel, Tropsen, sonst schlage ich dir den Kopf ab.« Tropsen ging zu seinem Pferd und sprach: »Was soll ich tun, Pferd, da ich meinem Herrn den Vogel holen soll?« — »Fürchte dich nicht, Tropsen, und besteige mich!« Er saß auf und sein Pferd lief zu der Alten. Da sprach das Pferd zu ihm: »Überschlage dich und werde ein Floh, springe dann in ihren Busen und beiße sie; sie wird dann ihr Gewand abwerfen, und du nimmst dann schnell den Vogel.« So bekam er den Vogel und kehrte zu seinem Herrn zurück. Dieser machte ihn nun zu seinem Lakaien.



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Damals lebte in der Donau eine Jungfrau, die fuhr herrschaftlich in ihrem Nachen auf dem Wasser. Eines Tages erzählten die Brüder ihrem Herrn: »Herr, Tropsen hat sich gebrüstet, er könne jene Frau aus der Tiefe der Donau herbeiholen.« Da rief dieser: »Tropsen, komm her, was hast du geprahlt, du könntest mir jene Herrin holen?« — »Das hab ich nicht getan.« — »Du mußt sie mir bringen, sonst haue ich dir den Kopf ab.« Tropsen ging wieder zu seinem Pferd. »Was soll ich nur machen, mein Pferd, ich muß sie um jeden Preis holen.« Dieses beruhigte ihn: »Hab keine Angst, er soll dir zwölf Häute und ein Faß mit Pech geben, das lade mir auf. Und er soll dir ein kleines - kein großes - Schiff bauen und verschiedene Getränke mit in das Schiff geben. Dann verbirg dich, denn die Jungfrau wird kommen und Branntwein trinken. Wenn sie dann berauscht und eingeschlafen ist, raube sie und besteige mich mit ihr, und ich eile dann nach Hause.«

So geschah es, und das Pferd lief nach Hause zu dem Herrn und brachte ihm die Jungfrau aufs Schloß. Der Herr verriegelte die Türen und stellte eine Wache am Fenster auf, damit sie nicht entfliehen könne; denn sie war ganz wild. Als der Herr mit ihr schlafen wollte, widersetzte sie sich: »Sie sollen meine Herde Pferde holen, dann will ich mit dir schlafen. Wer mich hierhergeführt hat, soll auch meine Pferde bringen.« Der Herr befahl: »Tropsen, hole die Pferde!« Tropsen ging zu seinem Pferd: »Was soll ich tun, Pferd, ich muß unbedingt die Pferde aus der Donau holen!« — »Komm mit mir und hab keine Angst!« Als er zur Donau kam, tauchte das Pferd unter, nahm die Mutter der Herde an der Mähne und führte sie heraus. Tropsen bestieg die Stute und ritt sie, und die ganze Herde folgte ihr bis zu dem Palast des Herrn. Da rief die Jungfrau den Pferden zu: »Bleibt stehen!« Als nun der Herr mit ihr schlafen wollte, erklärte sie: »Der Jüngling soll meine Stuten melken, und wenn du dich in ihrer Milch gebadet hast, will ich mit dir schlafen.« Da rief der Herr: »Tropsen, melke die Pferde.« Dieser ging zu seinem



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Pferd: »Was soll ich tun, Pferd, wie kann ich die Stuten melken?« — »Fürchte dich nicht, denn ich halte sie an der Mähne, dann kannst du sie unbesorgt melken.« So melkte er einen Kessel voll. Die Herrin sprach: »Macht Feuer, damit die Milch kochend wird.« Sie machten Feuer und die Milch wurde heiß. Da sprach die Herrin: »Wer die Stuten gemolken hat, soll sich nun auch in der Milch baden.« Und sogleich rief der Herr: »Geh, Tropsen, und bade dich in der Milch.« Er ging wieder zu seinem Pferd und sprach: »Was soll ich tun, Pferd? Wenn ich mich darin bade, muß ich sterben.« Das Pferd erwiderte: »Hab keine Angst und führe mich nur zum Kessel; ich will durch die Nüstern blasen und so Kälte ausstoßen.« Er führte das Pferd hin, es blies durch seine Nüstern, und bald war die Milch nur noch warm. Da tauchte Tropsen in den Kessel, und wenn er vorher auch schon schön gewesen war, so stieg er jetzt doch noch schöner heraus. Nun blies sein Pferd wieder durch die Nüstern und entfachte so die Glut unter dem Kessel, daß die Milch wieder siedend wurde. Da sprach die Jungfrau zu dem Herrn: »Bade jetzt auch du in der Milch, dann will ich dir gehören.« Er ging zu dem Kessel und sagte: »Tropsen, hol mein Pferd herbei.« Tropsen brachte es, doch es schnaubte nur von weitem. Und kaum war der Herr in den Kessel getaucht, da sah man nur noch seine Knochen auf dem Boden des Kessels. Da rief die Herrin: »Komm zu mir, Tropsen, sei du mein Gebieter, und ich will deine Gattin sein.«


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