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Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


20. Der rote Kaiser und der Vampir

Es war einmal ein roter Kaiser. Der kaufte sich für 10 Gulden zu essen. Er bereitete sich Speisen und setzte sie in einen Schrank. Dann schloß er den Schrank zu, und jede Nacht rief er Leute, die auf sein Essen aufpassen sollten. Am zweiten Tage fand er die Schüsseln leer, soviel er auch suchte. »Nun«, sagte der Kaiser, »ich gebe die Hälfte meines Kaiserreiches demjenigen, der auf meinen Schrank aufpaßt, daß nichts aus ihm verschwindet.« Dieser Kaiser hatte drei Söhne. Der älteste dachte bei sich: »Ach Gott, es ist nicht gut, wenn er die Hälfte seines Kaiserreiches einem Fremden gibt, ich will selber aufpassen, und Gott mag mit mir machen, was er will.« Er ging zum Vater. »Vater«, sagte er, »du sollst leben. Aber warum willst du die Hälfte deines Königreichs einem Fremden geben? Ich will Wache halten.« Da sagte der Vater zu ihm: »Meinetwegen, aber fürchtest du dich nicht vor dem, was du sehen wirst?« Doch er sagte: »Gott wird es mit mir schon recht machen«, und er ging und stellte sich als Wache auf. Er legte den Kopf auf das Kissen, und so mit dem Kopf auf dem Kissen lag er bis zum frühen Morgen. Da kam ein heißer Wind und schläferte ihn ein. Und nun stand seine kleine Schwester auf, überschlug sich und verwandelte sich in ein Wesen mit Fingernägeln wie Sensen und Zähnen wie Schaufeln. Sie machte den Schrank auf und aß und aß. Dann wickelte sie sich wieder in Windeln, legte sich zurück in die Wiege, denn sie war noch ein ganz kleines Kind. Der Junge erhob sich und sagte seinem Vater, daß er nichts gesehen habe.



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Sein Vater ging an den Schrank, fand aber darin nichts mehr vor. Da sagte ihm der Vater: »Ein anderer wäre tüchtiger gewesen als du, bei ihm wäre nichts weggenommen worden.«

Da ging der mittlere Sohn zum Vater: »Vater, du sollst leben, ich will heute abend aufpassen.« — »Gehe, mein Sohn, aber sei tapfer.« — »Wie Gott will.« Und er ging in das Haus und legte den Kopf auf das Kissen; und so gegen zehn herum kam ein heißer Wind, und der Schlaf überkam ihn. Da erhob sich seine Schwester, die zum Vampir geworden war, und wickelte sich aus den Hüllen, die sie umgaben. Sie überschlug sich, und da wurden ihre Zähne wie Schaufeln und ihre Nägel wie Sicheln. Sie ging an den Schrank, schloß ihn auf und aß, was sie nur fand. Als sie alles aufgezehrt hatte, überschlug sie sich wieder und legte sich wieder in ihre Wiege. Der Morgen kam, und der Knabe erhob sich, und als er zum Vater kam, sagte dieser zu ihm: »Andere wären tapferer gewesen als du und hätten mir keinen Schaden angetan, aber so ein Elender wie du -!«

Da erhob sich der jüngste Sohn: »Vater, du sollst leben, erlaube auch mir, daß ich am Schranke heute abend Wache stehe.« —»Gehe, mein Sohn, habe aber keine Furcht vor dem, was dir geschehen wird!« — »Wie Gott will«, sagte der Knabe. Und er ging, nahm vier Nadeln und legte sich mit dem Kopf aufs Kissen. Und die vier Nadeln stach er an vier verschiedenen Stellen ein. Immer wenn der Schlaf ihn übermannen wollte, stach er sich mit dem Kopf in eine Nadel und sprang auf. Und so ging es bis zehn Uhr. Da erhob sich seine Schwester aus der Wiege, und er sah sie. Sie überschlug sich, und er blickte starr auf sie hin. Da wurden ihre Zähne wie Schaufeln und ihre Nägel wie Sensen. Wieder ging sie an den Schrank und aß alles auf und ließ die Schüsseln leer zurück. Sie fuhr sich über den Kopf und wurde wieder so klein, wie sie vordem gewesen war. Dann ging sie wieder in die Wiege. Als das der Knabe sah, da verlor er seinen Verstand, so sehr fürchtete er sich. Und die Zeit bis zum Morgen schien ihm,



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als ob es zehn Jahre gewesen wären. Dann stand er auf und ging zum Vater. »Vater, du sollst leben.« Aber der Vater fragte ihn: »Hast du etwas gesehen, Peter?« — »Ich habe etwas gesehen, ich habe aber auch nichts gesehen. Gib mir ein Pferd und Geld, soviel wie ein Pferd tragen kann, denn ich will mich verheiraten«, setzte er hinzu. Da gab ihm sein Vater ein paar Säcke voll Gulden und schnallte sie aufs Pferd. Darauf ging der Knabe hinaus vor die Stadt und machte am Rande der Stadt ein Loch. Er machte sich eine Steinkiste und legte sein ganzes Geld dort hinein und vergrub es. Er setzte ein Kreuz von Stein darauf und brach auf. Und er ging auf die Wanderschaft acht Jahre lang. Da kam er zur Kaiserin der Sperlinge, der Herrscherin über alle Vögel.

Die Sperlingskaiserin fragte ihn: »Wo bist du her, und wo willst du hin, Peter?« — »Wo es keinen Tod und kein Alter gibt, dort will ich mich verheiraten.« Da sagte die Kaiserin zu ihm: »Hier gibt es keinen Tod und kein Alter.« Aber Peter fragt sie: »Warum gibt's das hier nicht?« Und sie antwortete ihm: »Wenn ich alle diese Bäume und alle diese Wälder durchlöchert haben werde, dann kommen das Alter und der Tod und holen mich.« Aber Peter sagte: »Heute einer und morgen einer und so fort, und so kommt der Tod und das Alter doch einmal und holt mich schließlich auch.« Darum ritt er weiter und weiter, wieder acht Jahre lang, und kam an einen Hof, der war von Kupfer. Aus dem Hofe kam ein junges Mädchen, die umschlang ihn und küßte ihn. Und sie sagte zu ihm: »Ach, wie lange habe ich auf dich gewartet.« Dann nahm sie das Pferd und führte es in den Stall. Er blieb über Nacht dort. Am zweiten Tage erhob sich der junge Held und sattelte sein Pferd. Doch das schöne Mädchen fing an zu weinen und fragte ihn: »Wo willst du hin, Peter?« — »Dorthin, wo es keinen Tod und kein Alter gibt.« Da sagte das junge Mädchen: »Hier gibt's keinen Tod und kein Alter.« Er fragte sie: »Warum nicht?« — »Siehe, dann erst kommt der Tod und das Alter, wenn all diese Berge abgeholzt und diese



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Wälder gefällt sein werden.« — »Nein, hier ist nicht mein Ort«, sagte der Knabe.

Und wieder ging's weiter. Da sagte das Pferdchen zu ihm: »Gib mir vier Peitschenhiebe und dir zwei, damit wir aufs Feld der Sehnsucht kommen. Doch wenn die Sehnsucht dich ergreift und dich vom Pferde werfen will, so gib mir die Sporen und eile, so schnell du kannst, und bleibe um Himmels willen nicht stehen.« So gelangte er an ein kleines Häuschen. In diesem Häuschen sah er einen Knaben, der etwa zehn Jahre alt war. Dieser fragte ihn: »Was suchst du hier, Peter?« — »Ich suche ein Land, wo es keinen Tod und kein Alter mehr gibt.« — »Hier gibt's keinen Tod und kein Alter, denn ich bin der Wind.« Aber Peter sagte: »Von hier gehe ich nicht wieder weg.« Und hier blieb er Hunderte von Jahren und alterte nicht. Während der junge Held dort weilte, ging er zur Jagd auf die Berge von Gold und Silber. Doch Wild brachte er kaum nach Hause. Der Wind mahnte ihn: »Peter, du kannst über alle Berge von Gold und Silber gehen, aber auf den Berg der Sehnsucht und ins Tal der Trauer darfst du nicht gehen.« Aber er dachte nicht daran und ging doch auf den Berg der Sehnsucht und ins Tal der Traurigkeit. Da packte ihn die Traurigkeit und warf ihn zu Boden. Und er weinte, bis ihm die Augen voll Tränen waren.

Da begab er sich zum Wind. »Ich will jetzt nach Haus zu meinem Vater, ich bleibe nicht länger.« — »Gehe nicht zu deinem Vater, denn dein Vater ist längst tot. Auch von deinen Brüdern lebt keiner mehr. Seit damals sind vielleicht schon Millionen 1 von Jahren vergangen. Und wo der Hof deines Vaters stand, daran erinnert sich kein Mensch mehr. Dort hat man Melonen gepflanzt. Es ist kaum eine Stunde her, seitdem ich von dort komme.« Dennoch brach der Knabe auf und kam zu dem jungen Mädchen, das den Hof von Kupfer hatte. Ein einziges Stück Holz war ihm noch geblieben zum Zerhacken, doch es war schon sehr alt geworden. Gerade als er



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an ihre Tür klopfte, fiel der Greisin das Holz aus der Hand, und sie starb. Da begrub er sie und brach von dort wieder auf.

Nun gelangte er zur Kaiserin der Sperlinge. In jenen weiten Wäldern war ihr nur noch ein einziger Zweig übrig geblieben, den sie noch zu durchlöchern hatte. Und als sie ihn sah, sagte sie: »Peter, so jung bist du noch?« Aber er sagte zu ihr: »Siehst du, und du sagtest mir, ich solle bei dir bleiben.« Sowie der letzte Zweig durchlöchert war, fiel sie zu Boden und starb. Und er begrub sie und brach von hier weiter auf. Da kam er an die Stelle, wo einstmals die Gehöfte seines Vaters gestanden hatten. Er blickte sich überall um. Aber da stand kein Hof mehr, nichts war um ihn herum. Da wunderte er sich gar sehr. »Herr, groß bist du.« Er erkannte nur den Brunnen seines Vaters wieder, zu dem ging er. Seine Schwester, die ein Vampir war, sah ihn und schrie: »Seit langem erwarte ich dich, du Hund!« und stürzte auf ihn los, um ihn zu fressen. Da schlug er schnell ein Kreuz, und sie verschwand. Dann brach er auch von hier auf und gelangte an einige Holundersträucher. Dort traf er einen Alten mit einem Barte, der bis zum Gürtel reichte. »Alter«, sagte er, »wo befinden sich die Höfe des roten Kaisers, ich bin sein Sohn.« — »Ei, mein Sohn, was du nicht sagst. Du bist sein Sohn? Der Vater meines Vaters erzählte mir einst vom roten Kaiser. Es gibt keine Stadt mehr. Siehst du nicht, daß alles verlassen ist? Und du willst mir sagen, daß du der Sohn des roten Kaisers bist?« — »Noch nicht einmal 20 Jahre sind vergangen, seitdem ich von meinem Vater aufgebrochen bin. Und du sagst mir, daß du meinen Vater nicht kennst?« Es waren aber schon Millionen von Jahren vergangen, seitdem er von Hause aufgebrochen war. »Komm hierher, wenn du mir nicht glauben willst.« Er ging ans Steinkreuz und siehe, nur eine Handbreit war vom Kreuz noch zu sehen, und er grub zwei Tage lang, bis er auf die Lade mit Geld stieß. Als er die Lade von unten heraufholte und sie aufmachte, da saß der Tod in einer Ecke und das Alter in der andern Ecke, beide zusammengekauert.



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Da sagte das Alter zum Tod: »Hole ihn, Tod!« — »Hole du ihn!« Da ergriff ihn das Alter und schließlich auch der Tod. Und der alte Mann begrub ihn schön und setzte ihm ein Kreuz. Dann nahm er das Geld und das Pferd.

Es war einmal ein Kaiser, der hatte keine Kinder. Da schickte ein anderer Kaiser zu ihm, daß er sich mit ihm schlage. Der Kaiser rüstete sich zum Marsch. Und als er einen halben Tag marschiert war, erinnerte er sich, daß er kein Kind hatte. Da kehrte er zur Kaiserin zurück und sagte zu ihr: »Wenn ich aus dem Krieg zurückkomme und ich finde kein Kind von dir vor, so töte ich dich.« Da nahm sie einen Wagen und fuhr spazieren. Unterwegs begegnete ihr ein ganz winzig kleiner Mann und schickte sie nach Hause. Sie kam nach Hause und fegte das Haus und sagte zu ihren Wächtern: »Wenn ein Mann kommen wird, so laßt ihn herein.« Da stand er plötzlich vor ihr. Er brachte ihr ein kleines Fläschchen mit Arzneien mit und sagte zu ihr: »Nimm und trinke es.« Und sie trank. Doch während sie trank, schaute sie sich um, und siehe da, sie erblickte niemand an ihrer Seite. Sie ging hinaus und fragte die Wächter: »Ist hier kein Mann herausgegangen?« Doch sie sagten ihr, daß hier kein Mensch vorbeigegangen wäre. Darauf ging sie wieder hinein und schlief. Und als sie früh aufwachte, war sie guter Hoffnung. Neun Monate war sie schwanger. Und siehe da, sie gebar ein Kind, das war zu einem Drittel Hund, zum andern Bär und zum dritten Mensch. Das Kind sagte zu seiner Mutter: »Mache mir eine Wiege, und laß eine Rumänin mich schaukeln.« Aber es verlangte weder zu essen noch zu trinken. Es wartete, bis sein Vater aus dem Krieg zurückkam. Und Gott fügte es, daß dieser den anderen Kaiser besiegte und gesund nach Hause kam.



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Als er nach Hause kam, erhob sich der Knabe und ging seinem Vater entgegen und fragte ihn: »Wo warst du denn, Vater, seit drei Jahren erwarte ich dich!« Aber sein Vater zog den Dolch und wollte ihn schon töten, denn er kannte seinen Sohn ja nicht. Er legte seine Hand auf den Dolch und sagte: »Doch vorher will ich fragen, wer der ist.« Und er fragte ihn: »Wer bist du, der du mich fragst?« Aber das Kind sagte zu ihm: »Ich bin dein Kind.« Und der Kaiser sagte: »Ich verstehe nicht, ich soll ein Kind haben?« Und das Kind erwiderte: »Hast du denn vergessen, daß, als du in den Krieg zogest, du von meiner Mutter verlangt hast, sie müsse dir ein Kind schenken?« Aber der Kaiser sagte: »Wenn du mein Kind bist, so laß mich zu dir hinabsteigen.« — »Steige nicht hinab«, bat er seinen Vater, »sondern gehe in die Kirche, die im Walde steht, dort sind zwölf Priester, verjage sie alle zwölf. Doch einer ist da, der Andreas heißt, den laß dort. Dann mache mir einen Steinsarg und trage mich in die Mitte der Kirche und schicke mir jede Nacht einen Wächter.« Drei Jahre lang schickte ihm sein Vater nun in jeder Nacht einen Wächter. Aber die Leute des Kaisers sprachen unter sich: »Soviel er von uns wegschickte, ist noch keiner zurückgekommen. Jetzt wollen wir ihm nicht mehr gehorchen.« Sie sprachen also zum Kaiser: »Jede Nacht geben wir dir Männer, und jedes Mal kommt der, den du schickst, nicht wieder zurück. Du bekommst von jetzt ab keinen Mann mehr. Morgen oder übermorgen kann uns vielleicht ein anderer Kaiser zum Kampfe herausfordern. Was sollen wir machen, wenn wir keine Männer mehr haben, die in den Krieg ziehen, mit wem sollen wir dann ausziehen?« Da beauftragte der Kaiser einen Helden und führte ihn zu jenem Vampir in die Kirche. Und dieser tötete ihn an Ort und Stelle, doch der Kaiser setzte zum Danke den Helden als Kaiser ein.


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