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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Die Glocke

Des Abends in den schmalen Straßen der großen Stadt, wenn die Sonne unterging und die Wolken oben Gold zwischen den Schornsteinen glänzten, hörte häufig bald der eine, bald der andere einen sonderbaren Laut, gerade wie den Klang einer Kirchenglocke, aber man hörte nur einen Augenblick, denn da war ein solches Rasseln von Wagen und ein solches Rufen, und das stört. "Nun läutet die Abendglockel" sagte man, "nun geht die Sonne unterl"

Die, welche außerhalb der Stadt gingen, wo die Häuser weiter voneinander entfernt lagen, mit Gärten und kleinen Feldern dazwischen, die sahen den Abendhimmel noch prächtiger und hörten den Klang der Glocke weit stärker, es war, als käme der Ton von einer Kirche tief aus dem stillen, duftenden Walde, und die Leute blickten dorthin und wurden ganz andächtig.

Nun verstrich längere Zeit. Der eine sagte zum anderen: Ob wohl eine Kirche da draußen im Walde ist? Die Glocke hat doch einen eigentümlich herrlichen Klang; wollen wir nicht hinaus und sie näher betrachtens" Die reichen Leute fuhren, und die Armen gingen, aber der Weg wurde ihnen so erstaunlich lang, und als sie zu einer Menge Weidenbäume kamen, die am Rande des Waldes wuchsen, da lagerten sie sich dort und blickten zu den langen Zweigen



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hinauf und glaubten, daß sie nun recht im Grünen sein Der Konditor aus der Stadt kam hinaus und schlug sein Zelt auf, und dann kam noch ein Konditor, und der hing eine Glocke gerade über seinem Zelte auf, und zwar eine Glocke, die geteert war, um den Regen aushalten zu können, und der Klöppel fehlte. Wenn dann die Leute wieder nach Hause gingen, sagten sie, daß es wunderschön gewesen sei. Drei Personen versicherten, daß sie in den Wald hineingegangen seien bis dahin, wo er ende, und sie hätten immer den sonderbaren Glockensang gehört, aber es war ihnen dort gerade, als wenn er aus der Stadt käme. Der eine schrieb ein ganzes Lied davon und sagte, daß die Glocke wie die Stimme einer Mutter zu einem lieben, klugen Kinde klänge, keine Melodie sei herrlicher als der Klang der Glocke.

Der Kaiser des Landes wurde auch aufmerksam darauf und versprach, daß der, welcher ausfindig machen könne, woher der Schall komme, den Titel eines Weltglöckners haben solle, und das selbst, wenn es auch keine Glocke sei.

Nun gingen viele der guten Versorgung halber nach dem Walde, aber da war nur einer, der mit einer Art Erklärung zurückkehrte. Keiner war tief genug eingedrungen, und er denn auch nicht; aber er sagte doch, daß der Glockenton von einer sehr großen Eule in einem hohlen Baume herkomme, das sei so eine Weisheitseule, die ihren Kopf fortwährend gegen den Baum schlage, aber ob der Ton von ihrem Kopfe oder von dem hohlen Stamme komme, das könne er noch nicht mit Bestimmtheit sagen, und dann wurde er als Weltglöckner angestellt und schrieb jedes Jahr eine kleine Abhandlung über die Eule; man war damm ebenso klug als vorher.

Nun war es gerade ein Einsegnungstag. Der Prediger hatte so schön und innig gesprochen, die Konfirmanden waren so bewegt gewesen, es war ein wichtiger Tag für sie; sie wurden aus Kindern mit einem Male zu erwachsenen Menschen, die Kinderseele sollte nun gleichsam in eine verständigere Person hinüberfliegen Es war der herrlichste Sonnenschein, die Konfirmanden gingen zur Stadt hinaus, und vom Walde erklang die große unbekannte Glocke ganz besonders stark. Sie bekamen sogleich Lust, dahin zu gelangen, und zwar alle bis auf drei; ein Mädchen wollte nach Hause und ihr Ballkleid anprobieren, denn es waren gerade das Kleid und der Ball, welchen sie verdankte, daß sie dieses Mal eingesegnet worden war, denn sonst wäre sie nicht mitgekommen; der zweite war ein armer Knabe, welcher seinen Konfirmationsrock und die Stiefel vom Sohne des Wirtes geliehen hatte, und die mußte er zur bestimmten Zeit zurückliefern; der dritte sagte, daß ernie nach einem fremden Orte gehe, wenn seine Eltern nicht mit dabei seien, und daß er immer ein artiges Kind gewesen sei, und das wolle er auch bleiben, selbst als Konfirmand, und darüber soll man sich nicht lustig machen! — Aber das taten die andern dennoch.

Drei von ihnen gingen also nicht mit, die anderen trabten davon. Die



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Sonne schien, und die Vögel sangen, und die Konfirmanden sangen mit und hielten einander bei den Händen; denn sie hatten ja noch keine Ämter erhalten und waren alle Konfirmanden vor dem lieben Gott.

Aber bald ermüdeten zwei der Kleinsten, und dann kehrten sie um und gingen wieder zur Stadt; zwei kleine Mädchen setzten sich und banden Kränze; sie kamen auch nicht mit, und als die andern die Weidenbäume erreichten, wo der Konditor wohnte, da sagten sie: "Sieh so, nun sind wir hier draußen, die Glocke gibt es ja doch eigentlich nicht, sie ist nur etwas, was man sich einbildet!"

Da ertönte plötzlich tief im Walde die Glocke so schön und feierlich, daß vier oder fünf sich entschlossen, doch weiter in den Wald hineinzugehen. Der war so dicht, so belaubt, es war außerordentlich beschwerlich vorzudringen, Waldlilien und Anemonen wuchsen fast allzu hoch, blühende Winden und Brombeerranken hingen in langen Guirlanden von Baum zu Baum, wo die Nachtigallen sangen und die Sonnenstrahlen spielten. Oh, das war herrlich, aber für Mädchen war es kein gangbarer Weg, sie würden sich die Kleider zerrissen haben. Da lagen große Felsstücke, mit Moos von allen Farben bewachsen, das frische Quellwasser quoll hervor, und wunderbar tönte es gleich wie "Kluck, kluck!"

"das sollte doch wohl nicht die Glocke sein!" sagte einer der Konfirmanden und legte sich nieder und horchte. "Das muß man ordentlich studieren!" Da blieb er und ließ die anderen gehen.

Sic kamen zu einem Hause von Borke und Zweigen; ein großer Baum mit wilden Äpfeln lehnte sich darüber hin, als wolle er seinen ganzen Segen über das Dach ausschütten, welches blühende Rosen trug; die langen Zweige lagen gerade um den Giebel hin, und an diesem hing eine kleine Glocke. Sollte es diese sein, die man gehört hatte? Ja, darin stimmten alle überein bis auf einen, der sagte, daß die Glocke zu klein und zu fein sei, als daß sie in solcher Entfernung gehört werden könne, wie sie sie gehört hätten, und daß es ganz andere Töne seien, die ein Menschenherz so rührten. Der, welcher sprach, war ein Königssohn, und da sagten die andern, so einer wolle immer klüger sein.

Dann ließen sie ihn allein gehen, und wie erging, wurde seine Brust mehr und mehr von der Einsamkeit des Waldes erfüllt. Aber noch hörte er die kleine Glocke; über die sich die andern so freuten, und mitunter, wenn der Wind die Töne vom Konditor herübertrug, konnte er auch hören, wie da zum Tee gesungen wurde. Aber die tiefen Glockenschläge tönten doch stärker, bald war es so, als spielte eine Orgel dazu, der Schall kam von der linken Seite, auf der das Herz sitzt.

Nun rasselte es im Busche, und da stand ein Keiner Knabe vor dem Königssohn, ein Knabe in Holzschuhen und mit einer so kurzen Jacke, daß man recht sehen konnte, wie lange Handgelenke er hatte. Sie kannten einander, der Knabe war gerade derjenige von den Konfirmanden, der nicht hatte mitkommen können,



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weil er nach Hause mußte, um Rock und Stiefel an des Wirtes Sohn abzuliefern. Das hatte er getan und war nun in Holzschuhen und den ärmlichen Kleidern allein davongegangen, denn die Glocke klang so stark, so tief; er mußte hinaus.

"Dann können wir ja zusammengehen!" sagte der Königssohn. Aber der arme Konfirmand mit den Holzschuhen war ganz verschämt, er zupfte an den Ärmeln der Jacke und sagte, er fürchte, er könne nicht so rasch mitkommen, überdem meine er, daß die Glocke zur Rechten gesucht werden müsse, denn der Platz habe ja alles Große und Herrliche.

"Ja, dann begegnen wir uns gar nicht!" sagte der Königssohn und nickte dem armen Knaben zu, der in den tiefsten, dichtesten Teil des Waldes hineinging ging, wo die Dornen seine ärmlichen Kleider entzwei und Antlitz, Hände und Füße blutig rissen. Der Königssohn erhielt auch einige tüchtige Sisse, aber die Sonne beschien doch seinen Weg, und er ist es, dem wir nun folgen, denn es war ein flinker Bursche.

"Die Glocke will und muß ich finden!" sagte er, "wenn ich auch bis zum Ende der Welt gehen muß!"

Die häßlichen Affen saßen oben in den Bäumen und grinsten mit allen ihren Zähnen. "Wollen wir ihn prügeln?" sagten sie; "wollen wir ihn dreschen? Er ist ein Königssohn!"

Aber er ging unverdrossen tiefer und tiefer in den Wald, wo die wunderbarsten Blumen wuchsen; da standen weiße Sternlilien mit blutroten Staubfäden, himmelblaue Tulpen, die im Walde funkelten, und Apfelbäume, deren Apfel ganz und gar wie große glänzende Seifenblasen aussahen; denkt nur, wie die Bäume im Sonnenlichte strahlen mußten! Rings um die schönsten grünen Wiesen, wo Hirsch und Hindin im Grase spielten, wuchsen prächtige Eichen und Buchen, und war einer der Bäume in der Borke gesprungen, so wuchsen Gras und lange Ranken in den Spalten; da waren auch große Waldstrecken mit stillen Landseen, in denen weiße Schwäne schwammen und mit den Flügeln schlugen. Der Königssohn stand oft still und horchte, oft glaubte er, daß von einem dieser tiefen Seen die Glocke zu ihm herauf klinge, aber dann merkte er wohl, daß es nicht daher käme, sondern daß die Glocke noch tiefer im Walde ertöne.

Nun ging die Sonne unter, die Luft erglänzte rot wie Feuer, es wurde so still, so still im Walde, er sank auf seine Kniee, sang seinen Abendpsalm und sagte: "Nie finde ich, was ich suche; nun geht die Sonne unter, nun kommt die Nacht die finstere Nacht; doch einmal kann ich die Sonne vielleicht noch sehen, bevor sic ganz hinter der Erde versinkt; ich will dort auf die Klippen hinaufsteigen, ihre Höhe erreicht die der höchsten Bäumel"

Und er ergriff nun Ranken und Wurzeln und kletterte anden nassen Steinen empor, wo die Wasserschlangen sich wanden, wo die Kröten ihn gleichsam an



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bellten; aber hinauf kam er, bevor die Sonne, von dieser Höhe gesehen, ganz untergegangen war. Oh, welche Pracht! Das Meer, das große herrliche Meer, welches seine langen Wogen gegen die Küste wälzte, streckte sich vor ihm ans, und die Sonne stand wie ein großer, glänzender Altar dadraußen, wo Meer und Himmel sich begegneten. Alles schmolz in glühenden Farben zusammen, der Wald sang, und das Meer sang, und sein Herz sang mit; die ganze Natur war eine große heilige Kirche, in der Bäume und schwebende Wolken die Pfeiler, Blumen und Gras die gewebte Sammetdecke und der Himmel selbst die große Kuppel bildeten. Dort oben erloschen die roten Farben, indem die Sonne verschwand, aber Millionen Sterne wurden angezündet, da glänzten Millionen Diamantlampen, und der Königssohn breitete seine Arme gegen den Himmel, gegen das Meer und den Wald aus, und da kam plötzlich, von dem rechten Seitenwege, der arme Konfirmand mit den kurzen Ärmeln und den Holzschuhen; er war da ebenso zeitig angelangt, er war auf seinem Wege dahin gekommen, und sie liefen einander entgegen, und sie hielten einander an den Händen in der großen Kirche der Natur und der Poesie, und über ihnen ertönte die unsichtbare heilige Glocke, und selige Geister umschwebten sie zu einem jubelnden Halleluja!


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