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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Der Brautstein

Vielfach trifft man in weiten, ebenen Landstrecken des nördlichen Deutschland, wo weit und breit kein Urgebirge zu erblicken ist, vereinzelte, oft sehr große Granitfelsenstücke an; die Gelehrten nennen sie erratische Blöcke. Ein solcher Block oder Stein liegt auch in der Nähe des Städtchens Lüchow, auf der Kolborner Heide, er sieht über und über rotgesprenkelt aus und ragt meterhoch über den Boden.



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Ein adeliges Liebespaar, dem des Schicksals Fügung Abschiednehmen gebot, denn der Ritter mußte in den Krieg ziehen, saß auf diesem Steine, der inmitten eines Birkenwäldchens lag, und gelobte sich gegenseitig ewige Treue. Ringsum am Boden blühte ein niedriges Sträuchlein voll weißer Blumen in Fülle. Der Ritter warf die Besorgnis im Gespräche hin, ob die Geliebte ihm wohl neu bleiben werde, sie aber fühlte sich durch solche Frage sehr gekränkt und schwur, daß, wenn sie treulos werde, dieser Fels sich bewegen und ihr Grabstein werden solle. Bei so heftigem Schwur gab sich der Ritter zufrieden und schied beruhigt von der lieben Braut.

Es kam aber nach einer Zeit, daß die liebe Braut ihres fernen Bräutigams vergaß, wie das so zuweilen zu geschehen pflegt. Sie hatte einen neuen Buhlen und ging mit ihm spazieren auf der Kolborner Heide ins Birkenwäldchen. Sie kamen auch von ungefähr an den Felsblock, ließen sich darauf nieder und führten Gespräche von der Liebe des Nächsten. Da



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erhob sich mit einem Male der Stein riesengroß aus der Erde — der Liebhaber stürzte an den Rand der dadurch entstehenden Vertiefung, die Treulose aber stürzte hinein, recht wie in ein offenes Grab und ward vom Stein, der sich gleich über sie wälzte, so zerschmettert, daß ihr Blut ihn bespritzte und auch die weißen Blumen ringsumher.

Wieder nach einer Zeit kehrte der Ritter heim, und sein Weg führte ihn durch jenes Wäldchen. Als er an den Stein kam, sah er, daß er mit rötlichen Flecken und Adern überlaufen war und die Blumen rot waren, die zuvor weiß gewesen. Es ahnte ihm nichts Gutes, er zog sein Schwert und führte einen Streich auf den Stein. Da sprang ein Blutstrahl heraus, und ein Klageschrei tönte aus der Tiefe. Der Ritter pflückte einen Strauß von den Blumen, bestieg sein Roß und zog wieder in den Krieg, aus dem er nimmer heimkehrte.

Die Blume, die zuvor weiß und hernach rot blühte, das die Heide. Den Stein hat man hernach den Braustein genannt und die Heide Brauttreue. Selten findet man hie und da noch einen Heidestengel mit weißen Blüten.


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