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H. C. Andersens Märchen


Herausgegeben von


Dr. Karl Martin Schiller

Mit den Abbildungen Holzschnitte nach Originalzeichnungen von


Ludwig Richter, Graf Pocci, Theodor Hosemann und Raymond de Baux und 12 Kunstblättern von Otto Speckter und Graf Pocci


Leipzig F. W. Hendel Verlag 1927


Fliedermütterchen

Es war einmal ein kleiner Knabe, der hatte sich erkältet; er war ausgegangen und hatte nasse Füße bekommen, niemand konnte begreifen, woher er sie erhalten hatte, denn es war ganz trockenes Wetter. Nun entkleidete ihn seine Mutter, brachte ihn zu Bette und ließ die Teemaschine hereinbringen, um ihm eine gute Tasse Fliedertee zu bereiten, denn der Tee erwärmt! Zu gleicher Zeit kam auch der alte freundliche Mann zur Tür herein, der ganz oben im Hause wohnte und so allein lebte, denn er hatte weder Frau noch Kinder, liebte aber die Kinder sehr und wußte so viele Märchen und Geschichten zu erzählen, daß es eine Lust war.

"Nun trinkst du deinen Tee!" sagte die Mutter, "vielleicht bekommst du dann ein Märchen zu hören."

"Ja, wenn ich nur ein neues asel" sagte der alte Mann und nickte freundlich. "Wo hat aber der Kleine die nassen Füße herbekommen?" fragte er.

"Ja, wie das geschehen ist," sagte die Mutter, "das kann niemand begreifen."

"Bekomme ich ein Märchen erzählte" fragte der Knabe.

"Ja! Kannst du mir genau sagen, denn das muß ich zuerst wissen, wie tief der Rinnstein in der kleinen Straße ist, wo du in die Schule gehst?"

"Gerade bis mitten auf die Schäfte," sagte der Knabe, "aber dann muß ich in das tiefe Loch gehen!"

"Sieh, davon haben wir die nassen Füße", sagte der Alte. "Nun soll ich freilich ein Märchen erzählen, aber ich weiß keins mehr!"

"Sie können gleich einz machen", sagte der kleine Knabe. "Mutter sagt,



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daß alles, was Sie betrachten, zu einem Märchen werden kann, und von allem, was Sie berühren, können Sie eine Geschichte erhalten!"

"Ja, aber die Märchen und Geschichten taugen nichts! Nein, die ordentlichen, die kommen von selbst, die klopfen mir gegen die Stirn und sagen: Hier bin ich!"

"Klopft nicht bald?" fragte der kleine Knabe, und die Mutter lachte, tat Fliedertee in die Kanne und goß kochendes Wasser darüber.

"Erzählen Sie, erzählen Sie!"

Ja, wenn mein Märchen von selbst kommen möchte, aber so einz ist vornehm kommt nur, wenn es selbst Lust hat! Warte!" sagte er auf einmal "Da haben wir es! Gib acht nun ist eins in der Teekanne!"

Und der kleine Knabe sah nach der Teekanne hin, der Deckel hob sich mehr und mehr, und die Fliederblumen kamen so frisch und weiß daraus hervor, sie schossen große lange Zweige, selbst aus der Leinwand verbreiteten sie sich nach allen Seiten und wurden größer und größer. Es war der herrlichste Fliederbusch ein ganzer Baum, er ragte in das Bett hinein und schob die Gardinen zur Seite. Nein, wie das blühte und duftete! Und minen im Baume saß eine alte, freundliche Frau mit einem sonderbaren Kleide an, es war ganz grün, gleich den Blättern des Fliederbaumes, und mit großen weißen Fliederblumen besetzt, man konnte nicht gleich erkennen, ob es Zeug oder lebendiges Grün und Blumen waren.

"Wie heißt die Frau 2" fragte der kleine Knabe.

"Ja, die Römer und Griechen," sagte der alte Mann, "die nannten sie eine Dryade, aber das verstehen wir nicht. Draußen in der Vorstadt haben wir einen bessern Namen für sie, da wird sie Fliedermütterchen genannt, und sie ist auf die du acht geben mußt. Horch nur auf, und betrachte den herrlichen Fliederbaum.

Gerade so ein großer blühender Baum stand dadraußen in Nyboder; er wuchs dort in einem Winkel eines kleinen ärmlichen Hofes. Unter diesem Baume saßen eines Nachmittags im schönsten Sonnenschein zwei alte Leute, es war ein alter, alter Seemann und seine alte, alte Frau; sie waren Urgroßeltern und sollten bald ihre goldene Hochzeit halten, aber sie konnten sich des Hochzeitstages nicht recht entsinnen; und die Fliedermutter saß im Baume und sah so vergnügt aus, gerade wie hier. "Ich weiß wohl, wann die goldene Hochzeit ist!" sagte sie, aber sie hörten es nicht, sie sprachen von alten Zeiten.

"Ja, entsinnst du dich," sagte der alte Seemann, "damals, als wir noch ganz Kein waren und herumliefen und spielten, es war gerade in demselben Hofe, wo wir nun sitzen, und wir pflanzten Keine Stecken in den Hof und machten einen Garten."

"Ja," sagte die alte Frau, "dessen erinnere ich mich recht gut; und wir begossen die Stecken, und einer derselben war ein Fliederzweig, der schlug Wurzeln,



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schoß grüne Zweige und ist ein großer stattlicher Baum geworden, unter dem wir alten Leute nun sitzen."

"Ja, sicher!" sagte er; "und dort in der Ecke stand ein Wasserkübel, dort schwamm mein Fahrzeug, ich hatte es selbst ausgeschnitten, wie das segeln konnte! Aber ich mußte freilich bald anderswohin segeln."

"Ja, aber zuerst gingen wir in die Schule und lernten etwas," sagte sie, "uno dann wurden wir eingesegnet. Wir weinten beide; aber dez Nachmittags gingen wir Hand in Hand auf den runden Turm und sahen in die Welt hinaus über Kopenhagen und das Wasser, dann gingen wir hinaus nach Friedrichsberg, wo der König und die Königin in ihrem prächtigen Boote auf den Kanälen herumführen."

"Aber ich mußte bald anderswo fahren und viele Jahre lang weit weg rei en!

"Ja, ich weinte oft deinetwegen", sagte sie. "Ich glaubte, du seiest tot und müßtest dort unten im tiefen Wasser liegen. Manche Nacht stand ich auf und sah, ob der Wetterhahn sich drehte; ja er drehte sich wohl, aber du kamst nicht! Ich erinnere mich so deutlich, wie es eines Tages vom Himmel goß, der Kehrichtmann hielt vor der Tür, wo ich diente, ich ging mit dem Mülleimer hinunter



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und blieb in der Tür stehen; — was war das für ein abscheuliches Wettert Und gerade, als ich dastand; war der Briefträger mir zur Seite und gab mir einen Brief, der war von dir! Ja, wie der herumgereist war! Ich riß ihn auf und lao; ich lachte und weinte, ich war so froh! Da stand, daß du in den warmen Ländern wärest, wo die Kaffeebohnen wachsen. Was muß das für ein herrliches Land sein! Du erzähltest so viel, und ich sah das alles, während der Regen herniedergoß und ich mit dem Mülleimer dastand. Da war einer der mich um den Leib nahm — —"

"Ja, aber du gabst ihm einen tüchtigen Schlag auf das Ohr daß es nur so klatschte."

"Ich wußte ja nicht, daß du es warst. Du warst ebenso geschwinde als dein Brief gekommen, und du warst so schön — das bist du ja noch! Du hattest ein lan geo, gelbes, seidenes Tuch in der Tasche und einen neuen Hut auf, du warst so fein. Gott, was das doch ein Wetter war, und wie die Straße aussah!"

"Dann heirateten wir uns sagte er, "entsinnst du dich? Und dann, als wir den ersten kleinen Knaben und dann Marie und Niels und Peter und Hans Christian bekamen!"

"Ja, und wie die alle herangewachsen und ordentliche Menschen geworden sind, die ein jeder gern hat."

"Und ihre Kinder haben wieder Kleine bekommen," sagte der alte Matrose, "ja, das sind Kindeskinder, da ist Kern drin! — War es nicht gerade um diese Zeit des Jahres, daß wir Hochzeit hielten?"

"Ja, eben heute ist der goldene Hochzeitstag!" sagte die Fliedermutter und streckte den Kopf gerade zwischen die beiden Alten hinunter, und sie glaubten, es sei die Nachbarin, die da nickte. Sie sahen einander anund behielten sich an den Händen. Bald darauf kamen die Kinder und Kindeskinder; sie wußten wohl, daß es der goldene Hochzeitstag sei, sie hatten schon des Morgens gratuliert, aber die Alten hatten es vergessen, während sie so gut sich an alles erinnerten, was vor vielen Jahren geschehen war. Der Fliederbaum duftete so stark, und die Sonne, die im Untergehen begriffen war, schien den beiden Alten gerade in W Antlitz, sie sahen beide so rotwangig aus, und das kleinste der Kindeskinder tanzte um sie herum und rief ganz glücklich, daß diesen Abend große Pracht herrschen werde, sie sollten warme Kartoffeln haben; und die Fliedermutter nickte im Baume und rief mit all den anderen: "Hurra!"

"Aber das war ja kein Märchen!" sagte der kleine Knabe, der es erzählen hörte.

"Ja, das mußt du verstehent" sagte der Alte der erzählte; "aber laß uns Fliedermütterchen danach fragen!"

"Das war kein Märchen," sagte die Fliedermutter, "aber nun kommt es! Aus der Wirklichkeit wächst gerade das sonderbarste Märchen heraus; sonst



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könnte ja mein schöner Fliedbusch nicht aus der Teekanne hervorgesproßt sein!" Und dann nahm sie den kleinen Knaben aus dem Bette, legte ihn an ihre Brust, und die Fliederzweige voller Blumen schlugen um sie zusammen, sie saßen wie in der dichtesten Laube, und diese flog mit ihnen durch die Luft, es so unaussprechlich schön!

Fliedermütterchen war auf einmal ein niedliches schönes Mädchen geworden, aber das Kleid war noch von demselben grünen weißgeblümten Zeuge, wie es Fliedermütterchen getragen hatte. Am Busen hatte sie eine wirkliche Fliederblume und um ihr gelbes, gelocktes Haar einen ganzen Kranz von Fliederblumen; ihre Augen waren so groß, so blau, oh, sie war so herrlich anzuschauen! Sie und der Knabe küßten sich, und dann waren sie im gleichen Alter und fühlten gleiche Freuden.

Sie gingen Hand in Hand aus der Laube und standen nun im schönen Blumengarten der Heims Bei dem frischen Grasplatze war des Vaters Stock an einen Pflock angebunden Für die Kleinen war Leben im Stocke; sobald sie sich quer über denselben setzten, verwandelte sich der blanke Knopf zu einem prächtig wiehernden Kopf, die lange schwarze Mähne flatterte, vier schlanke starke Beine schossen hervor. Das Tier war stark und mutig; im Galopp fuhren sie um den Grasplatz herum, hussa! "Nun reiten wir viele Meilen weit forti" sagte der Knabe; "wir reiten nach dem Rittergute, wo wir im vorigen Jahre waren!" Und sie ritten und ritten um den Rasenplatz herum, und immer rief das kleine Mädchen, die, wie wir wissen, keine andere als die Fliedermutter war: "Nun sind wir auf dem Landet Siehst du das Bauernhaus mit dem großen Backofen, der wie ein riesengroßes Ei aus der Mauer nach dem Wege heraus erscheint? Der Fliederbaum breitet seine Zweige über sie hin, und der .Hahn geht und kratzt für die Hühner; Sieh, wie er sich brüstet! Nun sind wir bei der Kirche! Die liegt hoch auf dem Hügel unter den großen Eichbäumen, von denen der eine halb abgestorben ist! Nun sind wir bei der Schmiede, wo das Feuer brennt und die halbnackten Männer mit den Hämmern schlagen, daß die Funken weit umhersprühen. Fort, fort nach dem prächtigen Rittergute!" Und alles, das kleine Mädchen, die hinten auf dem Stocke saß, sagte, das flog auch vorbei; der Knabe sah und doch kamen sie nur um den Grasplatz herum. spielten sie im Seitengänge und ritzten in der Erde einen kleinen Garten, und sie nahm Fliederblumen aus ihrem Haar, pflanzte sie, und sie wuchsen gerade wie bei den Alten in Ryser damals, als sie noch klein gewesen waren; und wie früher erzählt worden ist. Sie gingen Hand in Hand, gerade wie die alten Leute es als Kinder gemacht hatten, aber nicht auf den runden Turm hinauf oder nach dem Friedrichsberger Garten, nein, das kleine Mädchen faßte den Knaben um den Leib, und dann flogen sie weit herum im ganzen Lande, und es war Frühjahr, und es wurde Sommer, und es war Erntezeit, und es wurde



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Winter, und Tausende von Bildern spiegelten sich in des Knaben Augen und Herzen ab, und immer sang das kleine Mädchen ihm vor: "Das wirst du nie vergessen!" und auf dem ganzen Fluge duftete der Fliederbaum so süß und so herrlich; der Knabe bemerkte wohl die Rosen und die frischen Buchen, aber der Fliederbaum duftete noch stärker, denn seine Blumen hingen an des Keinen Mädchens Herzen, und daran lehnte er oft im Fluge sein Haupt.

"Hier ist es schön im Frühjahr!" sagte das junge Mädeln, und sie standen in dem frisch ausgeschlagenen Buchenwalde, wo der grüne Klee zu ihren Füßen duftete, und in dem Grünen sahen die blaßroten Anemonen so lieblich aus. Oh, wäre es immer Frühjahr in dem duftenden Buchenwalde!"

"Hier ist es herrlich im Sommer!" sagte sie, und sie fuhren an alten Schlössern aus der Ritterzeit vorbei, wo sich die roten Mauern und gezackten Giebel in den Kanälen spiegelten, wo die Schwäne schwammen und in die alten kühlen Alleen hinauf sahen. Auf dem Felde wogte das Kom, gleich einem See, in den Gräben standen rote und gelbe Blumen und auf den Gehegen wilder Hopfen und blühende Winden. Des Abends aber stieg der Mond rund und groß empor, die Heuhaufen auf den Wiesen dufteten so süß. "Das vergißt sich nie!"

"Hier ist es herrlich im Herbst!" sagte das kleine Mädeln, und die Luft



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war doppelt so hoch und blau, der Wald bekam die schönsten Farben von Rot, Gelb und Grün. Jagdhunde jagten davon, ganze Scharen Vogelbild flogen schreiend über die Hünengräber hin, auf denen Brombeerranken sich um die alten Steine schlangen. Das Meer war schwarzblau mit weißen Seglern bedeckt, und in der Tenne saßen alte Frauen, Mädchen und Kinder und pflückten Hopfen in ein großes Gefäß; die Jungen sangen Lieder, aber die Alten erzählten Märchen von Kobolden und bösen sauber Besser konnte es nirgends sein!

"Hier ist es schön im Winter!" sagte das kleine Mädchen, und alle Bäume waren mit Reif bedeckt, so daß sie wie weiße Korallen aussahen, der Schnee knarrte unter den Füßen, als hätte man immer neue Stiefel an, und vom Himmel fiel eine Sternschnuppe nach der anderen. Im Zimmer wurde der Weihnachtsbaum angezündet, da gab es Geschenke und gute Laune; auf dem Lande ertönte nider Bauernstube die Violine, Äpfelschnittchaschen wurde gespielt; selbst das ärmste Kind sagte: "Es doch schön im Winter!"

Ja, es war schön, und das kleine Mädchen zeigte dem Knaben alles, und immer duftete der Fliederbaum, und immer wehte die rote Flagge mit dem weißen Kreuze, die Flagge, unter welcher der alte Seemann in Nyboder gesegelt hatte. Der Knabe wurde Jüngling, und er sollte in die weite Welt hinaus, weit fort nach den warmen Ländern, wo der Kaffee wächst, aber beim Abschied nahm das Keine Mädchen eine Fliederblume von ihrer Brust und gab sie ihm aufzubewahren. Sie wurde sorgfältig in das Gesangbuch gelegt, und im fremden Lande, wenn er das Buch öffnete, geschah es immer an der Stelle, wo die Erinnerungsblume lag, und je mehr er sie betrachtete, desto frischer wurde sie, so daß er gleichsam einen Duft von den heimatlichen Wäldern einatmete, und deutlich erblickte erdas kleine Mädchen, wie sie mit ihren klaren blauen Augen zwischen den Blumenblättern hervorsah, und sie flüsterte dann: "Hier ist es schön im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter!" und Hunderte von Bildern glitten durch seine Gedanken.

So verstrichen viele Jahre, und er war nun ein alter Mann und saß mit seiner alten Frau unter einem blühenden Fliederbaum. Sie hielten einander an den Händen, gerade wie der Urgroßvater und die Urgroßmutter es draußen in Nyboder getan hatten, und sie sprachen ebenso wie diese von den alten Zeiten und von der goldenen Hochzeit. Das Seine Mädchen mit den blauen Augen und mit den Fliederblumen im Haar saß oben im Baume, nickte beiden zu und sagte: "Heute ist der goldene Hochzeitstag!" Dann nahm sie zwei Blumen aus ihrem Kranze, küßte sie, und sie glänzten zuerst wie Silber, dann wie Gold, und als sie sie auf die Häupter der Alten legte, wurde jede Blume zu einer Goldkrone. Da saßen sie beide, einem Könige und einer Königin gleich, unter dem duftenden Baume, der ganz und gar wie ein Fliederbaum aussah, und er erzählte seiner alten Frau die Geschichte von dem Fliedermütterchen, so wie sie ihm er



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zählt worden war, als er noch ein miner Knabe gewesen war, und sie meinten beide, daß sie so vieles enthielte, was ihrer eigenen gleiche, und das, was ähnlich war, gefiel ihnen am besten.

Ja, so ist es!" sagte das kleine Mädchen im Baume. "Einige nennen mich Fliedermütterchen, andere nennen mich Dryade, aber eigentlich heiße ich Erinnerung; ich bin es, die im Baum sitzt, welcher wächst und wächst, ich kann zurückdenken, ich kann erzählen! Laß sehen, ob du deine Blume noch hast."

Und der alte Mann öffnete sein Gesangbuch, da lag die Fliederblume so frisch, als wäre sie erst kürzlich hineingelegt worden, und die Erinnerung nickte und die beiden Alten mit den Goldkronen auf dem Haupte saßen in der roten Abendsonne. Sie schlossen die Augen und — und — ja, da war das Märchen aus!

Der kleine Knabe lag in seinem Bette, er wußte nicht, ob er geträumt oder ob er es erzählen gehört habe. Die Teekanne stand auf dem Tische, aber es wuchs kein Fliederbaum daraus hervor, und der alte Mann, der erzählt hatte; war eben im Begriff, zur Tür hinauszugehen, und das tat er auch.

"Wie schön war das!" sagte der kleine Knabe. "Mutter, ich bin in den warmen Ländern gewesen!"

Ja, das glaube ich wohl!" sagte die Mutter, "wenn man zwei volle Tassen Fliedertee zu sich nimmt, dann kommt man wohl nach den warmen Ländern!" — Und sie deckte ihn gut zu, damit er sich nicht erkälte. "Du hast wohl geschlafen, während ich mich mit dem alten Manne darüber stritt, ob es eine Geschichte oder ein Märchen seil"

"Und wo ist die Fliedermutter?" fragte der Knabe.

"Sie ist in der Teekanne!" sagte die Mutter, "und dort kann sie bleiben!"


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