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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


34. Der Bartlose

Es waren einmal zwei Brüder, die gingen in die Fremde in ferne Länder. Der eine starb unterwegs, der andere wurde groß und reich, so groß und reich, wie man sich kaum denken kann. Sein größtes Leidwesen war jedoch, daß er keine Kinder bekam, die sein Reich erben konnten. Deshalb schickte er eines Tages Nachricht zu seinem Verwandten, daß sein Neffe zu ihm kommen solle. Was sollte sein Neffe nun tun? Er brach also auf und begab sich zu seinem Onkel. Unterwegs begegnete ihm auf der Reise ein Bartloser, der ihn fragte: »Wohin willst du denn, mein Junge?« — »Ich will zu meinem Onkel in der Fremde, in ein fernes Land«, sagte er. »Hei, da geh ich mit dir!« Da zogen sie zusammen weiter, der Knabe zu Pferde und der Bartlose zu Fuß. Nachdem sie mehrere Tage gewandert waren, kamen sie durch einen öden, verlassenen Wald. Der Knabe war durstig geworden; endlich trafen sie auf eine tiefliegende Quelle mit Wasser. Da sagte der Knabe zum Bartlosen: »Gib mir ein wenig Wasser zu trinken.« Aber der Bartlose erwiderte ihm: »Steige selbst hinunter und trinke.« Auf diesen Augenblick wartete nämlich der Bartlose nur. Nichts Böses ahnend kletterte der Knabe hinunter; und als er wieder herauf wollte, war von draußen der Deckel zugeschlagen und er in dem Brunnen eingeschlossen. Der Knabe bat, der Bartlose solle ihn doch wieder herauslassen. »Das fällt mir gar nicht ein.« Der Knabe bat ihn inständig, aber alles Bitten war vergebens. »Warum läßt du mich denn nicht heraus?« »Nur unter einer Bedingung will ich dich wieder freilassen, wenn du dich bei mir als Diener verdingst. Ich werde den Herren spielen und dein Pferd besteigen, du aber sollst zu Fuß gehen.« Der Knabe schwur einen Eid, daß es so geschehen solle und daß er bei niemand anders Dienste annehmen und niemand davon erzählen wolle, auch für den Fall, daß der Bartlose stürbe. Sollte der Knabe aber sterben und wieder lebendig werden, dann dürfe er von dem Vorfall



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erzählen. »Das wird ja doch nie eintreten«, dachte der Bartlose.

Sie machten sich also beide wieder auf den Weg. Der Bartlose war der Herr, der Neffe des reichen Mannes war sein Diener. Endlich gelangten sie zum Onkel, dem Kaiser. Als dieser von der Ankunft seines Neffen hörte, ging er ihm mit Musik und mit dem ganzen Heer entgegen. Der Bartlose näherte sich immer mehr dem Kaiser; und je näher er kam, desto mehr befahl er seinem Diener, bald dies, bald das zu tun; denn er fürchtete, der Knabe würde alles seinem Onkel verraten. Um dies zu verhindern, schickte er ihn fort, mit dem Auftrag, einen Karren voll grünem Heu zu holen, einem Auftrag, der auszuführen unmöglich war, denn im Herbste kann man kein Heu mehr finden. Trotzdem spannte der Knabe die Pferde an den Wagen und brach auf. Er weinte; woher sollte er das Heu nur nehmen? Da flog ihm in seiner Not ein Vögelchen zu und fragte ihn: »Was ist dir denn, Knabe? Warum weinst du?« Und er erzählte ihm die ganze Angelegenheit. »Habe keine Furcht, ich werde für dich schon alles machen.« Während der Knabe schlief, füllte sich der Wagen mit Heu. Freudestrahlend kam er nun zum Bartlosen zurück. Als der Kaiser ihn sah, wunderte er sich gar sehr über den merkwürdigen Diener, drückte dem Bartlosen seine Verwunderung darüber aus und sagte zu dem Diener: »Bravo, mein Junge!« und gab ihm noch obendrein einen großen Lohn. Der Bartlose platzte vor Wut, denn er konnte solche Wunder nicht vollbringen. Er dachte daher nach, wie er den echten Neffen wohl am schnellsten loswerden könnte. Am liebsten hätte er ihn selbst umgebracht. Er versuchte es aber noch einmal auf andere Art. Er schickte ihn zu drei schönen Mädchen, die noch keiner bisher hatte aufsuchen können, denn es waren drei böse Feen, Töchter von Drachen. Sein Diener sollte eine dieser Feen entführen. Der Knabe brach auf und begegnete unterwegs einigen Ameisen. Die fragten ihn: »Wohin des Wegs?« Der Knabe antwortete: »Ich gehe



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eine Waldfee holen.« Die Ameisen hatten Mitleid mit ihm und gaben ihm je einen Flügel mit den Worten: »Wenn du mal etwas nötig hast, so stecke diesen Flügel ins Feuer und wünsche dir etwas dabei, dann wird dir dein Wunsch erfüllt.« Er ritt und ritt und gelangte schließlich auch an die Donau. Da sah er am trockenen Ufer einen großen Fisch zappeln. Dieser Fisch bat den Knaben: »Lieber Knabe, bringe mich wieder ins Wasser, ich tue dir auch recht viel Gutes.« Der Knabe nahm den Fisch, steckte ihn ins Wasser, und zum Danke dafür gab der Fisch ihm eine wundertätige Schuppe. »Wenn du mal etwas recht nötig hast, so brauchst du nur diese Schuppe ins Feuer zu werfen, sofort stehe ich dir zur Verfügung.« Der Knabe ritt weiter und gelangte endlich zu den schönen Mädchen. Da kam auch gerade eine aus dem Drachenpalast; ganz verwundert fragte sie: »Was willst du denn hier, Knabe?« Dieser antwortete ihr: »Ich bin gekommen, um dich als Gemahlin heimzuführen.« — »Mich fortführen, das kannst du nicht. Doch halt, ich werde dir zwei Aufgaben geben, du sollst mich haben, wenn du sie lösen kannst. Ich habe einen Speicher, in dem ist Weizen, Mais und Gerste gemischt; wenn du alle drei Sorten voneinander scheiden und jede für sich an ihren Ort legen kannst, so gehe ich mit dir.« Da holte der Knabe heimlich einen Flügel der Ameise hervor und warf ihn ins Feuer, und siehe da, im selben Augenblick kamen Ameisen, so viele wie Regentropfen bei einem Regenguß. Er sagte ihnen, daß diese Nacht alle Körner in dem Speicher für sich in drei Haufen zusammengetragen werden sollten. Da sah man die unzähligen Ameisen emsig die einzelnen Körner zusammentragen. Es wimmelte und kribbelte. Frühmorgens, als der Knabe sich erhob, war die Arbeit getan. Das Mädchen sah es und sagte zu dem Knaben: »Bravo, das hast du gut gemacht, doch hast du noch eine Aufgabe. Als ich jung war, fuhr ich auf dem Meere spazieren, auf einer solchen Spazierfahrt fiel mir mein Ring ins Wasser. Wenn du den wiederfindest, dann gehe ich endgültig



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mit dir.« Als der Knabe den Auftrag vernahm, dachte er gleich an die Schuppe, die der Fisch ihm gegeben hatte. Er warf sie ins Feuer, und im Nu war auch der Fisch schon da. Der Fisch suchte den Meeresgrund ab, suchte hier und suchte dort, bis er den Ring endlich fand. Er gab ihn dem Knaben in die Hand. Flugs eilte dieser zu dem schönen Mädchen und überreichte ihm den Ring. »Dieses ist der Ring.« — »Nun gehe ich mit dir«, sagte sie, und sie brachen beide auf. Der Bartlose wunderte sich und war vor Schreck ganz starr, daß auch diesmal dem Knaben die große Tat gelungen war. Was sollte er nun machen, um den lästigen, gefährlichen Nebenbuhler loszuwerden? Außer sich vor Wut erhob er sich, gab ihm zwei kräftige Ohrfeigen, zog dann sein Schwert und schlug ihn tot. Schließlich warf er die Leiche fort. Aber das Mädchen sah dies, sie sammelte alle seine Knochen und setzte sie wieder zusammen, so wie sie waren, und goß Lebenswasser über sie; und siehe da, der Knabe erhob sich wieder und sagte: »Ach, ich habe einen tiefen, schweren Schlaf gehabt.« Aber sie sagte zu ihm: »Du hast nicht geschlafen, dich hat der Bartlose getötet, und ich habe dich wieder lebendig gemacht.« — »Aha, so ist das«, sagte der Knabe und ging darauf zu seinem Onkel und erzählte ihm alles. »Onkel, ich bin dein Neffe, nicht dieser Bartlose hier, den du siehst. Der hat mich in den Brunnen im Walde eingesperrt und hat mir in meiner Not einen Eid abgenommen, niemandem etwas von dem Betruge zu sagen. Andernfalls hätte er mich nicht freigelassen. Ich habe geschworen, ich habe zu niemandem etwas gesagt, bis zu meinem Tode; aber jetzt kann ich den Eid brechen, denn ich war tot, und diese hier hat mich wieder aufgeweckt.« Er wies dabei auf die Fee, die er für den Bartlosen hatte holen müssen.

Als das der Kaiser hörte, daß er der wirkliche Neffe sei, wußte er sich vor Freude nicht zu fassen und umarmte und küßte seinen Neffen. Zugleich packte ihn der Zorn über den Bartlosen, er zog sein Schwert und schlug ihn in Stücke. Dem



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Knaben aber gab er das Mädchen zur Gemahlin, und noch am selben Tage feierten sie eine große, schöne Hochzeit. Der Knabe blieb nun beim Onkel und wurde Kaiser und blieb es bis zu seinem Tode.


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