Universitätsgeist und Fachleben
Rektoratsrede
gehalten bei der 93. Stiftungsfeier der Universität Bern
am 26. November 1927
von
Dr. phil. Volkmar Kohlschütter
o. Professor der Chemie
PAUL HAUPT
Akademische Buchhandlung vorm. Max Drechsel
Bern 1928
•
Hochansehnliche Versammlung!
Die Universität benutzt ihren Stiftungstag als eine der seltenen
Gelegenheiten, in ihrer Gesamtheit in die Erscheinung zu treten,
und in dem Brauche, denjenigen, der für ein Jahr ihre Geschäfte
führt, nach Fakultät und Fach zu wechseln, liegt ein Ausdruck ihres
Willens, in der Vielheit ihrer Zusammensetzung die Einheit zu
wahren.
So kommt es an einen Vertreter der Chemie, das felix faustum
fortunatumque sit über das neue Studienjahr zu sprechen. Er soll,
heisst das, Sie, liebe Kommilitonen, zum Vorwärtsstreben im Sinne
der Hochschule ermutigen; ihren verehrten Freunden neues Wohlwollen
und Zutrauen zu ihr einflössen; bei Ihnen, werte Herren
Kollegen, die Ueberzeugung von der übereinstimmenden Auffassung
unserer Aufgabe befestigen, und den Vertretern einer hohen Regierung,
der wir für alle Förderung in der Vergangenheit Dank schulden
und zollen, fortdauernde Fürsorge für das Gedeihen unserer Anstalt
ans Herz legen und Verständnis für ihre neuen Bedürfnisse erwecken.
Denn nur, wenn alles dies sich erfüllt, kann der glückbeschwörende
Spruch sich bewähren!
Den Chemiker nötigt die vielen fremde Art seiner Welt, sich
zu besinnen, wo er die Worte suchen soll, die dem Zweck dieser
Stunde dienen können, und die absondernden Gewohnheiten seiner
Facharbeit mahnen ihn, sich zu fragen, was ihn mit dem Gemeinwesen
verbindet, das die Hochschule ist und dessen höchstes Amt
er versehen soll.
Deshalb gestatten Sie mir, die Gedanken auf dieses Gemeinwesen
selbst zu richten und ein Thema zu wählen, das ich nicht
weit herzuholen brauche, weil es durch die Brennpunkte der
eigenen Lebensbahn bezeichnet ist: Lassen Sie mich sprechen von
der Universität und meinem Fach.
Freilich meine ich mit dem einen Worte nicht zuerst die Anstalt
hier, die unser engeres Band, ist, sondern die Universität im
allgemeinen, und nur die Art einer solchen, die wir vor uns haben;
und bei dem anderen habe ich die Wissenschaft, an die ich mich
halten muss, zwar in ihrer Besonderheit, jedoch auch als das
Beispiel eines einzelnen Universitätsfaches, im Auge. Sie aber möchte
ich nach ihren Lebensumständen betrachten, — gewissermassen
von der biologischen Seite, die ihr Verhältnis zur Universität darbietet.
Denn man kann fragen, ob das Fach, das wir deren Körper
eingefügt sehen, mit ihm innerlich verbunden und ein von ihm
gelenktes Organ ist, und wie es sich überhaupt zu den Einrichtungen,
zum Geiste, zum ganzen Wesen der Universität stellt. Und
eben indem dies geprüft wird, ist, wie ich glaube, manches zu
finden, was sich schon ohne jedesmaligen Hinweis weiter übertragen
lässt, so dass es um Gemeinsames geht, wenn der Fall
Chemie verhandelt wird.
1.
Zweifellos wird von der Gedankenbrücke Universität-Chemie
allerlei sichtbar, was das Verhältnis zwischen beiden fragwürdig
macht.
Die Universitäten sind alte Institutionen, und sie tun sich
etwas zu gute darauf. Hat eine, wie die unsere, noch nicht hundert
Jahr' vorüber, marschiert sie weit hinten, wo die Rangordnung
nach dem Alter gemacht wird, und darf sich für modern halten;
aber auch eine solche steht tief in viel älteren Traditionen. Ihre
Verfassung ist ganz und gar veraltet. Ihre Gliederung entspricht
weder Grundsätzen der Ordnungslehre noch dem heutigen Verhältnis
der Wissenschaften. Altmodische Gebräuche, die wir um
ihres einstigen Sinnes willen zu bewahren trachten, umgeben sie.
Sie hält sich fern vom Tagesgetriebe und von der Politik, weil ihr
Einsamkeit und Freiheit als Lebenselemente gelten, und setzt
Schranken vor ihre Tore, weil sie dem Interesse der Vielen misstraut.
Es gibt nichts Unzeitgemässeres als so eine Universität, und
— zu ihr gesellt sich die Chemie!
Auch sie von alter Herkunft, aber von seltener Wandelbarkeit;
erfüllt von immer neuesten Ideen; respektlos selbst gegen ihre
Klassiker; die Grenzen ehemaliger Definitionen ihres Wirkens nach
allen Seiten überspringend. Bewegend und bewegt steht sie im
Leben. In allen Gebieten schreibt sie Normen vor und ordnet ihre
eigenen Arbeitsweisen nach vernunftgemässen Regeln. Man beargwöhnt
sie, weil sie liebgewordene Formen der Naturbetrachtung,
des Wirtschaftens, der Lebensweise und der Heilkunst bedroht; —
dennoch ist sie unbestreitbar das bevorzugte und bestaunte Kind
der Zeit, die alles von ihr glaubt erwarten zu können: Reichtum
und ewige Gesundheit, Enthüllung letzter Geheimnisse und Befreiung
von materieller Not.
Und sie will davon ja auch bringen, soviel sie kann, für die
Gesamtheit und für jeden, — das höchste Glück der grössten Zahl!
Darum sitzt sie im Rat bei der Industrie, leitet sie Rohstoffämter
der Nationen, und sucht sie Aufgaben für die Wissenschaft in
Bedürfnissen der Gegenwart.
Aber der Träger einer solchen Wissenschaft ist kaum noch
der "Weise" Schillers, der "im stillen Gemach" der Stoffe Gewalt
prüft. Ihn und seine Wirtschaft unter dem Dach zu haben, muss ja
der Universität ein Greuel sein; und er selbst denkt vielleicht: "Was
habe ich an dieser Universität? Das Wahre ist die WeIt da draussen,
die meine Arbeit zur Wirkung bringt und das Land der Sehnsucht
für die Gedanken meiner Schüler ist".
Anderes, was Bedenken macht, taucht auf. Die Universität will
die Gesamtheit der Wissenschaften verkörpern und ihr "Konzert"
sein. Das fordert Gleichgewicht zwischen den Teilen; die übermässige
Entfaltung eines Faches ist nicht erwünscht Die Chemie
aber beängstigt durch ihr Wachsen. Man sehe bloss ihr Schrifttum:
Die zentrale Berichterstattung hatte es im letzten Jahr mit 500
Zeitschriften und 30,000 Abhandlungen zu tun, von neuen Büchern
gar nicht zu reden. Macht sich eine andere Wissenschaft ebenso
breit? Fortgesetzt erzeugt sie ausserdem durch Spaltung, Verzweigung
Verbindung, neue Abteilungen, die selbständige Geltung beanspruchen.
Wachsender Umfang und Teilung der Wissenschaft
aber bedeuten für den Fachmann zunehmende Beschränkung auf
Einzelnes und immer stärkere Abkehr vom Ganzen. Das Gesamtwissen
verteilt sich; man findet nicht mehr den BERZELIUS, der vor
80 Jahren noch alle Zweige übersah; die Vertretung an der Universität
wird daher immer vielköpfiger, und das Fach selbst muss
bereits um seine Einheit kämpfen wie die Universität um die
ihre. Das Gleichgewicht ist sichtlich gestört; für einen abgestimmten
Organismus ist die Chemie hypertrophiert.
Und weiter: Die Universität möchte nicht nur der Agent der
Wissenschaften, ihr corps diplomatique sein, sondern sie hat den
Ehrgeiz, dass die Fachgelehrsamkeit bei ihr sitzt; ihre Professoren
sollen als die Fackelträger der Erkenntnis und die Autoritäten im
Streit der Meinungen gelten. — Die chemische Forschung aber hat
andere Zentren der Wissenschaftsförderung gefunden: Forschungsinstitute
in der Sphäre der Gelehrtenakademien und unter den
Fittichen der Industrie. Es ist Wetterleuchten für das Universitätsfach,
wenn wissenschaftliche Arbeiten von weittragender Bedeutung
die Unterschrift der Laboratorien grosser Erwerbsgesellschaften
tragen! Solche Freistätten ziehen die Gelehrten aus der Universität,
weil sie bieten, was diese ihrer Natur nach nicht bieten
kann: die ausschliessliche Beschäftigung mit der Forschung.
Denn die Universität ist ja die Anstalt der Lehre. Der Staat
hat ihr die Aufgabe übertragen, "für die gründliche Ausbildung
und Befähigung seiner Bürger für jeden wissenschaftlichen Beruf
hinlänglich zu sorgen", wie unser Gesetz es fasst, und er überzeugt
sich durch ein System von Prüfungen, dass es geschieht. — Aber
die künftigen Chemiker treten vor ihre Lehrer mit der Frage:
"Wisst Ihr, was man später von uns verlangt? Für uns gibt es
nicht die Beruhigung einer staatlichen Abstempelung, sondern über
uns richtet unsere Brauchbarkeit zu tausend technischen Verrichtungen".
Und die Antwort muss lauten: "Dies Tausenderlei ist
nicht das, was wir Euch beibringen können!"
Man nehme diese Gegensätze nicht allzusehr als übertriebene
Aeusserlichkeiten! Die Chemie lehrt, dass die Beständigkeit von
Verbindungen durch äussere Umstände bestimmt wird, und es
liegen trennende Kräfte in derartigen Unterschieden der Atmosphäre
und der Ansprüche. Wenn ein Ausgleich für sie zu finden
ist, so kann er nur in dem gesucht werden, wozu uns heute wieder
zu bekennen der tiefere Sinn dieser Feier ist: im Wesen und
Geiste der Universität.
II.
Dazu muss noch einmal gesagt sein, was eine Universität, wie
sie uns vor Augen steht, ist.
Ihre Merkmale liegen in Dreierlei. Zuerst in der aus dem
13. Jahrhundert stammenden äusseren Gestaltung, — der Organisation,
die eigentlich keine ist. Denn sie ist kein System mit sachlicher
Ueber- und Unterordnung und nach Abhängigkeit oder Umfang
und Bedeutung der Wissenschaften, sondern eine ziemlich
zwangfreie Vereinigung von Disziplinen in autonomen Fakultäten
und eine lockere Zusammenfügung dieser zum ebenfalls autonomen
Ganzen.
Dieser Aufbau ist grundsätzlich mangelhaft, tatsächlich ein
grosser Vorzug. Er gibt dem einzelnen Fache die Freiheit, in seiner
Eigenart zu leben und seine Verhältnisse nach eigenem Ermessen
zu ordnen. Er hat zugleich die Universität davor bewahrt, zu
altern, dem allgemeinen Schicksal organisierter Wesen, und hat
sie anpassungsfähig erhalten; denn er erlaubt, was oft geschehen,
zum Vorteil für das Ganze Verschiebungen von Fächern im Inneren
vorzunehmen und neue Zweige nach Bedarf anzugliedern. Selbst
zweckmässige Ablösungen sind denkbar, wie das Beispiel der technischen
Hochschulen für ganze Fächergruppen zeigt, die an sich
ein Bestandteil der Universität hätten werden können, und so
könnte wohl auch eine einzelne Wissenschaft, der es zu eng in
ihr wird, sezessionistische Neigungen bekommen. Aber vorläufig
gibt es Raum selbst für ein hypertrophiertes Fach.
Indessen mehr als die Form bedeutet das zweite Merkmal, der
Geist, der den alten Körper bezogen und innerlich umgestaltet hat.
Dieser Geist wurzelt in der Epoche, die mit der Forschungs- und
Lehrfreiheit eine höhere Autonomie über alle Wissenschaften
gesetzt hat. Ihre Einführung in die Universität durch Männer,
unter denen weit vorn ALBRECHT VON HALLER steht, war der Anstoss,
dass die Fachwissenschaften ihre Heimat in der Universität suchten,
und das wieder die Voraussetzung, dass das 19. Jahrhundert ihr
ihren eigentlichen Gedanken geben konnte, — den, die Anstalt
zugleich der Forschung und der Lehre und die innere
Verbindung beider zu sein.
Diesen Gedanken von Anfang an in ihren Willen aufgenommen
zu haben, ist der Ruhmestitel unserer Hochschule und ihrer Begründer.
Denn nicht weil das Gesetz von 1834 die Vollständigkeit der
Fakultäten vorsieht und die alte Verfassung eingesetzt hat, ist sie
eine Universität, sondern weil dieses Gesetz erlassen ist "in Betracht,
dass es der Pflicht und der Ehre, sowie dem Interesse des
Staates angemessen ist, alles dasjenige zu tun, was in seinen Kräften
steht, um die Wissenschaft zu fördern"; weil jede Fakultät
(nach § 64!) die allgemeine Pflicht hat, "über die möglichste Förderung
der Wissenschaft zu wachen", und weil der Lehrzweck
hiermit verbunden wird. — Das hat die Hochschule auf die Höhe
des neuen Humanismus gestellt. Denn was dort in Gesetzesformeln
steht, findet sich wieder in Worten aus einer berühmten Denkschrift
WILHELM V. HUMBOLDT'S über das Wesen der Universitäten: "Bei
ihrer Organisation beruht alles darauf, das Prinzip zu erhalten, die
Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz
Aufzufindendes zu betrachten und sie als solche zu suchen." —
»Der Lehrer ist nicht für die Schüler, beide sind für die Wissenschaft
da!" — "Der Hauptgesichtspunkt bleibt die Wissenschaft".
Das alles aber heisst: Die Einzelfächer, denen die Organisation
jede Freiheit lässt, treten gemeinsam unter das Gebot des einen
Universitätsgedankens. Die Forscher werden als Lehrer bestellt; das
Verhältnis zur Wissenschaft, der Anteil an ihrer Förderung entscheidet
demgemäss über die Eignung zum Lehramt. Der Unterricht
ist Einführung in die Wissenschaft; das Studium Eindringen in sie
durch selbsttätige Aneignung ihres Inhaltes und ihrer Methode;
sein Ziel daher nicht Wissen, sondern Verstehen: nicht gelernte
Fertigkeit, sondern Einsicht und Können, schliesslich ein philosophisches
Verhältnis zu den Dingen und damit das Leben im höchsten
Sinne; denn alle Wissenschaft hat allerdings nur den Dienst
am Leben zum letzten Sinn und Zweck.
Durch diese Folgerungen wird zugleich das Dritte bestimmt,
was die heutige Universität kennzeichnet: die nie nachlassende
Nötigung, den Universitätsgedanken in wechselnden Verhältnissen
und angesichts immer neu sich erhebender Forderungen zu verwirklichen,
und die Konflikte, die daraus erwachsen.
Die Frage, wie lässt sich Forschungspflicht und Lehrpflicht
vereinigen? ist der tragische Zwiespalt im Leben des Hochschullehrers.
Diesen Zwiespalt schliesst weder die Gewissheit, dass es
der Forschungsleistung zuträglich ist, dozieren zu müssen, noch
dürfen die Freude, lehren zu können, und das Wohlgefühl, das aus
der verjüngenden Nähe der akademischen Jugend fliesst, über ihn
hinwegtragen.
Und die gleiche Frage stellen die Schüler, der Staat, die Allgemeinheit
von ihrem Standpunkt. Sie wollen, dass der, der lehrt,
in der Wissenschaft gilt; aber es kann einer nur lehren was er
treibt, und das Forschen zu lernen, scheint nicht das, was gebraucht
wird. Auch kann der Forscher doch nur einen kleinen
Ausschnitt seines Faches pflügen, aber gerade das Ganze soll ja
der Universitätsunterricht geben. —
Der Kampf ist auch hier der Vater von allem, weil er das
Leben bedingt. In ihm nicht zu erlahmen, mahnt das Bewusstsein,
dass mit ihrem Prinzip die Universität steht und fällt. Ob sie sich
behauptet, hängt davon ab, wie ihre Fächer den allgemeinen
Gedanken zur Durchführung bringen, denn sie sind die eigentlichen
Träger ihres Lebens.
III.
Unter den Aufgaben, die der Universitätsgedanke jedem Fache
immer aufs Neue stellt, steht obenan, die ihm und seinem Zustande
angemessene Lehrform zu finden, die zugleich den Bedürfnissen
des Lebens und der Förderung der Wissenschaft dient. Für ihre
Lösung unter nicht ganz einfachen Bedingungen hat, wie ich meine,
gerade die Chemie ein ermutigendes Beispiel aufgestellt.
Die Zeit der Universitätserneuerung traf sie als Lehrfach eingebürgert
an; als Wissenschaft hatte sie seit LAVOISIER, BERTHOLLET
und den Kreis um sie ihr System und ihre Methode, seit DALTON
und BERZELIUS ihre Theorie; auch ihre Wertung im praktischen
Leben war schon gross, seit FOURCROY sich nach der Revolution
erfolgreich dafür bemüht. Aber die grossen Forscher, denen sie das
zu danken hatte, waren nicht an den Lehrstätten, und die Universitätschemie
führte ein kümmerliches Dasein. — Ein gutes Bild
von ihrem Lebensstande selbst unter ausgezeichneten Männern erhält
man etwa aus dem hübschen Briefwechsel GOETHE'S mit dem
Jenaer Chemiker DOEBEREINER oder aus Eingaben des ersten Berner
Chemieprofessors BRUNNER, die HAAG'S Geschichte aufbewahrt. —
Der Hauptgrund des hoffnungslosen Zustandes war der Mangel
sachgemässer Unterrichtsformen. Denn was die Universität an solchen
in Gestalt von Vorlesungen und seminaristischen Uebungen
bot, konnte nicht ausreichen für ein Fach von der Art der Chemie.
Um vertraut zu werden mit der Wissenschaft braucht es überall
den lebendigen Umgang mit ihren Gegenständen, — das Spiel von
Frage und Antwort, das von ihnen selbst ausgeht. Das aber ist
ungleich leichter als vor chemischen Dingen dort einzuleiten, wo
es sich um die Werke des Geistes, die in Büchern niedergelegt sind,
handelt; leichter auch noch in manchen Zweigen der Naturkunde,
wo etwa beim Sammeln und Ordnen von Objekten das Wissen
zugleich verwertet und vermehrt und selbst über das an sich
Bekannte hinausgetrieben werden kann. Die chemischen Tatsachen
lassen sich nicht unmittelbar erfassen, weil sie hinter den Erscheinungen
stehen und besondere Mittel nötig sind, um zu ihnen zu
gelangen. — Die Forschung hatte den Weg dazu gefunden, schliesslich
fand ihn auch die Lehre.
Aus den Jahren, in die die Erinnerung an die Gründung
unserer Hochschule führt, steigt eine andere denkwürdige Begebenheit
auf: Die Entstehung von LIEBIG'S Laboratorium in Giessen.
Sie ist ein Markstein im Werdegang der Chemie. Aber sie muss
mehr als das sein, denn sie wird als eine geniale Tat in irgend
einer Geschichte der Kultur, des Unterrichtswesens, der Volkswirtschaft,
selbst der Philosophie und Literatur verzeichnet; man hat
darüber in England, Frankreich, Amerika geschrieben, neuerdings
sogar wieder ziemlich viel.
Der Tatbestand ist bekannt. Ein Chemiker von 21 Jahren, der
bei einem grossen Forscher gesehen, wie man forscht, kommt als
Professor an eine kleine und arme Universität mit dem Gedanken,
seine Werkstatt zur Lehrstatt zu erweitern. Sein Verfahren ist
einfach: Er lehrt, indem er Schüler sich vom ersten Tage an mit
der Materie abmühen lässt und sie anleitet, selbständig zu arbeiten,
um sie baldigst an der Forschung zu beteiligen. Die Notwendigkeit,
das für eine immer grössere Zahl durchzuführen, lässt ihn den fachgerechten
Lehrvortrag, die literarischen und technischen Hilfsmittel
finden, und das Ergebnis ist, dass seine Schöpfung in alle Welt
übertragen wird: sie wird die bleibende Form des höheren chemischen
Unterrichts und von ihm aus die vieler anderer Fächer, die
sie annehmen.
Der Erfolg beruht darauf, dass der Schüler die Tatsachen und
das Handwerk durch die Methode der Forschung lernt, dem lehrenden
Forscher aber in seinen Schülern Hände und Augen für die
Durchführung umfangreicher Untersuchungen wachsen. -— Was
wäre die wissenschaftliche chemische Arbeit von Universitätslehrern
geblieben ohne die Mitarbeit ihrer Studenten! — Die induktive
Forschungsweise verlangt Beobachtungen und bei der Verborgenheit
des Wesens der chemischen Vorgänge eine besonders grosse
Zahl geprüfter Fälle, um die Gesetzlichkeit zu zeigen. Ihre Beschaffung
ist mühsam und fordert Zeit, die der Lehrberuf nicht lässt;
doch solche Einzelarbeit kann leisten, wer daran lernen will, und
mit ihr geht für ihn das Studium in Mehrung der Wissenschaft
über. Das aber ist die Teillösung der Chemie für das grosse Problem,
Forschungspflicht und Lehrpflicht zu vereinen!
Mit dem, was durch solche wechselseitige Förderung gewonnen
wurde, hat die Universitätschemie drei Menschenalter lang
zugleich dem praktischen Leben und der Allgemeinheit gegeben,
was sie brauchen: bereit gestellte Erkenntnisse und die Werkträger,
sie in die Praxis überzuführen; Leute, die fähig sind, Erfinder zu
sein, weil sie zu forschen gelernt, und Männer, die Verantwortung
tragen können, weil sie an die Arbeit für die Wissenschaft gewöhnt.
Denn dies ist ja auch eine der heilsamen Wirkungen jeder Forschertätigkeit,
dass sie den Charakter festigt mit ihrem Zwange,
um der Wahrheit willen immer nach Enttäuschung zu streben!
Es ist schon allzuoft gesagt worden, dass die chemische Technik
ihren Aufstieg zum entscheidenden Lebensfaktor grösstenteils
der Schulung ihrer Hilfskräfte für die Forschung verdankt. Dass
daher die, die mit der Ausbildung zu tun haben, von den Führern
der Industrie beschworen werden, diese Art festzuhalten, ist verständlich;
uns alle aber geht es an, weil wir mit unseren Lebensbedingungen
und daher auch der geistigen Kultur stärker von den
Leistungen der technischen Chemie abhängen, als viele sich oft
klar machen.
Die Universität darf diese Entwicklung mit Genugtuung sehen.
Sie hat dabei gegeben und empfangen. Denn was ist schliesslich
das ganze LIEBIG'sche Unterrichtsverfahren anderes als die Verwirklichung
ihres Grundgedankens? Sie gibt die Studenten. und
das Fach macht sie zu Förderern der Wissenschaft und ertüchtigt
sie zu praktischer Tätigkeit. Damit ist an weit sichtbarer Stelle
gezeigt, dass sie die Anstalt der Forschung und zugleich der Lehre
sein kann und mit ihrem Prinzip ins Leben wirkt. Der Zug hinaus
aber, der von einem Fach wie die Chemie auszugehen scheint,
erweist sich in Wahrheit als eine centripetale Kraft, die auf die
Universität und ihr Wesen zurückdrängt.
IV.
Freilich hat die chemische Unterrichtsweise noch andere Folgen
für die Universität gebracht, die vielleicht nicht überall mit gleicher
Freude betrachtet werden, — mindestens nicht bei den Finanzverwaltungen!
Denn sie hat die Entstehung der Fachinstitute
nach sich gezogen, die das äussere Bild einer Hochschule und die
Voraussetzungen ihrer Unterhaltung so vollkommen verändert
haben.
Was einst ein Kollegiengebäude mit ein paar naturwissenschaftlichen
"Kabineten" und Sammlungen war, — soweit man von
den Hospitälern absieht, in denen die Medizin von alters her ihre
Heimstätten hatte, — ist eine Stadt von Instituten geworden. Diese
Institute haben eine Schraube ohne Ende an die Leistungen des
Staates und den Opfersinn seiner Bürger gesetzt. Darf man das
auch nicht der Chemie allein ankreiden, weil es von dem Aufblühen
aller experimentierenden Fächer verursacht ist, — das böse Beispiel
gab sie allerdings, indem sie ihre Lehrmethode weiter übertrug
und in ihrem Laboratorium das Vorbild ihrer Verkörperung
lieferte.
Jedoch auch für den Universitätskörper bedenkliche Neubildungen,
die die Harmonie des Ganzen bedrohen, sind dadurch entstanden.
Jedes Institut hat besondere Existenzbedingungen; ihre
gemeinsamen Interessen führen zu Zusammenschliessungen über
Fakultätsgrenzen hinweg. Und dann kann man wohl auch fragen,
ob nicht der für sie nötige Aufwand die berechtigten Ansprüche
von Fächern mit bescheidenerer Lebenshaltung oft zu kurz kommen
lässt. Der Gedanke der Einheit der Wissenschaften gebietet, dass
der erforderliche Ausgleich nicht vorenthalten wird; denn erst dann
wird die Universität mit vollem Rechte sagen dürfen, dass sie
doch eine unzweifelhafte Stärkung durch ihre Institute gewonnen
hat, weil sie ihr zeitgemässe Betriebsformen gegeben und damit
ihre Beziehung zum Leben befestigt haben. —
Aber noch etwas anderes, was betrachtet zu werden verdient,
hat die Universität an den Instituten: Sie sind die sichtbare Inkarnation
einer Eigenheit, die zwar bezeichnend für das Fachleben
aller Universitätswissenschaften ist, aber für andere Fächer doch
mehr als etwas nur Ideelles besteht. Was ich meine, ist wiederum
zuerst und vielleicht am eigenartigsten durch die Chemie und ihr
Laboratorium hervorgetreten.
Dem Aussenstehenden lässt sich nicht leicht der rechte Begriff
von diesem eigentümlichen Gebilde geben, dessen Wesen sich
so ganz und gar nicht darin erschöpft, der Ort zu sein, wo
chemisch gearbeitet wird. — Für den Professor ist es gleichzeitig
das Organ seiner Forschertätigkeit und das Mittel seiner Objektivierung
als Lehrer. In ihm eine Gemeinschaft zu bilden, die seine
Bestrebungen hinaushebt über die persönliche Begrenztheit und
als seine Schule selbständig lebt, ist sein ersehntes Ziel. Sein Laboratorium
lässt seinen Forschernamen vor der Welt zurücktreten,
weil vor allem die Institutsleistung gilt; es macht seinen Unterricht
langsam überflüssig, weil das, was er geben kann, nach und nach
auf Einrichtungen und Helfer übergeht; und doch ist es auch wieder
das Feld, wo sein Beispiel verantwortungsvoll wirkt und das
Vorbild zur Geltung kommt. — Für den Studenten wird es etwas
wie ein Stück Heimat mit ihren unwägbaren Bindungen: es gibt
ihm die dauernde Prägung und ist eine Pflanzstätte innerer und
äusserer Zusammenhänge, die meist ein Leben aushalten.
Daher die Rolle, die das Laboratorium, dem einer entsprossen,
in der Erinnerung jeden Chemikers und in den Lebensbeschreibungen
der grossen Forscher spielt; daher auch die Bedeutung, die
einzelne Institute in der Kulturgeschichte gehabt. Aus Liebig's,
Wöhler's oder Bunsen's Werkstatt zu stammen, war überall allein
schon ein Verdienst, — ich muss jüngere Namen unterdrücken,
um nicht durch Verschweigen einzelner ungerecht zu werden. Aber
dankbar darf ich heute doch wohl der eigenen Wiege gedenken,
des Münchener Laboratoriums, das der Geist ADOLF BAEYER'S zu einer
der erfolgreichsten Schulen aller Länder gemacht, dem Scheine
nach über ihm in menschlicher Unnahbarkeit waltend, der Wirkung
nach dem letzten fühlbar, der dort arbeitete, und ihn für immer
beeinflussend.
V.
Das Eigenleben eines Instituts, das die Fachangehörigen so
zusammenschliesst und von andern trennt, scheint freilich einem
andern Universitätszweck entgegenzuwirken; denn die universitas
bedeutete zuerst die soziale Verbindung ihrer Glieder, im richtigen
Gefühl, dass breites geistiges Wirken nur im Zusammenwirken
gedeiht.
Umso notwendiger ist es zu sehen, wie sich die Beziehungen
zu andern Disziplinen für ein Fach darstellen, unter dessen Führung
sich jene Absonderungen vollzogen haben.
Der Chemie ist der Eintritt in den erlauchten Ring der angestammten
Universitätsfächer nicht gerade leicht geworden. Sie kam
ja belastet mit einer dunklen und anrüchigen Vergangenheit: Die
abenteuerlichen Gestalten der Goldsucher und der Schatten des
PARACELSUS der Sage mit seinem Gefolge chemischer Heilkünstler
standen hinter ihr. Nur unter der Vormundschaft gut angeschriebener
Fächer erhielt sie zunächst ihren Stuhl, und vielen Gelehrten
blieb sie durch ihre banausischen Beziehungen noch lange anstössig,
wie drastische Dokumente bezeugen. Zu Ende des 18. Jahrhunderts
vertrat sie der eine oder andere Mediziner; selbst viel
später war sie meist mit der Botanik oder Zoologie, selten mit
der Physik oder Mineralogie verbunden; es war noch sachgemäss
und schon fortschrittlich, wenn der erste Chemiker in Bern zugleich
der Pharmazeut war.
Heute wird der Chemiker nicht mehr über kollegiale Geringschätzung
klagen, und die persönliche Annäherung ist auch schon
etwas, was kein Fach gering achten darf. Die flüchtigste Begegnung
kann ja Epoche machen: VAN T'HOFF erzählt, wie er, aus dem
Laboratorium kommend, mit einer Frage über das Verhalten gelöster
Stoffe auf den Lippen den Botaniker DE VRIES trifft und
durch ihn von PFEFFER'S Versuchen über den Druck in Pflanzenzellen
hört; er schlägt die Arbeit nach, und aus ihren Zahlen
springt ihm die Theorie der Lösungen auf, die eine der Grundlagen
der klassischen physikalischen Chemie geworden. — Wer
möchte sich den Möglichkeiten solcher Anregungen entziehen?
Aber gute Nachbarschaft zwischen Fachvertretern ist noch
nicht das Zeichen, dass derselbe Pulsschlag alle durchdringt. Der
Chemiker hat oft die Empfindung, dass ein Nimbus von Fremdartigkeit,
ja ein Hauch von Sektentum ihn und sein Fach selbst
von solchen isoliert, die ihm durch ihre Gegenstände nahestehen
sollten, und verstärkt scheint um die Chemie die alte Scheidelinie
zwischen Geistes- und Naturwissenschaften gezogen.
Es stünde mir nicht an, zu untersuchen, ob hier wirklich eine
Kluft besteht, wie es manchen scheint, oder ob nicht vielmehr die
Ziele und Grenzen des Naturerkennens und des Erkennens überhaupt
zusammenfallen, denn darauf kommt es doch wohl letzten
Endes an. Als vor 60 Jahren die erste naturwissenschaftliche Fakultät
in Tübingen errichtet wurde, begründete der verdiente Botaniker
VON MOHL, (seinerzeit der erste Vertreter der Physiologie
in Bern!) — ihre Notwendigkeit mit der "total verschiedenen Denkweise"
der Fächer hüben und drüben. Wir wissen heute, dass,
wenn eine philosophische Fakultät sich teilt, das ebensowenig diesen
Sinn hat wie den, dass der eine Teil den Geist behalten soll,.
der andere ohne ihn auskommen will. Aber dass es mit der Chemie
etwas Besonderes auf sich hat, wird man nicht ganz bestreiten
wollen.
LIEBIG hat in einer Lebensskizze als das, was dem Chemiker
mehr als anderen Naturforschern eigen ist, die Anlage genannt,
in "Erscheinungen zu denken". Was gemeint ist, kommt hinaus
auf die Benutzung eines entwickelten Beobachtungssinnes und einer
Urteilskraft, die aus Wahrnehmungen und Andeutungen materieller
Veränderungen Zusammenhänge erstehen lässt, ohne sich der
strengen Art zu schliessen zu bedienen, die in höchster Ausbildung
den Mathematiker bezeichnet. Aber das ist kaum eine Denkweise,
die der Chemiker für sich allein in Anspruch nehmen kann: ich
glaube nicht, dass der Arzt oder Jurist, der Historiker oder Philologe
im Grunde anders operiert, wenn auch jeder natürlich von
anderen Feststellungen ausgeht.
Eigentümlicher für den Chemiker ist wohl die Uebertragung
des in der Körperwelt Wahrgenommenen in eine metaphysische
Vorstellungswelt, die sich an anschaulichen Dingen bildet: jenes
Leben im Reich der Atomistik, die mit ihren Elementaratomen,
Molekülen und Atommodellen der Chemie ihre Sprache und das
Denkmittel gegeben hat, das sie heute mit erhöhtem Vertrauen
handhabt.
Die Verbindung beider Merkmale gibt, wie mir scheint, dem
chemischen Denken den fremdartigen Zug. Denn wenn es das
Ziel der Naturforschung ist, die Erscheinungen mathematisch zu
beschreiben, so hat die Chemie heute zwar eine Strecke dahin
zurückgelegt und die Rechner zu ihrer Bedeutung gebracht, aber
für grosse Teile gilt wohl noch für lange, dass dem in Begriffen
denkenden Verstande die Krücke des Gebrauchs sinnlicher Bilder
zu Hilfe kommen muss. Das aber bedeutet, dass die chemische
Arbeit stärker und jedenfalls in anderer Form das Mitwirken der
Phantasie in Anspruch nimmt, als andere Wissenschaften.
VICTOR MEYER hat einmal die überraschenden Erfolge aufgezeigt.
die in der Vorausahnung chemischer Tatsachen durch ein "chemisches
Gefühl" erzielt worden sind. Ein solches Gefühl schrieb er
z. B. KEKULÉ zu, der zuerst das Benzol als einen Ring von sechs
verbundenen Kohlenstoffatomen sah; denn diese Formel liess sich
nicht allein auf beobachtete Tatsachen gründen. Nach 25 Jahren
ihres Gebrauchs wendete BAEYER auf sie Worte an, die HERTZ über
MAXWELL'S Lichttheorie gesprochen: "Solche Formeln lassen sich
nicht finden, ohne dass mit dem schärfsten Blick jede leise Andeutung
der Wahrheit aufgefasst wird, welche die Natur durchscheinen
lässt". "Es sind," fügt BAEYER hinzu, "Formeln, die klüger sind
als ihre Erfinder!" — Tatsächlich hat von dem Sechsring des
Benzols ein halbes Jahrhundert chemischer Forschung gelebt; die
ganze Entwicklung der Teerfarben- und Heilmittelindustrie hängt
an ihm, und im Kriege trugen ihn die amerikanischen Heereschemiker
gleichsam als Symbol der unbesiegbaren Methode ihrer Wissenschaft
auf den Achselstücken. — Mit den Forschernamen aber, die
genannt wurden, treten sehr verschiedenartige Geister auf den
gleichen Plan: Da ist KEKULÉ. der spekulative Atomistiker; BAEYER,
der feine Lauscher an der Natur, der die chemische Gleichung der
Pflanzenatmung erahnte; der Mathematiker MAXWELL, über dessen
Werk der theoretische Physiker BOLTZMANN unter dem Motto las:
"War es ein Gott, der diese Zeichen schrieb?"; HERTZ, der Experimentator,
der im Glauben an die Identität von Licht und Elektrizität
die elektrischen Wellen fand, — und geniale Phantasten aus
allen Wissenschaften wären diesem Olymp einzureihen; denn die
höchsten Leistungen ruft doch überall der Zauberstab der Phantasie
hervor. — Besonderheit des Chemikers ist es nur, dass er die
Phantasie gewissermassen Im Hausdienst hat. Man wird nicht
glauben, dass er eine eigene Kraft besitzt, das scheue Götterkind
an seine Seite zu bannen. Aber er hat in seinen bildmässigen
Theorien sozusagen einen Katechismus des phantasievollen Denkens,
der ihm ermöglicht, Gebilde der Einbildungskraft zur Ordnung
seiner Gedanken zu benutzen, solange er nur in den Schranken
der Denkgesetze und der sinnlichen Anschauung bleibt.
Es sind wirklich nur diese Formen und Mittel des Denkens, .die
den Chemiker denen verdächtig machen können, die andere Wege
gehen. Ist die Aufgabe der Wissenschaft, wie COMTE es sagt:
"Sehen, um vorauszusehen; erforschen was ist, um zu wissen, was
sein wird", so dient ihr die Chemie an ihrer Stelle mit ihren Augen,
und das zeigt nur, dass der Gesamtwissenschaft ohne sie ein wichtiges
Stück in der Betätigung der Geisteskraft fehlen würde. So
schiebt sie sich schon hierdurch ergänzend in den Kreis der anderen
Wissenschaften ein.
VI.
Ist es nach allem noch nötig, die Chemie als Universitätsfach durch
den Hinweis auf ihre Beziehung zu einzelnen Fächern zu legitimieren?
Die Tatsache ihres Bestehens ist zu offenkundig, als dass
sie bewiesen werden müsste, und es ware ein Thema für sich, sie
auch nur in allgemeinsten Zügen zu schildern. Aeusserlich drückt
sie sich darin aus, dass die Chemie als Lehrfach eine Grundlage
für viele Fächer ist, zunächst natürlich die naturwissenschaftlichen.
Von da ergibt sich ganz von selbst das Verhältnis zur Medizin,
die ja nach HELMHOLTZ' Wort nur soweit Wissenschaft ist, als sie
Naturwissenschaft sein will. Doch liesse sich leicht noch weiter
greifen, denn z. B. auch ein Fach wie die Volkswirtschaftslehre
kann ohne das Verständnis für chemische Prinzipien und Tatsachen
nicht auskommen, weil wirtschaftliche Entwicklungen und Zusammenhänge
in ihnen begründet sind, wie SOMBART gut gezeigt hat.
Die inneren Beziehungen kommen bald zustande durch Uebernahme
von Grundsätzen und Anschauungen aus der Chemie; bald
beruhen sie auf ihr entlehnten Forschungsweisen und speziellen
Methoden des Beobachtens, Messens und Beschreibens; bald sind
es eigentliche Verknüpfungen der Chemie mit anderen Gebieten
und Rückwirkungen von solchen auf sie selbst. Das Wesentliche
sind hier nicht die einzelnen Beeinflussungen, sondern das Nebeneinanderbestehen
aller und ihre Verbundenheit durch die Natur
der Chemie und ihren Gegenstand, — die Materie als die Trägerin
der gesamten Erscheinungswelt.
Dieser ihr Gegenstand bringt sie natürlich in ein Verhältnis
von besonderer Art und Bedeutung zur Physik; denn jeder chemische
Vorgang hat ausser seiner materiellen Seite in der Umgruppierung
von Atomen eine Neuverteilung von Kräften neben sich.
LAVOISIER hat die Chemie des 19. Jahrhunderts wesentlich dadurch
begründet, dass er als Physiker die stofflichen Veränderungen
besah. Die sogenannte Physikalische Chemie ist die Zusammenfassung
der physikalischen Beziehungen im chemischen Geschehen
und die Umgestaltung seiner Betrachtung durch die klassische
Energetik, neben der nunmehr die Lehre von der quantenhaften
Uebertragung der Energie sich auszuwirken beginnt. Anderseits
gab die chemische Erforschung der radioaktiven Substanzen den
Anstoss, dass die Physik sich des Atoms bemächtigte, seine Existenz
und Zusammengesetztheit nachwies, und damit wiederum
den Grund für eine unteratomige Chemie legte. Die Durchleuchtung
des Krystalls mit dem Röntgenstrahl hat der Chemie den festen
Körper für die atomistische Betrachtung erschlossen und dabei in
ungeahntem Umfang ihr altes Verhältnis zur Krystallographie erneuert.
Damit sind im Fundament der Naturbetrachtung Berührungen
dreier Wissenschaften entstanden, die nicht mehr als blosse Wechselwirkungen
gelten können, sondern ein Ineinanderübergehen bedeuten,
das fast ihre Selbständigkeit aufhebt.
Gerade aber diese gegenseitige Durchdringung fordert die
Ueberlegung heraus, wo denn nun noch die selbständigen Aufgaben
der Chemie liegen, und es ist seltsam, dass ihr auch diese wieder
durch den Blick auf andere Fächer gezeigt werden.
Die Chemie hat einen Januskopf bekommen. Mit dem einen
Gesicht sucht sie ins Atominnere zu dringen, um aus seinen Eigenschaften
die Verbindungsfähigkeit der Atome zu verstehen; und
in den Krystall, um in ihm zu sehen, wie sich die Atome in Wirklichkeit,
und nicht nur im vorgestellten Bilde der Moleküle, ordnen.
Sie bemüht sich, Atomphysik zu werden, und dabei endet sie
natürlich in der Physik schlechthin.
Das andere Gesicht aber richtet sie auf das Reich des gestalteten
Stoffes. Sie sucht den Weg vom Molekül zur Erscheinungsform
der natürlichen Körper und fragt nach den Ursachen ihrer
Bildung: Das treibt sie zur Krystallographie mit ihren Zweigen, zur
Lehre von den Zerteilungszuständen der Materie und zu den biologischen
Wissenschaften. Denn hier stösst sie auch auf das organische
Gebilde und damit auf die grossen chemischen Probleme
der belebten Welt. Diese aber geben ihr auf, das Verhalten der
Stoffe unter Bedingungen zu studieren, die denen des Lebens entsprechen,
und die besonderen Umstände der Vorgänge im Organismus
in chemisch-physikalischer Abstraktion zu erfassen. —
Ueberblicken wir das alles, so zeigt sich eine Tendenz, die
uns allen höchst bedeutungsvoll erscheinen muss.
Die Entwicklung zielt auf eine innere Verbindung bisher in
Vielem recht getrennt gehaltener Fächer und wirkt damit ebenso
in der Richtung der universitas, die die Wissenschaften zu einer
höheren Einheit zu sammeln strebt, wie sie der Sehnsucht der Zeit
folgt, die heraus möchte aus der Fachbeschränkung.
Das aber ist zugleich der Weg zur Philosophie, die schliesslich
alles zusammenhalten muss.
Auch der Chemiker wendet sich zuletzt an sie mit der Frage,
was seine Erkenntnisse bedeuten und wert sind. Sie versucht ja
nicht mehr, wie einst, der Naturwissenschaft Methoden und Zwecke
vorzuschreiben, und diese hat — nicht zum wenigsten durch die
Chemie! — gelernt, dass sie mit Sinneswahrnehmungen allein und
ohne einen Einschlag von Metaphysik nicht vorwärts kommt. Als
DALTON zur Erklärung der Grundgesetze der Stoffvereinigung die
Atomistik in die Chemie einführte, benutzte er nur die Anschauungen,
die ihm der Gang der englischen Philosophie seit BOYLE
zur Verfügung stellte. Trügen die Zeichen nicht, so wird die
Philosophie sich erneut der Chemie vor allem dort annehmen, wo
sie in die Physik verfliesst, denn "gerade die neuere Physik prägt,"
wie es einer ihrer Führer, MAx PLANCK, einmal ausdrückt, "die alte
Wahrheit ein, dass es Realitäten gibt, die unabhängig sind von
unseren Sinnesempfindungen, und Probleme und Konflikte, in denen
diese Realitäten für uns einen höheren Wert besitzen als die
reichsten Schätze unserer gesamten Sinnenwelt".
So hat die Chemie das Recht auf ihren Platz in der philosophischen
Fakultät nicht nur als ars chimica in einer facultas artium,
sondern als ein Glied, das hilft, die Gesamtheit der Universitätsfächer
zu verbinden.
Doch auch schon ohne diesen höheren Beruf darf sie sich als
das geborene Universitätsfach fühlen, denn sie hält andere Fächer
fest, wie sie von ihnen gehalten wird. Damit zerstreut sich auch
das letzte der Bedenken, die am Anfang aufsteigen mochten: die
Lockungen der fachlichen Forschungsinstitute werden nicht vermögen,
sie aus der Universität zu ziehen, weil sie die anderen
Fächer braucht und diese sich wehren müssten, sie zu verlieren.
VII.
Das aber führt noch einmal zu jenen Aufgaben, vor die jedes
Fach immer wieder gestellt wird, indem der Universitätsgedanke
von ihm fordert, seinem wissenschaftlichen Stande auch die Lebens-
und Lehrform anzupassen.
Annäherungen verschiedener Wissenschaften, wie sie vom
Beispiel der Chemie aus sichtbar werden, müssen neue Formen
verbundenen Wirkens erzeugen.
Die Entwicklung in den Naturwissenschaften lässt sich vielleicht
in manchem dem Zustand vergleichen, in den die einigende Macht
der historischen Methode die Geisteswissenschaften versetzt hat.
Aber die Folgerungen waren für diese wohl leichter zu ziehen,
als sie es da sind, wo naturwissenschaftliche Fächer, deren jedes
grosse und besondere geistige und materielle Ansprüche macht, für
die Forschung, den Unterricht, die Arbeit in den Instituten in engeren
Zusammenhang gesetzt werden sollen.
Hier kommen in der Tat neuartige Schwierigkeiten zu schon
bestehenden. Zu letzteren gehört, dass die mit der Ausbreitung
und Teilung der einzelnen Wissenschaften notwendig werdende
Vermehrung der Fachvertretungen zwar gewiss den Ausbau der
Wissenschaft fördert, aber schliesslich den Lehrzweck der Universität
beeinträchtigt, indem ein zu ausgedehntes Unterrichten
soviel Kraft und Zeit der Studierenden belegt, dass die Vertiefung
in das Einzelfach und die Entwicklung zu selbsttätigem Arbeiten
und Denken gefährdet wird.
Die sonst so segensreiche Freiheit des Fachlebens leistet dem
zweifellos Vorschub. Sie scheint auch eine Verbindung verschiedener
Wissenschaften zu vereinigter Betätigung für die Forschung und
den Unterricht mindestens nicht zu erleichtern.
Von gelegentlicher Zusammenarbeit mit Angehörigen einer
andern Wissenschaft wird jeder Gelehrte dankbar berichten können,
und erfolgreiche Bündnisse solcher Art sind wohlbekannt; — ich
denke etwa an die berühmten Arbeitsgemeinschaften zwischen
Chemikern und Physikern. Aber Aehnliches ist kaum durchführbar
für die regelmässige Fachschulung und Facharbeit.
Das übliche Hospitieren in Nachbarwissenschaften im sogenannten
Studium von Nebenfächern genügt nicht mehr für jenen
Zweck, weil jedes Fach zu sehr auf den eigenen Weg zu schauen
hat. Anderseits geht es unter realen Universitätsverhältnissen, mit
denen doch gerechnet werden muss, nicht an, es jedem Fache zu
überlassen, das Nötige aus anderen, auf die es angewiesen, selbst
herbeizuschaffen, — schon weil es unrationell wäre, selbst wenn
Menschen und Mittel es leisten könnten. Auch die Verbindung
durch Zwischenfächer zu suchen, ist kein befriedigendes Verfahren,
so nahe es liegt; denn es führt zu neuen Spezialwissenschaften
mit neuen Gelehrten, Lehrern, Instituten und damit wieder zu neuer
geistiger und zeitlicher Belastung des Studiums für die Ausbildung
nicht minder wie für die Forschung.
Der Ausweg aus dem Dilemma ist noch nicht klar zu sehen,
und die ganze Frage ist zu gross und wichtig, als dass sie in
Stichworten abgetan werden dürfte. Aber sie muss ins Auge
gefasst und ein Weg gefunden werden, weil die in der einmal
eingeschlagenen Richtung vorwärtsdrängende Entwicklung der Fachwissenschaften
und der Universitätszweck das verlangen. Wir dürfen
vertrauen, dass der freie und bewegliche Aufbau der Universität,
der sich so oft bewährt, auch die neuen Arbeitsformen möglich
macht.
Zu der Lösung der Aufgaben, die sich hier andeuten, nach
ihren Kräften beizutragen, ist die Pflicht jeder Hochschule, die eine
Universität sein will, und gerade auch eine kleine Universität mit
ihren einfacheren Verhältnissen mag sich mutvoll daran beteiligen.
Das Laboratorium von Giessen soll auch in diesem Sinne nicht
vergessen werden!
Für unsere Hochschule schöpfen wir aus der Vergangenheit
die Hoffnung für die Zukunft, dass sie ein rühmliches Beispiel
bleibt im Wirken für den Universitätsgedanken. Das ist zugleich
ihr Anteil an der Aufgabe, die zu erfüllen nicht nur alle Wissenschaft,
sondern alles höhere Menschentum berufen ist: Das Leben
durch den Geist zu gestalten.
In der Arbeit mit diesem Ziel wünschen wir der Anstalt.
die bedrängt von der Ungunst der Zeit, aber getragen vom Verständnis
eines für ideale Zwecke opferwilligen Volkes tapfer um
ihre Geltung ringt, ein gesegnetes Jahr! — Quod felix faustum
fortunatumque sit.