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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Frau Holle belohnt die Lerchen

"Zu der Zeit, als die Vögel sich auf Erden einrichteten, da sollten sich ja auch die Lerchen eine Stätte für ihr Nest suchen. Aber die fröhlichen Tiere hatten so viel zu singen und einander so viel zu erzählen, daß sie es schier vergaßen.

Als es ihnen wieder einfiel und sie hörten, daß die übrigen Vögel längst gewählt hatten, der eine hoch oben in den Wipfeln, der andere im dichten Dornbusch, der dritte unterm Dach der Bauern, da beeilten sie sich; und weil sie keinen Arg hatten, bauten sie ihr Nest einfach den Erdboden.

Eines Tages schlich Hans Wiesel vorbei, er besah sich die kleine Grube und merkte sich die Stätte. Auch die Krähe flog tief über das Feld und schwang sich bis dicht über die Erde, um auszuspähen, ob vielleicht schon Eier im Nefs lägen. Da kriegten die Lerchen Furcht vor den argen Feinden, beredeten miteinander, was zu tun sei, und gingen schließlich zu Herrn Eckard; der war damals der Ratgeber aller Vögel. Der Getreue hörte sich an, was sie an Sorgen hutten; er rieb sich die Stirn, aber ihm fiel durchaus nichts ein. Dann machte er sich auf, ihnen einen Nistplatz suchen zu helfen.

Um die gleiche Zeit hatten die Vögel auf Mahnen der guten Frau Holle beschlossen, dem lieben Gott jeden Tag für seine Schöpfung Dank abzustatten, und kamen, soweit sie nur recht singen konnten, täglich in der Frühe auf einer großen Heide zusammen, um gemeinsam ihr Lied erschallen zu lassen. Aber die schlimmen Räuber, Krähen, Elstern und Häher, wußten ja auch davon, sie lauerten den armen Sängern auf und schlugen sie auf dem Weg. Da blieben viele aus, und die anderen berieten, was man tun sollte.

Endlich hielten sie es für das beste, daß nur einer von ihnen es übernähme, täglich für alle den Dank zu sagen. "Ich will für euch sprechen",



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krächzte der Rabe. Er sah sehr würdig aus in seinem schwarzen Rock und wußte zwei kurze Gebete, eines für den Morgen und eines für den Abend. Die Vögel gingen also zu Frau Holle und fragten die, was sie zu ihrem Beschluß und zum Vorschlag des Raben meine.

Frau Holle lobte ihn zwar und seufzte doch. Wenn ihr wüßtet, wieviel Gebete der liebe Gott täglich hören muß, dachte sie. "Ihr habt sicherlich wohlgetan", gab sie zur Antwort. "Aber da der Schöpfer vielen von euch eine so herrliche Stimme schenkte, wäre es doch schöner, einer von euch sänge ihm von eurer Liebe vor! Es würde ihn mehr freuen als ein einfaches Gebet!

Die Vögel sahen ein, daß Frau Holle recht hatte. Sie kamen deshalb wieder zusammen, sagten dem Raben ab und beschlossen, einen Sänger zu wählen. Weil sich aber viele dazu erboten und sich nicht einig wurden, wer das Lied übernehmen sollte, nahmen sie sich vor, ein Wettsingen zu veranstalten. Wer den Preis davontrüge, der solle Gott täglich für alle danken. Gesagt, getan! Auf einer großen Waldwiese sammelten sie sich, einer nach dem anderen begann sein Lied, und die weisesten unter den Vögeln hörten zu, wiegten die Köpfe und hatten bei jedem etwas zu raten und bei jedem einiges zu bemängeln. Der Tag ging zu Ende, der Mond stieg auf; die Sänger versuchten sich die ganze Nacht, wählten diesen und jenen, holten neue Richter und kamen doch zu keinem Entscheid. Da war der Sprosser, der mit der Nachtigall stritt, die Amsel wetteiferte mit der Spottdrossel, der Fink mit dem Gimpel — oh, alle guten Sänger waren beieinander, es war gewiß nicht leicht, unter ihnen den König zu kuren,

Nun hatte das Wettsingen schon begonnen, während die beiden Lerchen mit dem getreuen Eckard noch immer nach einem Nistplatz suchten. Sie hätten wohl auch gern an den Liedern der Vögel teilgenommen, hatten aber aus lauter Sorge die Stunde versäumt. Die ganze Nacht waren sie mit dem guten Helfer unterwegs, um zu sehen, wo sie wohl ihr Haus bauen könnten, — so lange, bis das Frührot anbrach. Ja, als es so weit war, daß die Sonne ihre ersten Strahlen über die Erde sandte, da mußten



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die beiden Lerchen den getreuen Eckard im Stich lassen; immer am Morgen trieb es sie, sich in die blaue Höhe aufzuschwingen, um vor allem ihr Lied Gott zum Lob zu singen. Wie von tausend springenden Perlen klang es unterm hellen Himmelsgewölbe und hallte von allen Wolken wider.

Um jene Stunde ging nun auch Frau Holle zum andernmal über die Erde, sie wollte erfahren, wer beim großen Wettsingen der Vögel den Preis erhalten hatte. Ach, da hörte sie, daß man noch beim Zanken war, und daß dieser über den redete und jener über diesen, und daß schon niemand mehr maß, ob der andere gut singe, sondern nur an ihm und seiner Meinung krittelte und mäkelte. Überhaupt war es ein fürchterliches Durcheinander, die Vögel wären am liebsten übereinander hergefallen, so böse waren sie und so müde des ganzen Wettgesangeg. Am Ende baten sie Frau Holle, doch selbst zwischen ihnen zu entscheiden.

Die sah den Wirrwarr, hörte von allen Seiten nur Klagen und Schelten, und es tat ihr leid bis ins Herz. Denn der Streit ging um den Dank an Gott, wie konnte man da eifersüchtig und unfreundlich sein!

Als sie deshalb die Stimmen noch einmal geprüft und alle Zänker verjagt hatte, wollte sie selbst ein Urteil finden und dachte lange nach. Dabei vernahm sie, als schon die Stille der Erwartung über die Vögel kam, wie aus der Höhe ein klares Morgenlied herniederscholl, schöner als alles, was bisher zu hören gewesen war. Wer ist das doch, sann die Hollin und freute sich, daß jemand über den Wetteifer nicht den Dank der Frühe vergaß. Und sie hörte das Lied der Lerchen zu Ende und war beglückt. "Ich habe nun aller Meinung vernommen", sagte die edle Frau dann, "und ich bin erzürnt über euren Unfrieden und traurig, daß ich selbst die Wahl treffen muß. Weil ich's euch aber versprochen habe, will ich auch entscheiden. Hört ihr, wer über uns Gott zum Dank zu singen nicht vergaß? Hört ihr, wen ich meine?

Da wurden auch die Vögel andächtig und lauschten dem frohen Schall hoch oben in der Luft. Und sie lauschten, bis die Sänger müde wurden und heimkehrten — ach, erst da fiel den Lerchen ein, daß sie ja zum



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Ratstag der Freunde hatten kommen wollen, um sich einen Meister zu wählen.

Als sie nun eilig anschwirrten, mit vielen Entschuldigungen, rief Frau Holle ihnen schon entgegen: "So geb ich euch auf, für alle Sänger jeden Morgen den Dank an Gott zu sagen, gleichwie ihr ihn heute dargebracht habt."

Die Lerchen freuten sich, aber ihnen fielen auch manche Sorgen ein. Wer gibt währenddes auf unser Nest acht?"fragten sie. "Was soll aus unseren Kindern werden, während wir hoch unterm Himmel singen?"

Frau Holle sah sich um, und alle Vögel versprachen, daß niemand den Lerchen etwas antun würde, solange die kleinen Tiere für sie sangen. Während sie aber noch einer nach dem anderen ihr Versprechen gaben, humpelte der getreue Eckard hinzu — er hatte sich in der Eile den Fuß Vertreten.

"Wenn die Vögel ihnen nichts tun, so werden schlimmere Leute kommen", sagte er und seufzte.

"Laß mich nur sorgen", begütigte Frau Holle. Und sie ging zum Lerchennest und streute ein wenig Blindheit rundum, damit niemand es sähe.

Da wünschten ja viele Vögel, daß sie es gewesen wären, die den Morgengruß gesungen hätten; aber zwei so hohen Gästen wie Frau Holle und dem getreuen Eckard wagten sie nicht zu widersprechen, lobten vielmehr, wie die Gütige entschieden hatte, und erhoben sich langsam, der eine hierhin, der andere dorthin, um zu den Ihren heimzukehren.

Der kleine Hans Wiesel kam währenddes beim Lerchennest vorüber; er wollte sehen, ob vielleicht schon Eier darin lägen, und wollte sie stehlen. Aber er fand das Nest nicht, obwohl er mit dem Bauch darüberhin glitt; die Lerchen sangen Frau Holle zum Dank, und Herr Eckard lächelte.


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