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Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Der Mönch und das Vögelein

In einem Kloster war ein junger Mönch Urbanus, gar fromm und fleißig, dem war der Schlüssel zur Bücherei des Klosters anvertraut, und er hütete sorglich diesen Schatz, schrieb selbst manches schöne Buch und studierte viel in den anderen Büchern und in der Heiligen Schrift. Da fand er auch einen Spruch des Apostels Petrus, der lautet: Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag und wie eine Nachtwache. Das dünkte dem jungen Mönche schier unmöglich, er mochte und konnte es nicht glauben und quälte sich darob mit schweren Zweifeln. geschah es eines Morgens, daß der Mönch herunterging aus dem dumpfen Bücherzimmer in den hellen, schönen Klostergarten, da saß ein kleines buntes Waldvögelein im Garten, das suchte Körnlein, flog auf einen Ast



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und sang. Das Vögelein war auch gar nicht scheu, sondern ließ den Mönch nahe an sich herankommen, und er hätte es gern erhascht, doch entfloh es von einem Ast zum andern, und der Mönch folgte ihm eine gute Weile nach, dann sang es wieder mit lauter und heller Stimme, aber es ließ sich nicht fangen, obschon der junge Mönch das Vögelein aus dem Klostergarten heraus in den Wald noch eine gute Weile verfolgte. Endlich ließ er ab und kehrte zurück nach dem Kloster, aber alles dünkte ihm anders, was er sah. Alles war weiter, größer und schöner geworden, die Gebäude, der Garten, und statt des niederen alten Klosterkirchleins stand jetzt ein stolzes Münster da mit drei Türmen. Das dünkte dem Mönche seltsam und zauberhaft. Und als er an das Klostertor kam und mit Zagen die Schelle zog, da trat ihm ein ihm gänzlich unbekannter Pförtner entgegen. Nun wandelte der Mönch über den Klosterkirchhof, auf dem waren viele, viele Denksteine, die er gesehen zu haben sich nicht erinnern konnte. Und als er nun zu den Brüdern trat, wichen sie alle vor ihm aus.

Da schauerte der Mönch zusammen und wankte, wie ein Greis wankt, und senkte den Blick zur Erden. Siehe, da hatte er einen langen silbernen



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Barr, bis über den Gürtel herab, an dem noch der Schlüsselbund hing zu den vergitterten Bücherschreinen. Den Mönchen dünkte der Mann ein wunderbarer Fremdling, und sie leiteten ihn mit scheuer Ehrfurcht zum Sessel des Abtes. Dort gab er einem jungen Mönche die Schlüssel zu dem Büchersaal, der schloß auf und brachte ein Chronikbuch getragen, darin stand zu lesen, daß vor dreihundert Jahren der Mönch Urban spurlos verschwunden, niemand wisse, ob entflohen oder verunglückt. "O Waldvögelein, war das dein Lied?" fragte der Fremdling mit einem Seufzer. Kaum drei Minuten lang folgte ich dir und horchte deinem Gesang, und drei Jahrhunderte vergingen seitdem! Du hast mir das Lied von der Ewigkeit gesungen, die ich nicht fassen konnte! Nun fasse ich sie und bete Gott an im Staube, selbst ein Staub"' Sprach 's und neigte sein Haupt, und sein Leib zerfiel in ein Häuflein Asche.


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