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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


47. Die Henne, die Diamanten legte

Ein armer Mann hatte drei Söhne. Eines Tages fand der Jüngste sechs Kreuzer, gab sie seinem Vater und sprach: »Vater, nimm diese sechs Kreuzer, geh in die Stadt und kauf uns etwas.« Der Alte ging in die Stadt, kaufte eine Henne und brachte sie nach Hause. Da legte die Henne ein Ei, das ein Diamant war. Der Alte legte es auf die Fensterbank, und es verbreitete Licht um sich wie eine Kerze. Als er am andern Morgen aufstand, sprach er zu seiner Frau: »Frau, ich geh mit diesem Ei in die Stadt.« In der Stadt ging er zu einem



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Kaufmann. »Willst du nicht dieses Ei kaufen?« — »Was verlangst du?« — »Gib mir 100 Lei.« Da gab ihm der Kaufmann 100 Lei. Damit ging er nach Hause, kaufte sich Nahrungsmittel und schickte seine Söhne zur Schule. Da legte die Henne noch ein Ei. Er brachte es wieder zu jenem Kaufmann, und der gab ihm wieder 100 Lei. Zum dritten Mal legte die Henne ein Ei, das er ebenfalls dem Kaufmann brachte. Auf diesem Ei stand geschrieben: »Wer den Kopf der Henne ißt, der wird Kaiser werden, wer ihr Herz verspeisen wird, der wird in jeder Nacht 1000 Goldstücke unter seinem Kopfe finden, wer aber ihre Füße ißt, der wird ein Prophet werden.«

Bald darauf kam der Kaufmann ins Dorf, um den Alten in seine Dienste zu nehmen. »Was soll ich dir geben, wenn du meine Waren austrägst?« — »Gib mir 100 Lei.« Da nahm er für ein halbes Jahr den Mann mit der Henne in seine Dienste. Eines Tages kam der Kaufmann zur Frau des Alten und sprach: »Dein Mann ist gestorben, und den Lohn hab ich nun umsonst gezahlt. Ich will dich aber heiraten, denn ich bin reich.« —»Gut, so wollen wir heiraten!« — »Schön, so wollen wir heiraten, aber schlachte mir die Henne zur Hochzeit, Lautenspieler brauchen wir nicht.« Und sie nahmen eine Köchin. »Bis wir aus der Kirche kommen, soll die Henne zubereitet sein.« Da kamen die Söhne aus der Schule. »Gib uns zu essen«, sagten sie zur Köchin. »Ich kann euch nichts geben, denn er hat gesagt, ich dürfte nichts von der Henne weggeben.« Da bettelten die Jungen: »Laß auch uns davon kosten, wenn es auch nur wenig ist, denn wir haben sie ja immer gehegt und gepflegt.« Da gab sie dem Attesten den Kopf, dem Mittleren das Herz und dem Jüngsten die Füße. Dann gingen sie zur Schule. Als der Kaufmann mit der Frau von der Trauung zurückkam und sich an den Tisch setzte, sprach er zur Köchin: »Nun trag uns das Essen auf.« Und sie stellte die Henne auf den Tisch. Der Mann suchte nach dem Kopf, dem Herzen und den Füßen, aber sie waren nicht da. Da fragte er die Köchin: »Wo ist der Kopf?« Sie sagte: »Die



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Jungen haben ihn gegessen.« Da sprach der Kaufmann: »Ich werde von dieser Henne nicht essen, gib mir den Kopf, das Herz und die Füße, nur das will ich haben.« Die Köchin erwiderte: »Die Jungen haben es aufgezehrt.« Da wandte er sich zu seiner Frau: »Frau, mache ihnen bitteren Kaffee, so daß sie erbrechen.« Als die Knaben von der Schule kamen, sprach der Jüngste: »Trinkt nicht den Kaffee, sonst müßt ihr sterben.« Als sie nach Hause kamen, gab ihnen die Mutter den Kaffee, sie gossen ihn aber auf die Erde und gingen wieder zur Schule. Als der Kaufmann kam, fragte er: »Haben sie sich übergeben?« Sie verneinte. »Ich muß in die Stadt gehen und Apfel kaufen, sperr sie unterdessen ein, dann werde ich sie töten und herausnehmen, was sie von der Henne verzehrt haben.« Der jüngste Bruder aber sprach: »Wohlan, wir wollen in die Welt ziehen.« — »Warum sollen wir gehen?« — »Unser Vater will uns töten.« So zogen sie in die Fremde und kamen in ein anderes Land. Dort hatte ein Kaiser geherrscht, der war gerade gestorben, und seine Krone hatte man in der Kirche aufgestellt. Derjenige, auf dessen Haupt die Krone von selbst fiele, sollte Kaiser werden. Vielerlei Leute kamen in die Kirche, unter ihnen auch die drei Brüder. Der Älteste trat als erster in die Kirche, und schon flog ihm die Krone auf sein Haupt. »Wir haben einen neuen Kaiser!« riefen die Leute, nahmen ihn bei der Hand und bekleideten ihn mit den kaiserlichen Gewändern. Und er ließ verkünden, daß er der neue Kaiser sei. Das Heer zog auf und huldigte ihm. Da meinte der mittlere Bruder: »Ich bleibe nicht, ich will weiterziehen und auch Kaiser werden.« Der Jüngste aber sagte: »Ich werde nicht mitgehen.« Der Mittlere wanderte also weiter und kam schließlich zu einem anderen Kaiser, der eine Tochter hatte. Dieser Kaiser gab bekannt: »Wer meine Tochter im Glücksspiel besiegen wird, soll sie zur Frau haben.« Der zweitälteste Bruder kam also zu ihr und sprach: »Wohlan, wir wollen miteinander um Geld spielen.« Kaum hatten sie zu spielen begonnen, da besiegte er sie. Einen Tag nur



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spielten sie und keinen zweiten mehr. Da er sie nun besiegt hatte, wurde sie seine Frau, und der Kaiser vermählte sie miteinander und machte ihn zum König.

Die Kaisertochter aber hatte einen Liebhaber, der schrieb ihr einen Brief: »Frage ihn doch, woher er soviel Geld hat.« Und sie fragte ihn: »Mein Gemahl, woher hast du soviel Geld, daß du mich besiegen konntest?« — »In jeder Nacht finde ich 1000 Goldstücke unter meinem Kopf.« — »Wieso denr?« — »Ich habe das Herz einer Henne gegessen.« Da schrieb sie ihrem Liebhaber zurück: »Er hat das Herz einer Henne gegessen, und nun findet er in jeder Nacht 1000 Goldstücke unter seinem Kopfe.« Jener aber schickte ihr wieder einen Brief: »Bereite ihm einen Kaffee, so daß er sich übergeben muß und das Herz wieder von sich gibt. Das nimm dann und iß es, und ich werde dich heiraten.« Sie machte ihm also Kaffee, und er trank ihn und gab das Herz wieder von sich. Und die Kaisertochter verzehrte es. Dann ging sie zu ihrem Vater: »Komm, Vater, und schau, wie er sich erbricht. Ich mag ihn nicht mehr.« Der Kaiser sah es sich an und rief: »Geh mir aus den Augen, ich will dich nicht mehr sehen!« Und er nahm ihm all die kostbaren Gewänder wieder ab und gab ihm gewöhnliche Kleider. Der Jüngling zog von dannen, gelangte in die Wälder und wurde hungrig. Da kam er zu einem Apfelbaum, der trug Früchte. Er pflückte einen Apfel, aß ihn und wurde in einen Esel verwandelt. Weinend ging er hin und her. Als er aber weiterging, fand er einen wilden Apfelbaum, von dem aß er einen Apfel und erlangte seine menschliche Gestalt wieder. Dann kehrte er um und pflückte zwei Apfel von dem ersten Apfelbaum und ebenso pflückte er noch zwei Apfel von dem wilden Apfelbaum. Nun machte er sich auf zu der Stadt, in der seine Frau wohnte, und stellte sich am Wege auf. Seine Frau kam heraus, um spazierenzugehen. »He, Mann, verkaufst du Apfel?« — »Ja.« Und er verkaufte ihr einen Apfel. Kaum hatte sie hineingebissen, da wurde sie in eine Eselin verwandelt. Da nahm er sie bei der



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Mähne, legte ihr einen Zügel um den Kopf und ritt auf ihr in die Stadt hinein und kam zu einem Wirtshaus. Dort ließ er bitteren Kaffee bereiten und goß ihn ihr ins Maul. Da mußte sich die Eselin wieder und wieder erbrechen, und schließlich kam das Herz zum Vorschein. Der Jüngling nahm es und verzehrte es. Dann sprach er: »Jetzt bin ich Herr.« Und er ging zu seinem Schwiegervater. »Du mußt Gericht halten, hier bring ich deine Tochter.« Der Kaiser berief seine Minister. Der Jüngling aber sprach: »Ich will nicht, daß ihr den Richtspruch fällt, kommet mit mir zu dem neuen Kaiser.« Da machten sie sich auf den Weg zum neuen Kaiser. Der Kaiser fuhr im Wagen, und sein Schwiegersohn, der Jüngling, ritt auf seiner Gattin. So kam er mit ihnen zu seinem Bruder, dem neuen Kaiser. Der jüngste Bruder hatte aber bereits vorausgesagt: »Unser Bruder wird hierher vor Gericht kommen, darum fälle du ein gutes Urteil.« Als die beiden Kaiser zusammentrafen, verneigten sie sich voreinander, und der Schwiegervater sprach: »Sprich du das Urteil für diesen Mann.« — »Ich werde es sprechen. Du hast diese in eine Eselin verwandelt, gib ihr wieder Menschengestalt.« — »Aber nur, wenn sie Treue hält.« Der Kaiser erwiderte: »Sie wird Treue halten, nur soll er ihr ihre Gestalt wiedergeben.« Da gab er ihr eine Frucht des wilden Apfelbaums, die aß sie und wurde wieder zur Frau. Ihr Vater, der Kaiser, nahm seine Krone und setzte sie dem Jüngling aufs Haupt mit den Worten: »Nimm meine Krone, du sollst Kaiser sein!«


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