Reine und angewandte Naturwissenschaft 1)
von Paul Niggli
In den zwei letzten Jahrzehnten haben sich die Technischen Hochschulen
unter warmer Befürwortung durch hervorragende Männer
der Praxis immer mehr der wissenschaftlichen Forschung zugewandt.
Mit neuen Zielpunkten ist die Tradition der Pariser Ecole polytechnique,
die auf die Entwicklung der Mathematik von großem Einfluß war,
wieder aufgenommen worden. Lehranstalten, die nicht von Anfang an
den Naturwissenschaften ihre Tore weit öffneten, haben begonnen,
zielbewußt sich umzugestalten, neue Bildungsideals aufzustellen.
Eine so tiefgreifende Umschichtung kann der Schlagworte nicht
entbehren. Eines dieser Schlagworte, unter denen die Umformung
von Lehrgebieten und Lehrzielen an die Hand genommen wird,
lautet: «Die Technischen Hochschulen müssen ganz allgemein zu
Hochschulen der angewandten Naturwissenschaften werden, im
Gegensatz zu den Universitäten, in denen neben den Geisteswissenschaften
die ,reinen' Naturwissenschaften im Mittelpunkte zu stehen
haben.»
Auch wenn zu Beginn einer Umwälzung die Ziele klar sind, vermögen
Schlagworte sich oft länger zu erhalten als die geistige Struktur,
die zu ihrer Bildung Veranlassung gab. Es mag daher nicht unnütz
erscheinen, die Begriffe «reine» und «angewandte» Naturwissenschaft
an sich etwas näher zu untersuchen, bevor irgendeine willkürliche
Deutung dieser Gliederung der ganzen Bewegung eine nicht beabsichtigte
Richtung gibt. Vielleicht liegt dem Mineralogen ein solcher Versuch
besonders nahe, da die eigenartige Stellung des Teilgebietes, das
er vertritt, ihn zwingt, sein Augenmerk der Systematik der Wissenschaften
zuzuwenden.
Der Begriff angewandte Wissenschaft wird im doppelten Sinne
gebraucht. Auguste Comte hat in seinen Cours de philosophie positive
(I 1830) versucht, die Einzeldisziplinen in eine fortlaufende einsinnige
Reihe zu ordnen, in welcher jedes spätere Glied von allen vorangegangenen
abhängig ist, beziehungsweise eine neue Anwendung der vorangegangenen
1) Rektoratsrede, gehalten am 15. Oktober 1928 an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule Zürich
Wissenszweige darstellt. Auch heute ist es oft noch üblich,
die Physik, sofern man von der Mathematik, die alles naturwissenschaftliche
Denken durchdringt, absieht, als die allgemeine Naturwissenschaft
den anderen Naturwissenschaften gegenüberzustellen. Hat man
früher versucht, die Chemie gleichberechtigt und gleichelementar wie
die Physik anzusehen, so schien sich auch das weitgehend zu ändern
mit der Schaffung der physikalischen Chemie, besonders aber unter
dem Einfluß der in das Tatsachenmaterial des Chemikers hineinleuchtenden
Erfolge der Atomphysik. Von analogen Gesichtspunkten
ausgehend glaubte man die Mineralogie vollständig genügend als eine
auf die Mineralien angewandte Physik und Chemie kennzeichnen zu
können, sie somit als Typus einer angewandten Wissenschaft ansehen
zu dürfen. Daß die Beziehungen zwischen den Einzeldisziplinen
nicht so einfach sind, und jede unter ihnen eine gewisse Selbständigkeit aufweist,
sei erst Gegenstand späterer Erörterungen; denn der programmatischen
Forderung für den Ausbau der Technischen Hochschulen liegt
offenbar ein spezieller Begriff der angewandten Wissenschaft zugrunde.
Wenn es in der Rede eines hervorragenden Führers dieser Bewegung
heißt, daß von der zielbewußten Ausgestaltung der angewandten Naturwissenschaften,
die von der Volkswohlfahrt, dem nationalen Wohlstand
und der Volksgesundheit geforderte Entwicklung der Technik abhängig
sei, so ist kein Zweifel möglich, daß der Begriff hier bedeutet: auf die
Lösung praktischer Fragen des Lebens, insbesondere technischer
Probleme, angewandte Naturwissenschaft. Wissenschaft mit un mittel -
barem Nutzeffekt, praktische Wissenschaft also!
Klar und einfach scheint von diesem Standpunkt aus die reinliche
Scheidung zu sein: «Universität und reine Naturwissenschaft, Technische
Hochschule und angewandte, praktische Naturwissenschaft»,
klar und einfach, sofern die Trennung in reine und in diesem Sinne
angewandte Wissenschaft eine von selbst gegebene und eine durchführbare
ist.
Ist sie aber das? Nur eine Untersuchung über die natürliche Systematik
der Wissenschaften wird darüber Auskunft geben.
Alle Versuche, die Wissenschaft auf natürliche Weise in Einzeldisziplinen
zu zergliedern, haben zunächst deutlich zum Bewußtsein gebracht,
daß nach Inhalt und Methode die Wissenschaft eine große Einheit
darstellt. In gewissem Sinne ist sie einem kontinuierlich variablen Feld
zu vergleichen, das an verschiedenen Stellen wohl abweichende Beschaffenheit
besitzt, aber zusammenhängend bleibt. Scharfe, durchgehende
Trennungslinien sind nirgends sichtbar, und wo unübersteigbare
Schranken aufgerichtet wurden, mußten sie bald wieder eingerissen
werden. Noch leiden wir an der falschen Auffassung, daß die Trennung
zwischen sogenannten Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften
eine fundamentale sei. Ob dem Trennenden hat man das viel kräftiger
in Erscheinung tretende Gemeinsame übersehen. Dazu kam störend
ein Verhältnis, wie es oft zwischen Alter und Jugend wirksam ist, die
ältere Geisteswissenschaft hat auf ihre glorreiche Vergangenheit nicht
selten zu sehr gepocht, während anderseits die jüngere systematische
Naturwissenschaft mit dem Enthusiasmus für das Neue den Sinn für
das unsterblich Ewige verlor. Das gleiche Verhältnis finden wir übrigens
heute wieder zwischen Naturwissenschaft im engeren Sinn und ihrer
jüngsten Schwester, den technischen Wissenschaften. 1) Doch das führt
uns bereits zu den Hauptfragen der Systematik. Indem wir die, wenn
auch nur aus Zweckmäßigkeitsgründen verständliche Abtrennung der
Geisteswissenschaften anerkennen, sind in Wirklichkeit zwei Grundprinzipien
vorweggenommen. Erstens, die Gliederung kann keine
prinzipielle, sondern nur eine natürlich ökonomische sein, wobei dem
Bedürfnis der Arbeitsteilung logisch verständliche Bahnen zugewiesen
werden. Zweitens, ist in Übereinstimmung mit J. Bentham (1821),
A. M. Ampère (1834) und neuerdings W. Wundt und Th. Haering,
der Einteilung nach der Verschiedenheit der empirisch gegebenen
Gegenstände grundsätzlich der Vorzug gegeben, denn nur dadurch
können wir die Naturwissenschaften den Geisteswissenschaften gegenüber
definieren, da allein für die Naturwissenschaften das durch die sinnliche
Anschauung Gegebene oder Darstellbare, die sinnlich wahrnehmbare
und räumliche Natur einzig in Frage kommendes Objekt ist.
Es sind somit weder Methoden, noch innere Beweggründe oder Ziele
der Forscher nach unserer Meinung geeignet, Einteilungsprinzipien
der Wissenschaft zu sein. Das bedarf einer näheren Begründung, wobei
wir voraussetzen, daß Beobachtung, Experiment, Beschreibung und
Ordnung durch Klassifikation, Interpretation und Analogieschluß, Verstehenwollen
durch Zurückführen auf Bekanntes und durch mathematische
Verknüpfung verschiedener Erscheinungen, Analyse und Synthese,
Deduktion und Induktion als wissenschaftliche Methoden
anerkannt sind. Daß dabei die Erforschung und Darstellung der Wirklichkeit
und die Bildung von abstrakten Begriffen und Formeln nach
Friedrich Paulsen oft die drei Stadien der beschreibenden (das Material
liefernden), der begrifflichen und der normativen (zunächst Regeln
formulierenden) Wissenschaft durchläuft, sei in Erinnerung gebracht;
das Ziel aber ist «die von der begrifflichen Theorie ganz durchleuchtete
Erkenntnis».
Ein Beispiel der Systematik nach scheinbar vorherrschenden Methoden
ist die auch heute noch nicht ganz verlassene Einteilung in exakte
und beschreibende Naturwissenschaften. Der Mineraloge war wohl
der erste, der das grundsätzlich Fehlerhafte dieser Bezeichnungen
einsah. Die Bergbaukunde hatte von ihm die genaue Kenntnis und
damit auch Systematik der Mineralien verlangt, als Beschreibung und
Klassifikation der natürlichen, homogenen Bestandteile der Erdrinde.
Aber wie wir noch sehen werden, war auch sie es, die, um zum Verständnis
der Verteilung der Rohstoffe auf der Erde zu gelangen, eine
Kenntnis der Beziehungen der Mineralien zueinander, der Gesetze, die
bei ihrer Bildung wirksam waren, gebieterisch forderte. Und die der
Mineralogie zugeordnete Kristallkunde durfte (wie Physik und Chemie)
seit über hundert Jahren den Anspruch auf eine «exakte» Wissenschaft
erheben.
Die Schaffung der allgemeinen und theoretischen Biologie einerseits,
der für die Fortschritte der Chemie so wichtigen Systematik der chemischen
Verbindungen anderseits, das Aufwerfen der Fragen der Gliederung
und Struktur der chemischen Elemente und deren genetischer
Beziehungen zueinander in der Physik haben endgültig dargetan, daß
systematisch-beschreibende, theoretische, sowie genetisch-erklärende
Züge jedem praktisch als eine große Einheit in Erscheinung tretenden
Wissensgebiet zukommen.
Methoden, wie die des Vergleiches und der Statistik, welche die
Geisteswissenschaften vorzüglich anwenden, haben nicht nur in der
biologischen, sondern auch den anorganischen Wissenschaften ihren
Einzug gehalten. Vielfach formen die letzteren die Frage nicht nur
kausal, sondern auch teleologisch, final, eine Methode, die in den biologischen
Disziplinen besonders gerne, und nach der Meinung mancher
notwendigerweise im Gebrauch ist. Ebenso treffen wir heute in allen
Gebieten der Wissenschaft auf morphologische Fragestellungen. Selbstverständlich
bleibt bestehen, daß der Gegenstand der Erforschung,
in Abhängigkeit vom jeweiligen Stand der Gesamterkenntnis, das
Vorwalten gewisser Methoden zur Folge hat. Prinzipiell jedoch ist
gerade das Methodische das alle Wissenschaften Einigende.
Ebensowenig wie das Methodische kann der innere Beweggrund,
der Zweck, die Veranlassung zu einer wissenschaftlichen Untersuchung
deren Einordnung in ein System der Wissenschaften bedingen. Das
aber wäre der Fall, wenn wir den «reinen», um ihrer selbst willen
betriebenen Naturwissenschaften die des unmittelbaren Nutzens wegen
geförderten, praktischen Wissenschaften gegenüberstellen würden. Eine
Wissenschaft kann ihre einzige Rechtfertigung nicht in dem wandelbaren
Begriff des für die Volkswohlfahrt Nützlichen finden. Darüber,
was nützlich und wünschbar ist, wird sich ja kaum je in allen Punkten
eine Einigung erzielen lassen, ob es z. B. für uns förderlicher sei, daß
ein Kraftwerk von der Macht des menschlichen Bezwingerwillens
Zeugnis ablege, oder ob die Ursprünglichkeit der Gegend erhalten
bleibe, die durch die Neuanlage völlig verändert wird, ob die zunehmende
Industrialisierung und Rationalisierung von Vor- oder Nachteil
seien, das sind Fragen, die noch, sehr verschiedenartig beantwortet
werden. Doch lassen wir Einzelheiten beiseite, begnügen wir uns, zur
Kennzeichnung der Verhältnisse zwei ihrer Gegensätzlichkeit halber
typische Aussprüche hochverdienter Forscher zu zitieren. Der große
Mathematiker Henri Poincaré (Wert der Wissenschaft. 1906) schreibt:
«Wenn ich die Errungenschaften der Industrie bewundere, so tue ich es hauptsächlich,
weil sie eines Tages, indem sie uns von den materiellen Sorgen befreien,
allen die Möglichkeit geben wird, die Natur zu betrachten. Ich sage nicht: die Wissenschaft
ist nützlich, weil sie uns lehrt, Maschinen zu bauen, ich sage: die Maschinen
sind nützlich, weil sie uns eines Tages, indem sie für uns arbeiten, mehr Zeit lassen
werden, uns wissenschaftlich zu betätigen.»
Werner von Siemens aber sagte bei Anlaß seiner Wahl als Mitglied
der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1874):
«Nicht allein im eigenen Interesse der Wissenschaft liegt es, in engere Verbindung
mit der Anwendung ihrer Forschungsresultate im praktischen Leben zu treten, weil
dasselbe ihr reichlich zurückbringt, was es empfängt; es ist für sie auch ein Gebot
der Pflicht. Denn dadurch erhält die Wissenschaft erst ihre höhere Weihe, das gibt
ihr erst ein Anrecht auf die dankbare Liebe und Verehrung der Völker, daß sie nicht
ihrer selbst wegen besteht, zur Befriedigung des Wissensdranges, der beschränkten
Zahl ihrer Bekenner, sondern daß ihre Aufgabe die ist, den Schatz des Wissens und
Könnens des ganzen Menschengeschlechtes zu erhöhen und dasselbe damit einer
höheren Kulturstufe zuzuführen.»
Wenn Männer der Forschung selbst über den Begriff des Nutzens
so abweichende Ansichten hegen, kann dieser Begriff unmöglich
klassifikatorische Verwertung finden. Außerdem wäre es selbst in
einem gegebenen Zeitmoment unmöglich festzustellen, was in einer
Wissenschaft, z. B. der Physik, der Mechanik, der Mineralogie, der
Chemie, der Bodenkunde, der Botanik «reine» Wissenschaft und was
«praktisch angewandte» Wissenschaft ist. Der Unterschied hat mit
«theoretisch» und «experimentell» nichts zu tun. Beide Elemente
der Forschung müssen hier wie dort gleichmäßig verwendet werden.
Das Einheitliche eines Wissensgebietes läßt sich nicht künstlich zergliedern
nach Werturteilen, die den Naturwissenschaften an sich
fremd sind.
Dazu aber kommt ein zweites Wichtiges. Der Beweggrund, der zu
einer wissenschaftlichen Erkenntnis Veranlassung gibt, ist für die
Bedeutung dieser Erkenntnis völlig irrelevant. Es gehört zum schönsten
der Forschertätigkeit zu beobachten, wie eine wissenschaftliche Erkenntnis
ihr besonderes Eigenleben besitzt, über die ursprüngliche Absicht,
dieser oft entgegenwirkend, zu neuen Problemen fortreißt. Es ist der
Gedanke, der den Träger des Gedankens, für den das schlichte Wort
gilt: «Hier steh ich, ich kann nicht anders», überwältigt.
Die Geschichte der Naturwissenschaften zeigt Hunderte von Beispielen,
wie gleichgültig es für den späteren «Nutzen» in bezug auf
praktische Verwendungsmöglichkeit war, ob die grundlegende Erkenntnis
bereits im Hinblick darauf oder aus ganz anderen Gründen gewonnen
wurde, und zahlreich sind auch die Fälle, wo praktische Arbeit, die
wissenschaftlich betrieben wurde, zunächst viel wichtiger für die
Naturerkenntnis als solche als für die Praxis wurde.
Was praktisch verwertbar und in diesem Sinne nützlich ist, wissen
wir an der Wiege einer Neuschöpfung nur selten, die wissenschaftlichen
Ergebnisse lassen sich nicht im Hinblick darauf klassifizieren. Das
Eigenleben der Wissenschaft spottet unserer vermeintlichen großen
Voraussicht.
Wer irgendein Gebiet der Naturwissenschaften näher kennt, wird
es für unnütz ansehen, wenn ich an Konkretem exemplifiziere. Und doch
will ich es tun, denn so trivial die Tatsache ist, so leicht vergißt sie
derjenige, der auf das Praktische von vornherein eingestellt ist.
Lassen Sie mich Beispiele aus meinem Fachgebiet wählen.
Im Jahre 1848 erschien im Journal de l'Ecole polytechnique von
Auguste Bravais, Professor an der Ecole Polytechnique de Paris, eine
Arbeit betitelt: «Abhandlung über die Systeme von regelmäßig auf einer
Ebene oder im Raum verteilter Punkte.» Sie behandelt, wie der Titel
besagt, ein rein geometrisch-mathematisches Problem, das einer Punktverteilung
im Raume, von der Beschaffenheit, daß jeder Punkt parallel
gleich von den anderen Punkten umgeben ist. Es entstehen die Raumgitter
genannten Punktsysteme. Es ist möglich, abzuleiten, welchen
Symmetrieverhältnissen diese Raumgitter entsprechen können. Das
Resultat der Untersuchung war, daß die möglichen Symmetrieverhältnisse
denen entsprechen, welche als höchst symmetrische Fälle aus
dem Kristallreich bekannt waren.
Die von Bravais gelöste Aufgabe lockte vom mathematischen und
kristallographischen Standpunkte aus zu Erweiterungen. Es drängte
sich die Frage auf, ob die als Raumgitter bezeichneten Punktsysteme
nicht Spezialfälle allgemeiner regelmäßiger Punktanordnungen seien.
Im Jahre 1891 haben der Mathematiker A. Schönflies und der Kristallograph
E. von Fedorow gleichzeitig die größtmögliche Verallgemeinerung
zu Ende geführt. Schönflies definierte den Begriff der regelmäßigen
Punktsysteme als ein System regelmäßig im Raum verteilter Punkte
derart, daß jeder Punkt auf die gleiche Art von der Gesamtheit der
übrigen Punkte umgeben sei, wobei aber als Deckoperationen nicht
nur Parallelverschiebungen, sondern auch Drehungen und Spiegelungen
sowie deren Kombinationen in Frage kommen.
Er konnte dartun, daß hinsichtlich der Deckoperationen eine 230fache
Mannigfaltigkeit erkennbar ist. Die Möglichkeit, daß in den Kristallen
hinsichtlich der Anordnung der Massenteilchen analoge Verhältnisse
verwirklicht seien, war gegeben, aber die Gesamtheit war so variabel,
daß der ganzen Problemstellung kaum mehr als ein theoretisches
Interesse zuzukommen schien. Wir sehen hier den typischen Fall,
daß lediglich das Bedürfnis nach der endgültigen Lösung eines mathematischen
Problems zur Untersuchung drängte, wobei gewisse Analogien
mit den Symmetrieverhältnissen von Naturkörpern stimulierend
gewirkt haben, ohne daß jedoch irgendwelche Aussicht bestand, das
Ganze jemals anwenden zu können.
Selbst den nicht auf praktische Fragen eingestellten Theoretikern
unter den Kristallographen bot dieser mathematische Exkurs nur
spekulatives Interesse dar. Es wird in den darauffolgenden zwanzig
Jahren in der ganzen Welt nicht fünf Kristallographen gegeben haben,
die sich mit diesem Werk näher befaßt oder gar versucht hätten, es
in allen Einzelheiten zu verstehen.
Heute finden wir umfangreiche, explizite Darstellungen des gleichen
Gegenstandes in jeder Bibliothek der metallographischen Forschungsinstitute
und der Materialprüfungsanstalten. Die Theorie ist zu einem
der wichtigsten Hilfsmittel für viele Zweige der Technik geworden.
Zwanzig Jahre nach Schönflies' Darstellung gelang es auf röntgenometrischem
Weg, die Grundhypothese der Struktur der Kristalle nachzuprüfen.
Bereits nach weiteren fünfzehn Jahren War deutlich geworden,
wie alles Verhalten kristallisierter Substanzen von der speziellen Kristallstruktur
abhängig ist. Diese zu bestimmen aber ist nur möglich unter
Berücksichtigung und Kenntnis der ganzen mathematisch möglichen
Mannigfaltigkeit und deren Gesetzen.
Ein zweites Beispiel. Die Betrachtung der gesetzmäßigen Verwachsungen
verschiedener Kristalle der gleichen Art, der sogenannten Zwillingsbildungen,
das Studium der Flächenbeschaffenheit natürlicher Kristalle,
insbesondere in Rücksicht auf Streifungen, scheint eine jedes Nutzeffektes
bare, beschaulich-harmlose Tätigkeit zu sein; und doch stützen
sich darauf Erkenntnisse, die für die gesamte Metallbearbeitung grundlegend
geworden sind. Die Frage nach den Entstehungsmöglichkeiten
dieser morphologischen Verhältnisse führte zu den Begriffen der
einfachen Kristallschiebungen und der Gleitungen oder Translationen.
Das aber sind die Haupterscheinungen, die bei der plastischen Deformation
der Metallaggregate auftreten, und die Metallographen haben
seit etwa zwei Jahrzehnten ihr Hauptinteresse auf diese Phänomene
richten müssen, wollten sie die Festigkeitsverhältnisse bearbeiteter
Metalle verstehen und der Metallkunde neue Wege weisen. Ja, die
Kristallographie als Ganzes, die vorzugsweise von theoretischem
und ästhetischem Interesse schien, ist heute eine der Grundlagen der
Metallindustrie und damit auch der Materialienkunde für den Maschinenbau
geworden. Es gibt zurzeit nur noch wenige Technische Hochschulen,
die dieser Sachlage, auch für die Abteilungen der Maschineningenieure,
nicht Rechnung getragen haben.
Wie sehr man sich zu Beginn einer neuen Ara innerhalb einer Disziplin
über deren Einfluß auf das Zusammenarbeiten zwischen reiner
und praktischen Wissenschaft täuschen kann, mag noch folgendes
zeigen. Die Nutzbarmachung des Polarisationsmikroskopes für die
Untersuchung der Gesteine hatte eine Periode zur Folge, in der die
Petrographen der mikroskopischen Physiographie und den kristalloptischen
Erscheinungen ihr Hauptinteresse zuwandten. Sie verloren
den Kontakt mit der Geologie und der natürlichen Baumaterialienkunde.
Es schien, als ob sie sich in die Mikroskopiersäle zurückziehen
wollten. Und doch war gerade für die Baumaterialienkunde diese
Periode der Ausarbeitung einer neuen Methode von ungeahnter Fruchtbarkeit.
Denn heute wissen wir, daß Bausteine, natürliche oder künstliche,
Granit oder Beton, weitgehend mikroskopisch diagnostiziert
werden müssen, soll über ihr technisches Verhalten etwas einigermaßen
Endgültiges ausgesagt werden. Und dieses Polarisationsmikroskop ist
auch zu einem wesentlichen Hilfsmittel des Chemikers, Textilindustriellen,
Pharmazeuten und Biologen geworden.
Aber auch die Praxis kann der reinen Wissenschaft neue Wege weisen.
Die Minerallagerstätten relativ seltener Stoffe, beispielsweise die Großzahl
der Erzlagerstätten, ist für die Gesamtheit der Erdrinde von so
untergeordneter Bedeutung, daß der Mineraloge sein Interesse fast
ausschließlich den Gesteinen zuwandte. Unentwegt mußte aber die
praktische Geologie, die Erzlagerstättenlehre, ihr Material sammeln.
Schließlich häufte es sich so an, daß der rein theoretisch eingestellte
Mineraloge nicht mehr daran vorbeigehen konnte. Und siehe da, als
er sich näher damit beschäftigte, erkannte er, wie revolutionierend
auch für seine Problemstellungen die Berücksichtigung aller Einzelheiten
wirkte. Vieles was ihm vorher unverständlich war, wurde nun gerade
durch die akzessorischen Lagerstätten verständlich. Nur eine Theorie,
die Gesteine und quantitativ untergeordnete Mineralgesellschaften
gleichzeitig umfaßt, vermag ein wirklich zutreffendes Bild der Bildung
der Erdrinde zu geben. Reichlich konnte die Wissenschaft dem Bergbau
zurückgeben, was sie von ihm empfangen hatte; gelang es doch die
Grundlagen für eine allgemeine Lehre der Minerallagerstätten zu entwerfen,
die bereits heute ermöglicht, genau anzugeben, in welchen
geologisch bekannten Gebieten bestimmte Rohstoffe zu finden sein
werden. Der Spottvers auf die mineralogische Wissenschaft: Gold is
where you find it, hat seine Berechtigung eingebüßt.
Erinnern wir uns schließlich, daß die der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
angehörigen Entdeckungen von Oerstedt, Faraday und anderen
ohne jede Beziehung zu einer praktisch technischen Verwendung
gemacht wurden, während sich heute darauf die Schwach- und Starkstromtechnik
gründet, die ihrerseits der experimentellen Physik ganz
neue Hilfsmittel an die Hand gab, so wird kein Zweifel obwalten, daß
es unmöglich ist, von den Naturwissenschaften einen Teil abzusondern,
dem allgemein praktische Bedeutung zukommen soll. Die Entwicklung
der Forschung kümmert sich nicht um die psychologischen Komplexe,
die den Forscher zur Erkenntnis führten, nur wer einen möglichst
großen Teil der Gesamtwissenschaft ihren Wesen nach zu beherrschen
imstande ist, wird gerüstet sein, wenn er praktische Aufgaben zu
lösen hat. Wer nur das Wissen der Physik vor dreißig Jahren sich aneignete,
ohne in den Geist der physikalischen Wissenschaft eingedrungen
zu sein, steht nicht nur der gegenwärtigen reinen Physik, sondern auch
einem Großteil der physikalischen Technik hilflos gegenüber. Die
sogenannten naturwissenschaftlichen Nebenfächer des technischen Hochschulstudiums
sind wohl als Hilfswissenschaften für die Schlußsemester
zu bewerten, aber Probleme, die sie behandeln, können in der späteren
Praxis, sofern sie eine schöpferische ist, zu Hauptproblemen werden.
Von Fragen, die der Technik fernzustehen schienen, kann das Gelingen
oder Mißlingen eines neuen Projektes abhängen.
Und schließlich dürfen wir ruhig sagen, daß eine Tat der Technik
nur dann ein Meisterwerk sein wird, wenn während der Ausführung
alle damit in Zusammenhang stehenden Probleme um ihrer selbst
willen, also rein wissenschaftlich behandelt wurden. Oder wie J. Petzold
schreibt: «Das lebendige, theoretische Interesse an den technischen
Problemen gibt den besten Teil der treibenden Kraft.»
So bedarf es kaum weiterer Ausführungen, daß die Trennung der
Naturwissenschaften in reine und angewandte (praktisch nützliche)
unzweckmäßig, unglücklich und letzten Endes unmöglich ist. Damit
scheint aber auch das Schlagwort, das die verschiedenen Typen der
Hochschulen präzisieren will, seines Sinnes beraubt zu sein. Niemand
ist imstande zu dekretieren, welcher Teil der Naturwissenschaft um
ihrer selbst willen und welcher Teil der praktischen Nutzanwendung
halber da ist. Obschon es eine der edelsten Aufgaben des Menschengeschlechtes
ist, die Wissenschaft in den Dienst der Volkswohlfahrt
zu stellen, ist es sinnlos, die Wissenschaft selbst in nützliche und
gewissermaßen dekorative zu sondern. Selbst die Astrophysik gibt der
technischen Physik neue Anregungen. Jede naturwissenschaftliche Erkenntnis
läßt sich einmal praktisch nutzbar gestalten. Und die Erkenntnis
bleibt die gleiche, ob wir sie auf natürliche oder technische Vorgänge
anwenden.
Und doch sagt uns ein Gefühl, daß, richtig verstanden, der Reformbestrebung
ein echter Kern innewohnt. Ganz abgesehen davon, daß
die Heranziehung der angewandten Wissenschaft in erster Linie betonen
will, daß nicht nur technisch praktisches Können, sondern streng wissenschaftliche
Methodik gelehrt werden soll, was oberster Grundsatz
jeder Technischen Hochschule sein muß, fühlen wir, daß es etwas wie
«angewandte» Wissenschaften mit ihrer besonderen Eigentümlichkeit
gibt. Wir müssen daher zu dem Problem der Systematik der Naturwissenschaften
zurückkehren und eine positive Behandlung versuchen.
Bereits haben wir ausgesprochen, daß nur eine Einteilung nach dem
Gegenstand der Untersuchung in Frage kommt. So würden wir unter
Physik die Lehre von allen Vorgängen und Erscheinungen verstehen
bis zur atomaren Größenordnung, also Atomphysik im weitesten Sinn,
außerdem aber die Lehre von allen jenen Erscheinungen und Gesetzmäßigkeiten,
die den Naturkörpern ohne Rücksicht auf die speziellen,
die charakteristischen Unterschiede zwischen ihnen bedingenden Verhältnisse
zukommen, oder die sich auf einen Zustand wie den gasförmigen
oder flüssigen beziehen, der gegenüber dem atomaren keine morphologische
Selbständigkeit besitzt. Für die Chemie sind die Atome gegeben,
ihr liegt es ob, die Gesetze und Tatsachen zu studieren, die sich beim
Zusammentritt der Atome zu höheren Einheiten, Radikalen, Ionen,
Molekülen, Molekularverbindungen feststellen lassen. Die Kristallkunde
aber betrachtet wieder eine höhere Einheit und deren Erscheinungen
und Beziehungen, die Kristallverbindungen oder die Kristalle
schlechthin. Sie ist, da die meisten homogenen Bestandteile der Erde,
die Mineralien, kristallisiert sind, ein wichtiger Teil der Mineralogie,
aber nur ein Teil, da sich hier sofort neue, natürliche Einheiten, die
Minerallagerstätten, herausschälen, die Gegenstand eines weitern
Studiums sein müssen. Es wird keine Schwierigkeiten bereiten, diesen
Gedankengang auf die geologischen, astronomischen, geographischen
und biologischen Wissenschaften zu übertragen.
Da die Atome Bausteine für die Radikale und Moleküle, und diese
Vorstufen der Aggregation der Materie zu Kristallen sind, wird es
selbstverständlich werden, daß die Physik für die Chemie und die
Physik und Chemie für die Mineralogie Grundlagen darstellen. Aber
beide und alle folgenden Wissenschaften erschöpfen sich nicht, wie
man oft geglaubt hat, darin eine Anwendung der Physik zu sein. Sie
betrachten ja neue Individualeinheiten, und diese sind mehr als eine
Summation von Atomen, sie stellen Ganzheiten dar, die als solche
nach neuen Gesichtspunkten behandelt werden müssen. Oft wird das
an Problemen morphologischer Art besonders deutlich, beispielsweise
in der Stereochemie und der strukturellen und phänomenologischen
Kristallmorphologie. Wie wichtig dieser Begriff der neuen Individualeinheiten
wird, die als solche betrachtet werden müssen, zeigt mit ganz
besonderer Schärfe die Biologie, aus der die Vorstellung von den Ganzheiten
(Driesch) hervorgegangen ist. Nach solchen Individualeinheiten
vom Atom bis zum Weltsystem gliedern sich die Naturwissenschaften,
und es ist im großen und ganzen nur die an sich gegebene
Natur, die sie gewissermaßen etappenmäßig zu erforschen
suchen.
Logischerweise läßt sich ihnen nun eine neue Reihe von Einzelwissenschaften
angliedern, die Objekte betrachtet, welche nicht von der
Natur als natürliche Einheiten gegeben sind, sondern die unter Benutzung
der Naturgesetze von Menschen planmäßig geschaffen werden.
Wir wollen sie die technischen Wissenschaften nennen. Wenn man
sie als angewandte bezeichnen würde und alle übrigen als reine Naturwissenschaften,
so wäre dagegen sicherlich nichts einzuwenden, die
Definition jedoch müßte sich von dem bis jetzt üblichen Sprachgebrauch
frei machen.
Denn nicht das charakterisiert sie, daß etwas geschaffen und nach
wissenschaftlichen Methoden durchforscht werden soll, das für die
Menschheit eventuell nützlich ist (das tun auch die Naturwissenschaften),
sondern daß der Gegenstand, den sie erkennen und verstehen
wollen, die Materialisierung einer menschlichen Idee, ein planmäßig
selbstgeschaffener Gegenstand ist. Der Trieb des Menschen, die Natur
zu Neuschöpfungen zu benützen, ist uralt, die Not, die Aussicht auf die
praktische Verwendungsmöglichkeit wird häufig die Triebfeder gewesen
sein, aber ein viel wichtigeres Primäres, eine Lust zum Konstruieren,
ein Schöpferwille bliebe bestehen, wenn jede Anregung dieser Art
fehlen würde. Deshalb müssen wir auch den Vorwurf, den man der
Technik oft macht, daß sie nicht nur zum Neuaufbau, sondern ebenso
zur Zerstörung der Kulturgüter beitrage, in gewissem Sinne richtigstellen.
Technischer Geist und die Freude an der technischen Neuschöpfung
sind beide so elementar wie der Wille zur Kunstschöpfung und an
sich weder gut noch böse. Statt an das Unmögliche denken zu wollen,
sie zurückzudämmen, ist es viel nützlicher, die Menschheit zu erziehen,
auch gegenüber den technischen Taten ihre volle Souveränität zu wahren.
An uns liegt es, mit Maß und Ziel und mit einem tiefen Gefühl der
Verantwortung uns und der Menschheit gegenüber nur das zu benutzen,
was förderlich erscheint, uns von der technischen Maschinalisierung
und allenfalls zu weitgehender Rationalisierung nicht kraftlos überwältigen
zu lassen. Wir selbst müssen entscheiden, was an dieser
primitiven Lust zum wissenschaftlich konstruktiven Fabulieren und
zur technischen Vervollkommnung als integrierender Bestandteil in
unsere Lebensführung, unsere Kultur einzugehen hat. An dem Geist
aber, der zu dieser Neuschöpfung führt, wollen wir uns rückhaltlos
freuen.
Daß diese so gekennzeichneten technischen Wissenschaften, Einzeldisziplinen
und mehr als nur Anwendungen der gewöhnlichen Naturwissenschaften
sind, beruht auf den gleichen Ursachen, welche der
Chemie, Mineralogie usw. ihre Eigenart verleihen. Eine Kraftwerkanlage,
eine chemische Großindustrieanlage, eine Maschine, ein Eisenbahntracé,
eine Straßenführung, eine Brücke, ein landwirtschaftlicher
Betrieb sind jedes für sich etwas Einheitliches, in diesem Falle durch
die menschliche Zweckbestimmung Gegebenes. Genau so, wie ohne
physikalische Kenntnisse der Mineraloge die Kristalleinheiten niemals
versteht, würde der Ingenieur ohne Kenntnis der einfachen Naturgesetze
und der Materialeigenschaften hilflos dastehen. Aber diese allein
genügen ihm nicht. Das, was er schaffen will, muß in sich eine vollständige
Einheit sein, denn nur dann ist der Gedanke richtig gelöst,
wenn jedes Ding am richtigen Platze steht. Für sich allein ist eine
andere Teillösung oft vielleicht zweckmäßiger als diejenige, die als
Bruchstück der Gesamtlösung vollkommen ist, weil sie sich harmonisch
in das Ganze einfügt. Wie oft hört man, die Naturwissenschaft hätte
bei der Lösung eines technischen Problems versagt. In den meisten
Fällen aber hat es sich nur darum gehandelt, daß man Einzelresultate
in unzulässiger Weise auf eine neue Ganzheit übertragen hat, z. B. mit
den Festigkeitsverhältnissen der Baumaterialien allein rechnete, wo die
Festigkeit des Gesamtgebäudes in Frage kam. Früher hat man Technisches
unter Zuhilfenahme von Vorstellungen, die der reinen Naturwissenschaften
entnommen waren, verständlich zu machen gesucht.
Heute geht man oft umgekehrt vor. Um das «in sich Abgeschlossene»
eines natürlichen Systems, eines tierischen Organismus beispielsweise,
augenfällig zu machen, vergleicht man es mit einem technischen Großbetrieb,
der uns als zweckmäßig funktionierende Ganzheit bekannt ist.
In bezug auf dieses Ganze muß jeder Teil bewertet werden, es muß
daher gerade die Verknüpfung zur Einheit Gegenstand eines besonderen,
wissenschaftlichen Studiums sein. Das aber ist das Ziel der im engeren
Sinne Technischen Wissenschaften, die in diesem Sinne den reinen
Naturwissenschaften gleichberechtigt an die Seite zu stellen sind;
würden wir doch nach dem Objekt der Untersuchung den Gesamtkomplex
der Wissenschaften gliedern in Geisteswissenschaften, Mathematik
und Naturwissenschaften schlechthin und technische Wissenschaften.
1)
Die Neuschöpfung des Naturwissenschaftlers ist das Weltbild, für
ihn heißt es die gegebene Natur, die sein Objekt ist, in Geist umzusetzen.
Dem technischen Wissenschaftler ist der Gedanke das Primäre,
ihn sucht er materiell zu verwirklichen, und diese zunächst nur gedachte
Verwirklichung der Idee, das vom Menschen geschaffene technische
Werk, ist neues Objekt wissenschaftlicher Untersuchung. Dabei ist
selbstverständlich, daß neue technische Wissenschaften nur da auszubilden
sind, wo aus verschiedenem Urmaterial oder unter Kombination
verschiedener Methoden etwas von uns als Neues, in sich einheitlich
Geschaffenes entstehen soll. Wenn der Chemiker oder Kristallograph,
unter Benutzung gefundener Gesetze Substanzen herstellt, die in der
Natur nicht angetroffen werden, oder wenn er natürliche Stoffe künstlich
synthetisiert, vielleicht sogar mit der Absicht, sie technisch zu
verwerten, so ist das noch nicht Technik, sondern Naturwissenschaft.
Ein technisches Problem stellt sich erst dann ein, wenn es sich darum
handelt, in einem in sich abgeschlossenen chemischen Großbetrieb, der
für sich ein Individuum ist, die wissenschaftlichen Ergebnisse zu verwerten.
Daß dabei ganze neue Problemstellungen auftreten, hat die
chemische Industrie zur Genüge erfahren.
In diesem Sinne wird kein Zweifel möglich sein, daß die Technischen
Hochschulen Pflegstätten technischer Wissenschaften sein müssen,
wo technische Werke als solche nach wissenschaftlichen Grundsätzen
untersucht werden. Aber sie würden ohne Unterbau sein und zu
Anstalten heruntersinken, die nichts mehr als eine Anleitung für zweckmäßige
Ausführung schon bestehender technischer Werke wären,
wenn in ihnen nicht die «reinen», in eminenter Weise praktisch wichtigen
Naturwissenschaften, den breitesten Raum einnehmen. Nicht
nur, daß diese, gestützt auf die ältere Erfahrung, vorzüglich geeignet
sind in den Geist wissenschaftlicher Forschung einzuführen, nicht nur,
daß alle ihre gegenwärtigen Kenntnisse für die Technik notwendig sind;
sie sind es, die neue Möglichkeiten schaffen und dem Ingenieur das
Rüstzeug zur eigentlichen neuschöpferischen Tätigkeit mitgeben. Und
wenn wir bedenken, daß zur Beurteilung einer technischen Anlage,
deren Ausführbarkeit und Rentabilität, der Mensch und die menschliche
Gemeinschaft in Rechnung zu stellen sind, wird offenbar, daß auch ein
wichtiger Teil der Geisteswissenschaften notwendige Grundlagen für
die technischen Wissenschaften ist.
Unsere Forderung muß daher eine andere sein als das eingangs
erwähnte Schlagwort vermuten läßt: Die Technischen Hochschulen
müssen als Ganzes in ausgeglichener Form alle für ihre Ausbildungsziele
in Frage kommenden Zweige der Wissenschaft, mit der Eigenart
der Betonung der technischen, zur Geltung bringen und keinen Zweifel
über deren Gleichberechtigung lassen.
Ihre Sonderstellung den Universitäten gegenüber ist nur dadurch
gegeben, daß sie unter stärkerer Berücksichtigung der Probleme der
technischen Wissenschaften für eine Reihe von Berufen vorbereiten,
für die diese Betrachtungsweise in erster Linie von Bedeutung ist.
Wie wenig gerechtfertigt die Charakterisierung von Universität und
Technischer Hochschule durch «reine» und «angewandte» Naturwissenschaft
wäre, zeigt am besten die Medizin. Die Medizin als Wissenschaft
umfaßt die ganze Lehre von den Vorgängen, die auf die Lebenstätigkeit
des Menschen von Einfluß sind. In der praktischen Ausübung handelt
es sich darum, das was wir als Störungen ansehen, zu verhindern oder,
wenn solche Störungen aufgetreten sind, sie zu beheben, indem wir die
wissenschaftlichen Erkenntnisse anwenden, die. Natur- und Geisteswissenschaften
vermitteln. Die medizinische Wissenschaft ist eine
angewandte Wissenschaft, aber keine im eigentlichen Sinne technische
Wissenschaft, da das Objekt nicht von uns geschaffen ist, der schöpferischen
Tätigkeit recht enge Grenzen gesetzt sind. Übrigens ist auch
bezeichnend, daß Land- und Forstwirtschaftslehre bald Universitäten,
bald Technischen Hochschulen angegliedert sind. Obschon man es in
beiden Fällen bereits im gewissen Sinne mit technischen Wissenschaften
zu tun hat, bleibt doch, durch die nur teilweise Beeinflussung der
Lebensvorgänge von Pflanzen und Tieren, der Einwirkung ein nicht
allzu großes Spielfeld. Aber eine scharfe Trennungslinie zwischen
Universitäten und Technischen Hochschulen, die eine eindeutige Zuordnung
der einzelnen Disziplinen ermöglichte, gibt es nicht.
Die getrennte Entwicklung beider Hochschultypen in einigen Ländern
war keine organisch notwendige, sie ist eine zufällig bedingte. Die
ersten Vorlesungen über Ingenieurwissenschaften und rationelle Bewirtschaftung
wurden zu Beginn des 18. Jahrhunderts Universitäten
angegliedert, in der zweiten Hälfte des gleichen Jahrhunderts war
besonders Göttingen, wie übrigens auch heute noch, eine Pflegestätte
der angewandten Naturwissenschaften, wobei Vorlesungen über Feldmessen,
konstruktives Entwerfen, Hoch-, Wasser- und Brückenbau
abgehalten wurden. Nun begannen jedoch Gewerbeschulen, die technisch
konstruktive Seite auszubauen, während im allgemeinen die
Universitäten zurückblieben, da auf ihnen die Naturwissenschaften
Mühe hatten, die nötigen Laboratorien für die allgemeine Forschung
zu erhalten. Diese Abkehr der Technik vom wissenschaftlichen Hochschulstudium
machte sich rasch in unangenehmer Weise fühlbar, und
die Beseitigung der Mängel führte schließlich zu den polytechnischen
Schulen und Technischen Hochschulen der Neuzeit, die so mächtige
Organismen geworden sind, daß an eine Vereinigung mit den Universitäten
nicht mehr gedacht werden kann. Und doch bilden sie nur mit
ihnen zusammen die Universitas der Gegenwart.
Wahrlich die Aufgabe, die sich eine Technische Hochschule stellen
muß, soll sie lebenskräftig sein, ist keine geringe. Große Einsicht,
vor allem aber Liebe zur Wissenschaft, wird von ihren Zöglingen verlangt.
Mancher mag sich die Frage stellen, ob sie überhaupt imstande
ist, allen diesen Anforderungen gerecht zu werden. Als Antwort darauf
möchte ich, das erreichbare Ziel näher umschreibend, hoffnungsfreudig
mit einem Ausspruche Walter von Dycks schließen: «Die Erziehung
an der Hochschule kann die Ausbildung des Ingenieurs nicht vollenden.
Sie kann, wie immer auch gestaltet, nur das wissenschaftliche Rüstzeug
bieten, welches der praktischen Betätigung zu Grunde liegt, sie muß
es durchdringen, verstehen und brauchen lehren als eine lebendige
Erkenntnis, gewonnen nicht durch Schablone, sondern in selbständigem
Nachdenken, in eigener, die Schwierigkeiten durchkämpfender, nicht
beiseite schiebender Arbeit.»