Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Zigeunermärchen

Herausgegeben von Walther Aichele und Martin Block

EUGEN DIEDERICHS VERLAG


4. Der kluge und tapfere Königssohn

Ein König hatte achtzehn Söhne. Eines Tages sprach der Jüngste zu seinen Brüdern: »Kommt, wir wollen uns Frauen suchen!« Sie bestiegen also ihre Pferde und machten sich auf den Weg. Sie kamen vor das Schloß eines Ghul der achtzehn Töchter hatte. Der Ghul sprach: »Ich möchte meine Töchter mit diesen Jünglingen verheiraten.« Und sogleich auch führte er diesen Plan aus. Zu seinen Töchtern aber sagte er: »Heute nacht will ich die Jünglinge umbringen und sie verzehren.« Der Jüngste aber hatte diese Worte gehört und gab seinen Brüdern nun den Rat: »Setzt eure Kopfbedeckung den Frauen auf!« Da setzten sie ihre Tarbusche 2 den Frauen auf. In der Nacht kam der Ghul herunter und tötete die, deren Köpfe mit Tarbuschen bedeckt waren, tötete also alle seine Töchter. Am Morgen machten sich die Jünglinge davon. Der Ghul sah, daß es alle seine Töchter waren, die tot dalagen. Die Jünglinge waren schon sehr weit weg, da kehrte der Jüngste nochmals um, holte das Pferd des Ghul und entfloh mit ihm.

Da ersannen seine älteren Brüder einen Plan: »Kommt, wir wollen den Jungen töten. Morgen wird er sonst unserm Vater berichten: >Ich war es, der sie vor dem Ghul gerettet hat.<« Wie nun der Junge in einen Brunnen hinabstieg, um seinen Brüdern Wasser zu holen, durchschnitten diese das Seil und ließen ihn unten im Brunnen. Er suchte sich unten einen Weg, seine Brüder aber gingen nach Hause. Als sie zu ihrem Vater kamen, sprachen sie: »Unser kleiner Bruder ist gestorben.« Dieser aber hatte unterdessen im Brunnen einen Mann und zwei Widder erblickt, der eine von ihnen war schwarz und der andere weiß. Jener Mann, den er gesehen hatte, trat auf ihn zu und sprach: »Sage, o Jüngling: >Der weiße Widder besiegte den schwarzen<, dann wirst du zu der Öffnung des Brunnens emporgehoben werden. Wenn du aber anders urteilst



Zigeuner Maerchern-017 Flip arpa

und sagst: >Der schwarze hat den weißen überwunden<, dann wirst du noch tiefer in die Erde hinuntergesenkt.« Da sprach der Jüngling: »Der schwarze besiegte den weißen«, und alsbald sank er noch tiefer in die Erde hinab. Er gelangte erst zu Beduinen und fand dann eine alte Frau, bei der er blieb. Ihr Zelt lag weitab von den Beduinenzelten. Am andern Morgen führte er ihre Ziegen auf die Weide, und die Alte ermahnte ihn: »Gehe nicht hierhin und gehe nicht dahin, sondern gehe so und so!« Beim Weitergehen traf er einen Dämon und tötete ihn. Und was sah er noch weiter? Ein lahmes Schwein. Wenn man dieses tötete und seinen Fuß öffnete, so fand man darin eine Büchse. Die Büchse enthielt einen Wurm, der war die Seele eines Juden. Der Jüngling ergriff das Schwein, tötete es und nahm die Büchse aus seinem Fuße heraus. Da kam der Jude und bat: »Gib mir meine Seele!« Der Jüngling aber antwortete: »Ich gebe sie dir nur, wenn du mich wieder auf die Oberfläche der Erde hinaufbringst!« Da hob ihn der Jude wieder zur Welt empor. Sowie der Jüngling sah, daß er wieder oben war, schnitt er dem Wurm den Kopf ab; da war auch dem Juden der Kopf vom Leibe getrennt. Als nun der junge Königssohn auf dem Heimweg zu seinem Vater war, sah er vierzig Ghule, die gekommen waren, um des Königs Schätze zu rauben. Er trat ihnen in den Weg und fragte sie: »Wohin geht ihr?« Sie erwiderten: »Wir wollen die Schätze des Königs stehlen.« Der Jüngling sagte: »Ich schließe mich euch an.«

Nachdem er sich dann zu ihnen gesellt hatte, sprach er: »Ihr seid groß und ich bin klein, ich will drum hineinsteigen und euch die Schätze herausgeben. Jeder soll mir einen kleinen Stein geben. Sooft ich dann einen Stein herauswerfe, soll immer einer zu mir kommen.« Er stieg also zuerst ein und warf den ersten Stein. Einer von den Ghulen stieg ein, und er schnitt ihm den Kopf ab. Ein zweiter folgte, auch diesem schnitt der Jüngling den Kopf ab. Nachdem er alle so umgebracht hatte, ging er in seines Vaters Haus hinab und fand



Zigeuner Maerchern-018 Flip arpa

seine Schwester im Schlafe. Als sie in der Nacht einmal aufsaß, trat er zu ihr und fragte: »Wo sind deine Brüder?« — »Da schlafen sie.« Da ging er zu ihnen, zog sie hoch und schnitt ihnen die Köpfe ab. Sein Vater kam und sprach: »Warum, mein Sohn, hast du deinen Brüdern die Köpfe abgeschlagen?« Er erwiderte: »Sie haben mich in einen Brunnen geworfen und sind fortgegangen. Sie hätten mich sterben lassen, wenn nicht Gott mich aus dem Brunnen gerettet hätte. In der Nacht machte ich mich auf den Weg zu dir und traf vierzig Ghulen, die waren ausgezogen, um deinen Schatz zu rauben und - siehe! — ich tötete sie, ihre Leichen liegen hier auf dem Dach des Hauses.« Als der König nun die toten Ghulen sah, ergrimmte er und gab Befehl, daß die Dorfleute ein Feuer anzündeten und sie verbrannten. Ihre Asche warf man in Gruben. Der König aber ließ seinen jüngsten Sohn fortan bei sich wohnen, und dieser wurde Mitregent.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt