Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Märchen und Sagen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaëls


Die Hexe und die Königskinder

Mitten in einem Walde wohnte eine alte schlimme Hexe ganz allein mit ihrer Tochter, die ein gutes, mildes Kind war. Wer die Alte sah, ging ihr aus dem Wege und dachte: weit davon ist gut vorm Schuß. Sie trug beständig eine grüne Brille und über ihrem Zottelhaar, das ungekämmt ihr vom Kopfe weit herunterhing, einen roten Tuchlappen, und ging gern in kurzen Ärmeln, daß ihre dürren, wettergebräunten Arme weit aus dem schlotternden Gewande hervorragten. Auf dem Rücken trug sie für gewöhnlich einen Sack mit Zauberkräutern, die sie im Walde sammelte, und in der Hand einen großen Topf, darin sie alle kochte und damit Ungewitter, Hagel und Schloß.., Reif und Frost zuwege brachte, sooft es ihr beliebte.

Am Finger trug sie einen Hexenreif von Gold mit einem glühroten Karfunkelstein, mit dem sie Menschen und Tiere bezaubern konnte. Dieser Ring machte die Alte riesenstark und lebenskräftig und machte sie, wenn sie wollte, auch ganz und gar unsichtbar; da konnte sie hingehen, wohin wollte, und nehmen, was sie wollte — und das tat sie auch. Im Walde suchte sie die Hirschkühe auf, und wenn die Tiere den Ring sahen und sahen den Stein funkeln, da mußten sie an eine Stelle gebannt stehenbleiben, und dann ging die Alte zu den Hirschkühen und molk deren Milch in ihren Topf und trank sie mit ihrer Tochter. Diese Tochter hieß Käthchen und hatte es nicht gut bei ihrer bösen Mutter, doch trug sie geduldig alles Leid. Am schmerzlichsten war ihr, daß ihre Mutter manchmal Kinder mitbrachte, mit denen Käthchen gern gespielt hätte, allein die Alte nahm immer den Kindern die Kleider, sperrte die Kinder ein und fütterte sie mit Hirschmilch, daß sie fett wurden, und was sie dann mit ihnen vornahm, ist gruselig zu erzählen; sie verwandelte sie in Hirschkälbchen und verkaufte sie an Jäger. Die Jäger aber schossen die armen verwandelten und verkauften



069 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

Hirschkäwchen tot und lieferten sie in die Stadt, wo die Leute das junge Wildbret gern essen. So schlimm und böse war die häßliche Alte, und da sie den ganzen Tag nichts tat, als zaubern und böse Ränke ersinnen und dabei oft und viel laut vor sich hin murmelte, so lernte ihre Tochter Käthchen ihr unvermerkt einige Zauberstücklein ab, die sie ganz im stillen für sich behielt.

Da brachte eines Abends die Alte wieder zwei wunderschöne Kinder geführt, einen Knaben und ein Mädchen, denen sah man es an, daß es Geschwister waren und reicher Leute Kinder; beide hatten sich im Walde verirrt, waren von der Alten gefunden und nach ihrem Hause mitgenommen worden, und sie hatte ihnen gesagt, sie wolle sie zurück zu den Eltern bringen. Die Kinder sahen sich schrecklich getäuscht, als die Alte ihnen ihre schönen Kleider auszog, ihnen dafür Lumpen anlegte und sie in ein dunkles Kämmerchen einsperrte. Doch bekamen sie einen ganzen Topf voll Hirschmilch zu trinken, die gut schmeckte, und ein Stück schwarzes Brot dazu, das weniger gut schmecke, aber doch verzehrt wurde.

Am andern Morgen humpelte die Alte schon frühzeitig in den Wald und winkte den Hirschkühen. Da schlich Käthchen zu dem Kämmerlein und sah durch eine Ritze in der Tür die armen gefangenen Kinder, die seufzten und weinten in großem Herzeleid. Käthchen fragte: "Wer seid ihr denn, ihr armen Kinder?" — "Wir sind eines Königs Kinder! Oh, mache uns frei, mein Vater wird es dir lohnen!" — sprach der Königsprinz. "Und meine Mutter auch!" —sagte die kleine Prinzessin, indem sie hinzufügte:

Du sollst auch unsre gute Schwester sein und sollst bei mir im seidnen Bettchen schlafen, und ich will dir gar schöne, goldne Kleider geben, hilf uns nur!" —Da sagte Käthchen: "Seid nur geduldig, liebe Königskinder; ich will schon zusehen und darauf sinnen, daß ich euch befreie." —

Am andern Morgen in der Frühe machte das gute Käthchen ein Zauberstück. Sie verließ eilig ihr Lager, hauchte hinein und sagte leise:

"Liebes Bettchen, sprich für mich,
Bin ich weg, sei du mein Ich."



070 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

So auch hauchte auf ihre Lade, auf die Treppe und auf den Herd in der Küche und sprach das nämliche Sprüchlein. Darauf ging sie an das wohlverwahrte Kämmerlein der Königskinder, hielt eine Springwurzel, welche die Alte liegen hatte, an das Schloß und sagte:

Riegel, Riegel, Riegelein,
Offne dich, laß aus und ein!

Da sprangen gleich Schloß und Riegel auf, und Käthchen führte alsbald die Königskinder hinweg in den Wald hinein.

Alls die Alte aufwachte, rief sie: "Käthchen, stehe auf und schüre Feuer an!" — Da rief es aus dem Bettchen:

Ich bin schon auf und munter!
Komme gleich in die Küche hinunter!

Die Alte blieb nun noch liegen, doch da sie nach einer Weile nichts hörte, rief sie wieder: "Käthchen! Wo bleibt denn das faule Ding?" — Gleich rief es von der Lade:

Ich sitze auf der ade,
Binde das Strumpfband über die Wade!

Da nun wieder eine Weile verging und sich im Hause nichts rührte noch regte, ward die Alte böse und schrie: "Käthe! Balg! bleibst du denn?" scholl eine Stimme von der Treppe:

Ich komme schon, ich fliege!
Ich bin ja schon auf der Stiege!

Die Alte beruhigte sich noch einmal — aber gar nicht lange, denn da wieder alles still blieb, so fuhr sie auf und schalt und fluchte. Da rief es vom Herde her:

"Wozu die bösen Flüche:
Ich bin schon am Herd in der Küche!



071 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

gleichwohl blieb es in der Küche und im ganzen Hause totenstill. Jetzt riß der Alten völlig der Geduldgfaden, sie sprang aus ihrem Bett, fuhr in die Kleider, nahm einen Besenstiel und wollte Käthchen unbarmherzig durchprügeln. Aber wie sie hinauskam, war kein Käthchen da, nicht zu sehen, nicht zu hören, und auch die Königskinder waren fort. Ihr Ring zeigte ihr sogleich die Richtung an, nach der Käthchen mit den Kindern geflohen war, und sie raste nun wild hinter ihnen her. Die Kinder aber, als sie in den Wald gekommen waren, hatten dort die Hirsche angetroffen und ihnen in aller Eile ihr Unglück und ihre Flucht erzählt und ihre edlen Herzen mächtig gerührt, so daß sie sich bereit zeigten, ihnen alle mögliche Hilfe angedeihen zu lassen. Die gute Hirschkuh bot den Kindern ihren Kücken dar, sie alle drei nach dem Königsschlosse zu tragen, und der Hirsch befahl seinen Kindern, sich in das Dickicht zurückzuziehen, er selbst stellte sich hinter



072 Ludwig Bechstein Märchen Flip arpa

dichtes Laubgebüsch nahe am Wege und wollte die Alte, wenn sie vorbeirenne und er ihren Ring nicht sehe,. über den Haufen stoßen.

Es währte auch gar nicht lange, so kam die Alte in großen Sprüngen gesetzt; in ihrem Zorn und Eifer vergaß sie ganz, unsichtbar sein zu wollen, hielt auch den Finger mit dem Ring nicht empor, und ehe sich 's einer versah, hatte der Hirsch die alte Hexe aufgegabelt und trug sie in gestrecktem Lauf der Fährte nach, welche die gute Hinde im tauigen Grase zurückgelassen hatte. asie war indes mit den drei Kindern bereits im Königsschlosse angekommen, und von dem König und der Königin waren die verlorenen Kinder und das gute Käthchen, das sie rettete, mit großer Freude empfangen worden — als sie plötzlich alle mit großer Verwunderung die Alte auf dem Geweih des stattlichen Edelhirsches sitzend und getragen daherschweben sahen. Der Hirsch sprang aber ohne Säumen in den Schloßteich und tauchte mit dem Kopf unter. Als er wieder auftauchte, war sein Geweih frei von der Last. Aber auch der Zauberring blieb am Grunde. Hirsch und Hirschin kehrten zu ihrem Walde und zu ihren Kindern zurück und waren sehr froh, daß ihnen nun niemand mehr ihre Milch nahm; Käthchen aber blieb bei den Königskindern und schlief in einem seidenen Bettchen und trug goldene Kleidchen und wurde selbst gehalten wie ein Königskind.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt