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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Die fliegenden Knaben

Es war am Ende des siebzehnten Jahrhunderts, als an einem Spätherbsttage drei muntere Knaben unweit des Städtchens Lengsfeld und zwischen diesem und dem Baier auf immergrüner Waldwiese eine Anzahl Rinder weideten. Kaum war die Sonne gesunken, die noch ihre letzten goldnen Strahlen auf den hohen nachbarlichen Berg warf, so fachten die Knaben nach ihrer Weise ein Feuer an und stachen Rasen ab, um sich eine Bank zu bauen, auf der sie vertraulich und sich am Feuer wärmend sitzen wollten.

Wie es nun oft zu geschehen pflegt, daß heitre unbedachte Jugend in lächerliche Wünsche ausbricht, deren Erfüllung unmöglich ist, so auch hier. Einer sprach:

Wäre nur dieses Stück Rasen ein Stück Eisenkuchen!

Kaum war dieser Wunsch laut geworden, so trat schon ein unbekannter Mann auf die Trift, begrüßte die jungen Hirten und sprach:



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"Hört, ihr habt Eisenkuchen gewünscht! Hier habt ihr welche, laßt sie euch schmecken!"

Er teilte Eisenkuchen unter sie aus. Freudig und begierig ward die Spende angenommen und verzehrt, und der Mann erbot sich, sie täglich mit solchen Kuchen zu erfreuen, wenn er nur wüßte, auf welchem Hutplatz sie immer anzutreffen wären. Die Knaben nannten den Platz, wo sie am nächsten Tage hüten würden, und der Unbekannte hielt sein Wort und brachte ihnen das leckere Mahl am nächsten Abend wieder.

Als das verzehrt und der Mann hinweggegangen war, trat eine alte Frau aus Lengsfeld den Knaben nahe und bat sie, doch einmal mit ihr zu dem nahen Talbrunnen zu gehen, sie wollte ihnen dort etwas zeigen. Die Knaben willfahrten ihr, wurden aber nichts gewahr, als daß die Alte mit dem Wasser des Brunnens besprengte und unverständliche Worte dazu murmelte, weshalb sie ihr bald entliefen, mit Gelächter zu ihrer kleinen Herde zurückkehrten und diese wohlgemut nach Hause trieben.

Am dritten Tag trafen sich die Knaben frühmorgens auf dem Weg zur Schule, grüßten sich munter, und der eine sprach zu dem andern:

"Höre, ich fühle mich heute so federleicht, daß ich meine, ich müßte fliegen können wie ein Vogel!"

"Ich auch, ich auch!" riefen die beiden andern, und da hoben alle drei die Arme empor und flogen.

Sie flogen auf die kleine runde Mauer, die den Marktplatz umzog, und über dieser gegenseitig hin und her, zum größten Erstaunen aller ihrer indes sich zahlreich versammelnden Schulkameraden.

Die Kunde dieses wunderbaren Ereignisses durchdrang mit Blitzesschnelle das Städtchen und kam auch zuletzt zu den Ohren des Kantors, der nach beendigter Schulstunde die drei Knaben aufrief, ihre Kunst auch in der geräumigen Schulstube zu üben. Sie traten auf den Tisch und flatterten von ihm herab und schwebten auf und nieder. Den Kantor überfiel ein Grausen, er entsendete eilig einen Boten zum Oberpfarrer und Inspektor und ließ den geistlichen Hirten bitten, zur Schule sich zu bemühen und selbst Zeuge eines nie erhörten Wunders zu sein.



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Der Geistliche kam und staunte und nahm die Knaben scharf in das Verhör, denn er witterte Satans Trug und Tücke. Sie erzählten treuherzig alles, was sich mit ihnen begeben, und fügten noch dies hinzu:

In der vergangenen Nacht machten wir uns den Spaß und setzten uns zu dritt auf einen Schimmel, der in unsers Nachbars Scheuer stand. Kaum spürte uns das Pferd, so setzte 'a gegen unsern Willen in Trab und brachte uns an einen Ort, wo es uns sehr wohl gefiel; dann brachte es uns wieder nach Hause, und darauf fühlten wir una so leicht.

Der Oberpfarrer ging bestürzt hinweg, um dem Gericht Anzeige zu tun, damit dieses sich der sicherlich Behexten bemächtige und ihnen den Prozeß mache, denn fliegen zu können schien ihm ein arges Verbrechen.

Mittlerweile kamen die Knaben sorglos und ihrer Fliegerkraft froh nach Hause, den Ihrigen das Wunder selbst zu verkündigen oder zu bestätigen. Der Vater des einen der Knaben war der Scharfrichter und hieß Michael Weber. Er erzürnte sich sehr über die Kunde, die er schon vernommen, glaubte, sein Sohn sei ein Teufelsbündner, und beschloß, ihn zu opfern. Daher schwang er, als dieser vor ihn trat, das Richtschwert und schlug ihm das Haupt ab. Zwei weiße Ströme Milch sprangen statt des Blutes zur Decke, und dem Scharfrichter entsank das Schwert.

Die zwei andern fliegenden Knaben, als sie das gesehen, hoben sich auf und davon, und niemand hat sie jemals wieder erblickt.


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