Die Götter Griechenlands
in
Zusammenhang der allgemeinen Religionsgeschichte.
Rektoratsrede
gehalten
and der Hochschule in Bern
von
Ed. Langhans.
Prof Dr. theolog
Die Götter Griechenlands
im Zusammenhang der allgemeinen Religionsgeschichte.
Die allgemeine vergleichende Religionsgeschichte ist eine noch sehr junge
Wissenschaft. Zwar lag dieselbe schon vor 100 Jahren nach Ziel und Methode
klar im Kopfe Herders, dessen universell humane Geistesrichtung und feinfühliges
Verständnis für die individuelle Geistesart der Völker den richtigen
Impuls zur Begründung unsrer Wissenschaft hätte geben können. Aber
Herders Winke blieben unbeachtet und unbenützt, er musste sich mit dem
Ruhm begnügen, ein verdienstvoll pathetischer Prophet für künftige Geschlechter
zu sein. Nach wie vor hielt man die fremden Religionen für keines Interesses
wert; man sah in ihren Mythen und Gebräuchen entweder kindischen Aberwitz
oder schmähliche Entartung einer vorausgesetzten Urreligion, welche Gott
den ersten Menschen im Paradiese mitgeteilt und die sich nur im Judentum
und Christentum normal entwickelt habe, oder auch man entseelte sich über
einige auffallende Aehnlichkeiten zwischen heidnischem und christlichem Glauben
und Kultus und fasste das Heidentum als eine satanische Verhöhnung des
Christentums auf.
Erst seit wenigen Jahrzehnden hat der erleichterte Verkehr zwischen
Europa und den übrigen Erdteilen hier eine Aenderung gebracht. Sprachforscher
und Ethnographen sahen sich mehr und mehr vor eine ungeheure
Masse interessantester Tatsachen gestellt; namentlich waren es die seefahrenden,
den Weltverkehr beherrschenden Nationen, die Engländer, Hollander, Franzosen,
Amerikaner, die der neuen Aufgabe das regste Interesse schenkten, dann trat
auch Deutschland mit einer Reihe glänzender Namen in die gemeinsame
Arbeit ein. Jetzt gibt es kaum mehr eine Hochschule, an der nicht allgemeine
vergleichende Religionsgeschichte, sehr oft in der philosophischen Fakultät, gelesen
wird. In Paris existirt seit einigen Jahren ein eigenes akademisches
Institut für das Studium der Religionen, an welchem für jede Religion
oder Gruppe von Religionen ein besonderer Lehrstuhl errichtet ist, so dass
diese Eine Wissenschaft an 7 bis 8 akademische Lehrer verteilt ist.
Welches ist nun aber die Aufgabe dieser jungen Wissenschaft und worin
liegt das Interesse, welches die gebildete Welt in steigendem Masse an ihr
nimmt? Früher, wenn man sich über die Religion eines Volkes erkundigen
wollte, bekam man die Auskunft, dass dieses Volk die und jene religiösen
Vorstellungen, diese und jene Kultusgebräuche besessen habe oder besitze. Es
war im Grunde nichts als eine Statistik über Götterverehrung und Opfergebräuche
und diese Statistik war beliebig diesem oder jenem Zeitpunkte der
ältern oder neuern Geschichte entnommen; von Stufen der Entwicklung war
da keine Rede und jedes Volk schien rein auf sich selbst gestellt, ohne Zusammenhang
mit den andern. Wir aber möchten eine einheitliche Geschichte
der Religion der Menschheit haben und beginnen deshalb an der Hand der
Psychologie und der Kulturgeschichte bei den ersten Anfängen. Wir fragen,
wie überhaupt Religion möglich ist und aus was für Faktoren sie entsteht.
Dabei zeigt sich, dass sie überall in derselben Menschennatur begründet, als
dasselbe psychologische Phänomen, mit derselben innern Notwendigkeit auftritt.
Wenn dann dieses Eine Phänomen sich schliesslich als eine kaum übersehbare
Mannigfaltigkeit einzelner Volksreligionen darstellt, die nach einigen
Grundzügen immer noch eine überraschende Gleichartigkeit, nach andern die
denkbar grösste Verschiedenheit zeigen, so beobachten wir hier eine Reihe klar
verständlicher Entwicklungsgesetze, die sich überall vollziehen und in denen
das So- oder Anderssein, das Steigen und Fallen der Religion begründet
ist. Wir beobachten, wie der Uebergang vom Nomaden und Jägerleben
zum Ackerbau überall denselben Einfluss auf die religiöse Entwicklung ausübt.
Wir beobachten, unter welchen überall identischen Umständen ein Priestertum
und eine für geoffenbart geltende heilige Schrift entsteht und unter
welchen Umständen beides unterbleibt. Wir beobachten, nach welchen Gesetzen
die göttlich verehrten Naturmächte sich zur Geistigkeit erheben und zu Hütern
des Rechts und der staatlichen Ordnung, der Mannestreue, der Familienliebe,
der sittlichen Harmonie und Schönheit werden.
Dabei stehen wir gar nicht an, auch die beiden biblischen Religionen,
die des Alten, wie des Neuen Testamentes, in demselben allgemeinen geschichtlichen
Zusammenhang aufzufassen; nicht mit Aerger und Entsetzen, wie
es früher der Fall war, sondern mit dem wärmsten Interesse nehmen wir
wahr, dass die genannte Gleichartigkeit, die sich in gewissen Zügen durch alle
Religionen zieht, auch hier wieder sich bewährt und dass so manches, in dem
die weihevolle Bedeutung des Alten Testaments besteht, auch so manches,
das sonst als ausschliesslich und spezifisch christlich gilt, sich in dieser oder
jener Form als allgemeines Volkergut enthüllt. Die jüngeren, höher entwickelten
Religionen haben ja gewiss allen Grund, sich darüber zu freuen,
dass auch ihre ältern, niedriger gestellten Schwestern die Familienähnlichkeit,
den Adel des gemeinsamen Ursprungs nicht verläugnen.
Es ist eine ganze Reihe von Einzelwissenschaften, welche in gegenseitiger
Unterstützung die Erfolge der vergleichenden Religionswissenschaft ermöglichen.
Im Vordergrunde stehen die vergleichende Sprachforschung in
allen ihren Verzweigungen und die Völkerkunde der Gegenwart, die Ethnographie,
an deren Stamm sich in den letzten Jahrzehnten ein neuer wissenschaftlicher
Zweig gebildet hat, für den der Name "Folklore" in Gebrauch
gekommen ist; man erstrebt eine möglichst vollständige Sammlung der Volkssagen
und Märchen, der Volksgebräuche und Meinungen, der Volkslieder,
Sprichwörter und Spiele und hofft, aus diesem Material, das die Gegenwart
bietet, den Schlüssel für die mannigfaltigen Rätsel schmieden zu
können, welche dem Forscher auf dem Gebiete auch der alten und ältesten
Religionsgeschichte begegnen. Sowohl die Sprachforscher wie die Ethnographen
und Folkloristen entfalten in unsern Tagen einen staunenswerten Fleiss und
bringen Jahr uni Jahr neue Resultate ans Licht. Freilich kommt es bisweilen
vor, dass sich die Ethnographen eines Resultates rühmen, das bei
den Sprachforschern nur ein mitleidiges Lächeln hervorruft und eben so oft
ist das Umgekehrte der Fall.
Da von den Göttern Griechenlands die Rede sein soll, so wählen wir
unter diesen ein Beispiel, an dem das soeben Gesagte sich erläutern lässt.
Der griechische Gott Hermes, römisch Merkur, wurde verehrt als Führer der
abgeschiedenen Seelen auf ihrer Reise in das Totenreich, darum überhaupt
als Beschützer der Reisenden, der Kaufleute, der Gesandtschaften, denen er
auch die nötige Beredsamkeit vermittelte. Was ist der Ursprung dieser Vorstellung?
Die Ethnographen schauen sich in Amerika und Afrika nach Volksgebräuchen
um, aus denen diese Frage sich beantworten liesse, und wirklich
glaubt der um die Völkerkunde hochverdiente englische Gelehrte John Lubbok,
auf diesem Wege die Sache gefunden zu haben. Er stützt sich auf die in
alter und neuer Zeit weit verbreitete Volkssitte, aufrechtstehende Steine zu
verehren, die den Strassen entlang als Wegführer stehen, auch die Marktplatze
und die Landesgrenzen bezeichnen. Solche Steine oder vierkantige
Blöcke habe man später mit einem Kopf geschmückt und sie Hermen genannt,
daraus sei die Vorstellung von einem Gott Hermes entstanden, der nun
alle jene den Steinen entsprechenden Eigenschaften erhalten habe, wonach er
Markt und Handel beschützte, die Reisenden auf und unter der Erde begleitete
und auf den Grenzen, wo die Gesandtschaften sich begegneten, denselben
die Gabe der Beredsamkeit verlieh. Ist der Gedanke nicht scharfsinnig
und geistreich? Und dennoch hatten die Sprachforscher hier allen Grund, in
ein homerisches Gelächter auszubrechen, denn sie wussten längst, woher Hermes
oder (mit dem vollen Namen) Hermeias stammte.
Aus dem altindischen religiösen Liederbuche, dem Rigveda, kennen wir
nämlich eine Götterbotin Sarama mit zwei Hunden, den Sarameyas, welchen
die Aufsicht über die abgeschiedenen Seelen anvertraut war. Das phantasievolle
Auge des Naturmenschen staute sie in eilig dahinziehenden kleinen
Wolkengebilden. Nun waren Griechen und Indier Söhne desselben Urstammes,
der aus Mittelasien sich nach Süden und Norden verbreitete und in Sprache,
Geistesart und poetischer Vorstellung seine Eigentümlichkeit nie verlor. So
finden wir denn auch jene .Hunde als Totenbegleiter bei den Persern,
Griechen und Römern wieder. Bei den Persern mussten zwei gefleckte Hunde
jeden Leichenzug begleiten; auch die indischen Sarameyas waren gefleckte
Hunde und hatten davon den Beinamen Çarvaras, den wir bei Griechen
und Römern in Cerberus, dem grimmigen Wächter des Totenreiches wiederfinden;
dagegen warteten dem eigentlichen Namen Sarameyas höhere Ehren,
denn aus ihm entstand der griechische Totenführer Hermeias, abgekürzt
Hermes, einer der volkstümlichsten unter den Gottern Griechenlands.
Liegt uns hier ein Beispiel für die Ueberlegenheit der Sprachforschung
vor, so liessen sich umgekehrt Beispiele anführen, an denen das gute Recht
der Ethnographen und Folkloristen zu Tage träte; denn ihr Grundsaz, dass
die einzelnen Göttergestalten aus Volksgebräuchen (nicht die Gebräuche aus den
Göttern) zu erklären seien, ist bisweilen sehr gut angebracht und löst
scheinbar Unlösbares mit leichter Hand. Es gibt eben keine Universalmethode,
die uns nach einer einfachen Formel das psychologische Verständnis des
Götterglaubens der alten Welt vermitteln könnte. Von allen Seiten, auf
hundert Wegen muss man an das kulturgeschichtlich, psychologisch, religiös
so hoch interessante Rätsel heranzukommen suchen; eine einförmige Schablone
genügt hier nicht.*
Aber auch die Sprachforscher unter sich dürften oft williger sein, von
einander zu leinen, namentlich wäre hier gegen manchen Philologen Klage
zu führen, der auf seinem vornehmen klassischen Trone sitzt und sich beleidigt
fühlt, wenn einer daran denkt, dass vom Euphrat oder vom Nil her ein
geistiges Bächlein bis zu Griechenlands heiligen Fluren geflossen sei und sie
befruchtet habe. Es gibt Philologen, welche glauben, sie würden einen Verrat
am griechischen Genius begehen, wenn sie in seiner Bildungsgeschichte die
Mitwirkung fremdländischer Faktoren einräumen würden.* Es liegt darin
aber eine völlige Verkennung der Gesetze, nach denen sich die Entwicklung
der Völker vollzieht. Einleitend war von Gesetzen die Rede, welche in der
religions-geschichtlichen Entwicklung der Völker mit auffallender Regelmässigkeit
zu Tage treten. Hier ist ein solches Gesetz. "Die religiöse Entwicklung ist
um so vollkommener und steigt um so höher, je vielseitiger der Verkehr
eines Volkes mit anderen und je vollkommener die Mischung der Rassen
ist." Ein glänzendes Beispiel für die Gültigkeit dieses Gesezes ist Griechenland,
wo verschiedene indogermanische Stumme mit jugendlicher Empfänglichkeit
und Bildsamkeit den Einfluss zweier ganz anderer, alter und gereifter
Kulturen empfanden. Von Osten her drang sehr früh der religiöse Geist
der Semiten. von Süden die natursymbolische Gottesvorstellung der Aegypter
in Griechenland ein. Aus dem Zusammenwirken dieser drei so verschiedenartigen
Faktoren, des indogermanischen, des semitischen und des ägyptischen
Geistes entstand jenes wunderbare Gebilde hellenischer Kunst, Kultur und
Religion, das wie ein Blumenkranz in die spröde Wirklichkeit, wie eine
Jubelhymne in den einförmigen Gang der Weltgeschichte hinausgeworfen
war. Alles Herrliche des Hellenentums beruht auf Verarbeitung semitischer
und ägyptischer Ideen durch indogermanischen Geist. Selbst die leuchtenden
Gestalten der olympischen Götter, weit entfernt original griechisch zu sein,
leiten ihren Stammbaum aus Mittelasien, Vorderasien und Aegypten.
Im praktischen Vordergrund des nationalen Bewusstseins der Hellenen
stand eine Dreiheit von Göttern: Zeus, Apollo und Athene, eine Dreiheit
von Vater, Sohn und Tochter. Den Vater Zeus finden wir schon in den
ältesten Zeiten der indogermanischen Familie, als es noch kein Sanskrit,
kein Griechisch noch Lateinisch, keine Slaven und Germanen gab, als alle
diese Einzelvölker noch als Arier im innern Asien, nördlich vom Hindukusch,
auf dem Plateau von Pamir, dem "Dach der Welt", ungetrennt beisammen
wohnten. Wenn diese unsere gemeinsamen Urahnen von ihrer 15,000 Fuss
über dem Meeresspiegel erhabenen Hochwarte aus tief zu ihren Füssen
Stürme, Wolken und Gewitter durch die Täler ziehen sahen und über ihnen
der wolkenlose Himmel in seiner leuchtenden Unendlichkeit sich ausspannte,
dann war ihnen dieser Anblick die Offenbarung eines allumfassenden, allwaltenden
Wesens, wandellos, von Sturm und Wetterwolke nicht berührt,
und sie nannten dieses Wesen Dyu patar, den leuchtenden Vater, einfach:
Himmelvater. Ein Teil dieses Urvolkes wanderte südwärts ins indische
Fünfstromland und nun klang der alte Gottesname in Sanskrit: Dyaush
pita, Himmelvater. Die übrigen Teile wanderten westwärts, bevölkerten
Griechenland und Italien, aber immer war es der alte Name, bei den
Griechen Zeus pater, bei den Römern Ju-piter, Himmelvater, und noch
in den Urwäldern Germaniens bewahrten die dorthin Ausgewanderten die
Erinnerung an das ursprüngliche Dyu; Tio, Ziu nannten sie den höchsten
Himmelsgott zu einer Zeit, da Odin und Thorr noch nicht die oberste
Stellung errungen hatten. Und auch heute noch, mitten in der Christenheit,
lieben ältere Leute bei uns in den Dörfern den 5000 Jahre alten, vertrauten
Namen: Himmelvater.
Also dieser Zeusname ist ein gemeinsames Völkergut der indogermanischen
Familie. Aber jedes Volk hat nach seiner geistigen Eigenart die überlieferte
Vorstellung ausgebildet: bei Römern und Griechen trat das Naturbild des
ausgespannten Himmels in den Hintergrund und der alte Himmelvater
wurde zum Träger der höchsten Ideen, die diese Völker zu erfassen vermochten.
Bei den Römern repräsentirte Jupiter die Staatsidee, Zeus bei
den Griechen überhaupt die sittliche Idee. Es gehört zu den interessantesten
Aufgaben der Völkerpsychologie und Religionsgeschichte, zu vergleichen, wie
bei dem und jenem Volke die Götter ihr ursprüngliches Naturwesen mit der
Geistigkeit vertauschen, denn mindestens so klar wie in der Geschichte der
Kultur, der Kunst und Literatur. offenbart sich der eigentümliche Genius
jedes Volkes in dieser Arbeit der Vergeistigung des Gottesglaubens. Hier
aber muss ich mich darauf beschränken, das abschliessende Resultat der Entwicklung
zu nennen: in Zeus veranschaulichten sich die Griechen die Idee
der schön und gut geordneten sittlichen Welt. Wir wissen zwar, dass die
Griechen von ihrem Zeus auch allerlei andere, weniger erbauliche Dinge zu
erzählen wussten, namentlich Geschichten von ehelicher Untreue. Indessen erklärt
sich dies leicht aus der Geschichte des Kultus. In dem Masse nämlich,
wie die Verehrung des Zeus von Landschaft zu Landschaft vorwärts drang,
mussten vor ihm ältere Lokalgottheiten weichen und doch mochte das Volk
sie nicht völlig missen; so behielt man sie zwar bei, degradirte sie aber zu
Söhnen des Zeus. Damit war unabsichtlich dem mythologischen Unfug
das Tor geöffnet; denn wo ein Sohn des Zeus war, da musste für denselben
eine Mutter erdichtet werden, die nun meistens eine Königstochter
der betreffenden Landschaft war, zu der Zeus in Liebe entbrannt sein sollte.
Auf diese Weise also entstanden im Volksmunde alle jene Liebschaftsgeschichten,
die nun allerdings den idealen Charakter des Göttervaters wesentlich trüben.
Aber eben nur zufällig und äusserlich und der eigentlichen Zeusidee völlig
widersprechend haben sich diese Mythen an sie angehängt; auch hat sich, wie
wir aus Herodot, Plato und vielen andern Schriftstellern wissen, jeder gebildete
und edel gesinnte Hellene über diese mythologischen Verunstaltungen
geärgert und sich dadurch in der höhern Auffassung nicht beirren lassen;
man hielt daran fest, dass in Zeus die absolute sittliche Idee verkörpert sei.
Was die Griechen an diesem Gott hatten, ist nirgends zu so herrlicher
Darstellung gekommen, wie in jenem wunderbaren Werke des Phidias, im
Zeusbild von Olympia. Das Bild ist zwar im 5. christlichen Jahrhundert
ein Raub der Flammen geworden, aber zahlreiche Nachrichten aus dem
Altertum, auch künstlerische Nachbildungen setzen uns in Stand, es uns zu
vergegenwärtigen. Unter den letztern ragt die bekannte Zeusbüste hervor,
die im vatikanischen Museum aufbewahrt wird und von der wir uns an
einem Gypsabguss in unsrer Antikensammlung eine ungefähre Vorstellung
machen können. Der Gott war auf seinem Trone sitzend dargestellt, der
nackte Oberleib aus schimmerndem Elfenbein, dann floss ein goldener Mantel
bis zu den Füssen hernieder. Aus einer Fülle von Skulpturen, die am Trone
angebracht waren, erhob sich in wunderbarer Majestät, gross und feierlich die
Kolossalgeslalt des höchsten hellenischen Gottes. Wie es zum Wesen des
religiösen Glaubens gehört, dass der Mensch den Zwiespalt des Lebens, die
Widersprüche der Wirklichkeit in einer höchsten Einheit versöhnt und aufgehoben
sehen will, so ist diesem Bedürfnis hier das vollste und reichste
Genüge gebracht, das der Kunst überhaupt zu bieten möglich ist. In diesem
gewaltigen Zeushaupte war vereinigt, was im Leben getrennt und feindlich
auseinander liegt: die energische Macht; die weitschauende Weisheit, die milde
Güte. Hier also wurde dem Hellenen eine Weltordnung anschaulich, in der
die höchste Macht zugleich höchste Weisheit und Güte ist; in diesem Anblicke
vergass er das Ungenügen des Wirklichen, den Schmerz über das Vergängliche;
das Seinsollende, das Vollendete schaute er hier als das Seiende und vertrauensvoll
sah er über seiner und seines Volkes Zukunft die Wahrheit
leuchten, dass mit dem Schönen und Guten die höchste Macht und Siegeskraft
ewig verbunden und dass das Ideale das wahrhaft Wirkliche sei. Darum
nannten die Alten den Zeus des Phidias ein leidstillendes Zaubermittel und
selig gepriesen wurde jeder, der eine Wanderung nach Olympia gemacht und
im Anblick des Göttervaters seine Seele mit Mut und Frieden gesättigt
hatte. In Zeus hatte der griechische Genius eine so hohe, geistig reine Gottesvorstellung
errungen, dass nicht blos Plato und Aristoteles ihren philosophischen
Monotheismus hier anknüpfen konnten, sondern auch Jahrhunderte später,
als das Christentum auf den Plan getreten war, der Vertauschung des Zeusglaubens
mit dein Glauben an den christlichen Gott kein in der Sache
liegendes Hindernis entgegentrat, ja, dass der uralt indogermanische Name
"Himmelvater", dessen Weit und Bedeutung in Zeus kulminirt hatte, auch
noch in der Christenheit, wie wir gesehen haben, ein gern gebrauchter, vertrauter
Gottesname geblieben ist.
Vom Himmelvater gehen wir zur Himmelstochter Athene über.
Religionsgeschichtlich hat sie einen ganz andern Ursprung als Zeus. Sie
ist die nach Griechenland herübergewanderte ägyptische Göttin Reit, sie ist
das aus Schiller uns bekannte "verschleierte Bild von Saïs". Es führt
uns dies auf die ägyptische Schöpfungsgeschichte, die wir in zwei Variationen
kennen. Beide beginnen mit denselben, auch aus der Bibel uns bekannten
Worten "Im Anfang war Finsternis über dem Abgrund und die Wasser
des Urmeers wurden vom Winde. dem Odem der Gottheit, bewegt." In
der Bibel heisst es: "Es war finster über der Tiefe und der Geist Gottes
schwebte über dem Wasser." Während nun die Bibel in grossartiger Einfachheit
fortfährt: "Gott sprach — es werde Licht und es ward Licht," gehen
hier eine ober- und eine unterägyptische Darstellung auseinander. Häufig
und durch ganz Aegypten hin findet sich die erstere in Malereien an Tempelwänden.
Acht schöpferische Naturkräfte, vier Götterpaare, heben segnend die
Hände empor und rufen: "Es werde Licht!" Und plötzlich erscheint ein
wunderschöner Knabe, auf einer Lotusblume sitzend, aus der Urnacht das
erste junge Morgenlicht. In Unterägypten war es eine einzige Göttin, die
Reit von Saïs, der man den Hervorgang des Lichtes ans der Finsternis
dankte. Sie ist tief verschleiert, um das verborgene Geheimnis anzudeuten,
das dem Hervorgang des Lichtes aus der Nacht zu Grunde liegt; sie ist
auch eine kriegerische Göttin, mit Pfeil und Bogen bewehrt; auf den Wandgemälden
bringen die Pharaonen ihr diese Waffen dar, damit sie kämpfe
für ihr Kind, die junge Morgensonne, und ihm zum Sieg über die Mächte
der Finsternis verhelfe; in ihrem Namen Reit liegt zugleich auch der Begriff
des Zusammenfügens, des Flechtens und Webens, darum ist sie die Göttin
jeder Art von Kunstfertigkeit.* Dies also ist die griechische Athene. Schon
der Name Neit, mit dem Artikel Hatneit, klingt an das griechische Athene
an; leicht möglich, dass zur Bildung des Namens, eigentlich Athenais, ein
indogermanisches Wort (aus dem Sanskrit) Ahanaia, die Helle, mitgewirkt
hat, wie Max Müller vermutet. Aber dem Inhalte nach ist Athene die
Neit. Der Naturgrund, auf dem diese schöne griechische Göttergestalt sich
gebildet hat, ist auch das Licht, das aus der Finsternis hervorbricht. Darum
ist ihr heiliger Vogel die Eule, deren aus dem Dunkel der Nacht hervorbringende
Augen jenen grossen Naturvorgang symbolisiren; oder sie ist aus
dem Haupt des Zeus geboren, der leuchtende Blitz aus der Nacht der
schwarzen Wetterwolke, in der man jui frühern Altertum Zeus angeschaut
hatte. Besonders deutlich trat die Verwandtschaft der Athene mit der
ägyptischen Neit am jährlichen Feste des Fackellaufens an den Tag. Das
heilige Feuer wurde ausgelöscht, und fern vom Altare sammelten sich bei
Einbruch der Nacht die Jünglinge um den Priester, der mit neu entfachtem
Feuer ihre Fackeln entzündete, und nun stürmte die Schar der Fackelträger
in eiligem Wettlauf jenem erloschenen Altare zu, um ihm das neue Feuer
darzubringen. Es war genau dieselbe Sitte, die sich in Aegypten beim verschleierten
Bild von Saïs und in Athen zu Ehren der Stadtgöttin vollzog.
Wir können denken, es sei das jährliche Geburtsfest der beiden Göttinnen
gewesen, deren natursymbolische Bedeutung: aus Nacht zum Licht, post
tenebras lux, durch diesen nächtlichen Fackellauf zum Ausdruck kam.
Während aber die Aegypter in ihrer zwar sinnreichen, aber oft recht
verworrenen Natursymbolik auch dann noch stecken blieben, wenn sich der
Gottesgedanke schon ganz zur Geistigkeit erhoben hatte, trat bei den höhern
Göttern der Hellenen der Naturgrund, aus dem sie entstanden waren, bis
zur völligen Unkenntlichkeit zurück; aus den Naturgöttern wurden reine
Ideale des Menschenlebens. Keine andere Volksreligion hat dies so vollständig
fertig gebracht. Auch die Germanen trugen ihr sittliches Bewusstsein
mit seinem tragisch schweren Ernste in ihre Götterwelt hinein, aber das
Naturbild, aus dem die Götter entstanden waren, blieb ihnen anhängen bis
zu ihrem legien Verschwinden im Volksglauben; in jenen Odin und Thorr,
Loki und Baldur schaute inan immerfort Naturvorgänge, den Wolkenzug,
das befreiende Gewitter, das Feuer, den Frühling; nur die hellenischen
Götter haben ihr Naturgewand völlig abgestreift und sind als reine Ideale
ins Ethische und Aesthetische erhoben.
So bleibt zwar bei Athene der ursprüngliche Gedanke: aus Nacht zum
Licht, aber es ist die Geistesnacht menschlicher Barbarei, roher Leidenschaft,
wilder Gewalt, aus der Athene das Geisteslicht edler Gesittung, staatlicher
Ordnung, blühender Kunst und Wissenschaft hervorgehen lässt. Wie die
ägyptische Neit trägt auch sie Waffen, Schild und Lanze, um das junge
Licht zu schirmen; sie ist zum Kampf gerüstet, um die friedliche Kultur vor
jeder Barbarei zu schützen. Wie deutlich sie in dieser Eigenschaft, als Göttin
edler Gesittung, vor dem Bewusstsein der Hellenen stand, zeigt uns der
Dichter Aeschylus in den Eumeniden. Es handelt sich um den Muttermörder
Orestes. Klytämnestra hatte den ans Troja siegreich heimgekehrten Gatten
Agamemnon schmählich hingemordet; der Sohn Orestes nahm Rache und
erschlug die Mutter. Von den Eumeniden oder Erinnyen, den griechischen
Rachegöttinnen verfolgt, flieht er nach Delphi zu Apollo, auf dessen Rat
er die blutige Tat vollbracht hatte. Dicht auf seinen Fersen jagt ihm die
scheussliche Schar nach, in den heiligen Hain bis vor das Tempeltor. Da
tritt Apollo heraus und scheucht sie hinweg:
Hinaus! befehl' ich; dieses Tempelhaus verlasst sogleich!
Denn solche Scheusal' müssen in des blutleckenden
Löwen Höhle hausen, nicht bei diesem Heiligtum!
Den Orestes nimmt der Gott in seinen Schutz und sendet ihn zur
Schwester Athene, welche die Sache zu einem guten Ende führen werde.
Setz' an ihr altes Bild dich und umschling es fromm;
Da werden Wege wir erspähen,
Dass frei und los du gänzlich werdest dieser Mühen,
Denn ich befahl dir diesen Muttermord.
Im nächsten Aufzug sehen wir den Orestes in Athen vor dem Bilde
der Göttin, das er angstvoll umfängt, denn schon sind die hässlichen, blutlechzenden,
zähnefletschenden Gestalten wieder dicht hinter ihm. Athene
erscheint, hört beide Parteien an und beruft dann aus athenischen Männern
einen Gerichtshof, dem sie Instruktionen über ein geordnetes Gerichtsverfahren
gibt und der nun den Fall entscheiden soll. Durch Trompetenschall
lässt Athene befehlen, dass über die ganze Stadt feierliche Stille sich lege,
und nun beginnt die Gerichtsverhandlung. Die Erinnyen sind die Klägerinnen,
plötzlich erscheint Apollo und übernimmt die Verteidigung. Athene führt
den Vorsitz und ordnet an, dass bei Stimmengleichheit ihr die Entscheidung
zufalle. So geschieht es; von den schwarzen und weissen Steinchen, vermittelst
deren die Stimmabgabe geschieht, findet sich in den Urnen die gleiche
Zahl. Da erhebt sich Athene und spricht:
Du bist, Orestes, frei erkannt im Blutgericht,
Denn gleich in beiden Urnen ist der Steinchen Zahl.
Sie also entscheidet für Freisprechung.
Was will nun aber dies alles sagen? Wir sehen hier zwei der
gewaltigsten Kulturfortschritte, welche das griechische Volk dem Apollo und
der Athene dankte. Zunächst, wer sind diese Erinnyen? Die klassischen
Philologen haben versucht, den Namen aus dem Griechischen zu erklären,
allein einen viel sicherern Weg geht hier die vergleichende Sprachforschung.
Der Name stammt aus Indien; dort verehrte man eine Göttin Saraniu,
die zwei scheinbar ganz verschiedene Dinge bedeutete, das Morgenlicht und
die Rache. Beides liegt doch ganz nahe bei einander. Das in der Nacht
begangene Verbrechen, Diebstahl, Raub, Mord, wird bei Anbruch des
Morgens von den Hausgenossen entdeckt, sie verfolgen den Frevler und
schlagen ihn nieder, wo sie ihn treffen. Saraniu, die den Morgen bringt,
bringt auch die Rache für den Frevel der Nacht. Diese indische Saraniu
finden wir in Griechenland wieder als die Erinnyen. Was bedeuten also diese?
Sie bedeuten die Rache, die der Einzelne eigenmächtig mit Schwert oder
Keule an seinem Feinde nimmt; mit andern Worten: sie sind der mythologische
Ausdruck für diesen bestimmten geschichtlichen Kulturzustand, in
welchem das Faustrecht und die gewalttätige Selbsthülfe, die wilde Blutrache
herrschte. Gegen diesen Zustand hat Apollo, der reine Idealist, nur
Worte tiefster Entrüstung; er nennt die Erinnyen hässliche Scheusale, triefäugige
Ungeheuer, die in der Löwenhöhle, nicht unter Menschen hausen
sollen. Hingegen die praktisch besonnene Schwester Athene überwindet diesen
rohen Zustand durch Einsetzung einer geordneten Rechtspflege; sie verbannt
die Erinnyen in die Unterwelt zu ihrer Mutter, der ewigen Nacht, aber
den Trost gibt sie ihnen mit, dass wenn sie auch nicht mehr unter den
Menschen weilen dürfen, die Menschen sie doch immer fürchten werden —
tief psychologisch, denn vor der wilden Leidenschaft der entfesselten Rachgier
fürchten sich trotz aller Gerichtsordnung Gute und Böse.
Einen andern eben so gewaltigen und wohltätigen Kulturfortschritt
kniipft Aeschylus in unserm Drama an Apollo an. Zu Anfang des Stückes,
noch in Delphi, dann wieder während der Gerichtsverhandlung in Athen
fragt Apollo die Erinnyen, warum sie nur den Muttermörder verfolgen,
dagegen die Klytämnestra, die ihren herrlichen Gatten Agamemnon meuchlings
erschlagen, ungestraft gelassen haben. Hohnlachend erwidern die
Erinnyen, zwischen Gatte und Gattin sei kein Band, nur Mutter und Kind
gehören zusammen, nach dem Vater frage man nicht. Aber hochaufwallend
in gerechtem Zorn schilt sie Apollo: ihr ganz verhassten, gottverfluchten
Ungeheuer! und vertheidigt machtvoll die Stellung des Mannes in der
Familie als Gatte und Vater. Es handelt sich auch hier wieder um die
Ueberwindung eines rohen Kulturzustandes durch edlere Lebensgestaltung.
Was wir bei vielen Volksstämmen noch in unserer Gegenwart finden, das
war einst dee Lebensweise vermutlich aller Völker, dass nur Mutter und
Kinder sich kannten und sich als zusammengehörig fühlten, dagegen von
einer Ehe nicht die Rede war, also nach dem Gatten und Vater niemand
fragte.
Nun hatten die Griechen das ganz bestimmte kulturgeschichtliche Bewusstsein,
dass es einstmals auch bei ihnen so gewesen; sie verlegten diesen Zustand
in die Zeit, da Zeus und seine Olympier noch nicht waren, da noch Kronos
mit seinen Titanen gewaltsam und brutal die Welt beherrschte. Den
Olympiern dankten sie es, dass heller Tag wurde über Griechenland und ein
menschenwürdiges Kulturleben sich gestaltete. Wenige Völker des Altertums
hatten ein so klares Bewusstsein über ihre eigene kulturgeschichtliche Vergangenheit;
doch kann man in dieser Beziehung neben die Hellenen das
alte Jsrael stellen; in der Tat ist im Alten Testament eben so klar wie
in den Eumeniden des Aeschylus jener zwiefache Fortschritt zum Ausdruck
gekommen. Die Zeit der gewalttätigen Selbsthülfe und Blutrache ist dargestellt
1. Mos. 4. , wo Lamech das erste geschmiedete Schwert schwingt und
triumphirend ausruft: "Jetzt erschlag' ich einen Mann für eine Wunde,
einen Jüngling für eine Beule und nehme siebzigfache Rache an jedem."
Im engsten Anschluss an dieses trotzig rohe Wort setzt ein uns unbekannter
Gesetzgeber 2. Mos. 21 ff. eine geordnete Rechtspflege ein, die nicht schwerere
Strafe verhängen soll, als das Vergehen es verdiente. Auch in Beziehung
auf die Ehe und ihre dauernde Gültigkeit kennt ein Alttestamentlicher Erzähler
recht gut den frühern Zustand des blossen Mutterrechts. Er erzählt
die Erschaffung der Eva aus einer Rippe Adams und spricht schon dadurch
die innere und unauflösliche Zusammengehörigkeit von Mann und Weib
aus, fügt dann aber noch ausdrücklich hinzu: Ein Mann wird Vater und
Mutter verlassen und seinem Weibe anhangen und die Zwei werden Eins
sein. Er versetzt dies freilich an den Anfang des Menschengeschlechts, um
zu sagen, dass dies der anfängliche Gotteswille war, aber der ganze nachdrucksvolle
Ton der kurzen Erfühlung zeigt deutlich, dass man sich im alten
Jsrael so gut wie in Griechenland des Fortschrittes vom Mutterrecht zur
geordneten Ehe bewusst war und hier wie dort denselben der Gottheit dankte.
Von Apollo muss noch besonders die Rede sein. Die geographische
Aufeinanderfolge seiner Kultusstätten zeigt deutlich, dass er von Osten her,
also von den Semiten nach Griechenland gekommen war; sein Name klingt
an den semitischen Gottesnamen Baal an. mit dem Artikel Habbaal; die
Mesopotamier sagten Bel, mit dem Artikel Habbe!; so wechselt in früherer
Zeit auch bei den Griechen Apellon und Abellion mit Apollon.* Wie man
nun auch den Namen erklären möge, so liegen hier inhaltlich jedenfalls
semitische Sonnenmythen zu Grunde. Die Sonne, die im Glutenbrand des
Sommers die Erde versengt und schliesslich im eigenen Feuer sich selbst und
ihren zerstörenden Zorn verzehrt, um als milde Herbstsonne den versöhnten
und versöhnenden Gott zu offenbaren, oder Mythen vom dunkeln Gang
der Demütigung, dem die Wintersonne sich unterzieht, um als Frühlingssonne
wieder die Welt zu erfreuen, das war der überkommene Stoff, aus
dem der griechische Genius die herrliche Göttergestalt Apollos bildete. Jenen
Mythen liegt der Gedanke der innern Versöhnung zu Grunde, die nur durch
ein inneres Selbstopfer, durch Abtun jeder wilden Begierde und Leidenschaft
zu erringen sei. Dem entsprechend erzählten die Griechen, Apollo
habe, als er von Delphi Besitz nehmen wollte, einen diesen Ort schürfenden
Drachen getötet und sei dann zur Sühne acht Jahre lang auf Erden Mensch
gewesen, ein Knecht im Dienste des Königs Admet, und erst nachdem er
in solcher Busse und Demütigung sich selbst gereinigt, sei er zu seiner Gottheit
zurückgekehrt und nun auch für die Sterblichen, deren Schwachheit er
aus eigener Erfahrung gekannt und bemitleidet habe, ein Heiland, ein Erlöser
von aller Unreinheit und befleckenden Schuld geworden. So wurde
denn im delphischen Apollodienst ein Sühnekultus geübt, der, wie das
Beispiel von Orestes zeigt, den schuldbeschwerten Menschen aus Gewissensqual
und Verzweiflung zum inneren Frieden zurückführen sollte.
In diesem Apollodienst tritt etwas Neues in die Religionsgeschichte ein.
Im Geistesleben der Völker zeigt sich bisweilen dieser Wendepunkt, dass
neben die bisherigen Ziele, um die es sich in der Religion gehandelt hat,
neben die politisch-sozialen Güter der bürgerlichen Ordnung und Eintracht,
der Familiensitte, der Wohlfahrt des Vaterlandes still und fast unmerklich
die Bedürfnisse des eigenen Gemütes treten; neben Ruhm und Macht und
Bürgerfrieden winken jetzt noch andere Sterne: innere Reinheit und Seligkeit,
Friede und Erlösung aus innerem Zwiespalt. Unter zwei Völkern
indogermanischer Abkunft wurde dieser Schritt zuerst und ungefähr gleichzeitig
getan; in Indien und in Griechenland. In Indien war es Buddha,
er lehrte: "Ueberwinde dich selbst! Wer die Begierde bezwingt, von dem
fällt alles Leid der Erde ab, wie der Wassertropfen von der Lotusblume;
wer Hass und Zorn überwindet, der ist wie ein See, iii dem sich der Himmel
spiegelt, still, klar und tief." In Griechenland war es der Apollodienst.
Als die Summe aller göttlichen Weisheit lehrte der delphische Gott: "Erkenne
dich selbst! Nur in der Reinheit des Herzens blüht dir Frieden und
Wonne." Und einige Jahrhunderte später erklingt auf anderem Boden
dieser Ruf noch einmal, kraftvoller, volkstümlicher, herzlicher: "Selig sind,
die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen. Was hülfe es dem
Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne, litte aber Schaden an seiner
Seele!"
Ueberall derselbe Ruf zur Einkehr in die eigene Brust. Und überall
wandelt der, welcher diesen Ruf erschauen lösst, in demütiger Niedrigkeit:
Apollo als Knecht, Buddha als Bettler, Jesus als armer Zimmermannssohn.
Auch das alte Testament kennt diesen Gedanken; ein Prophet des
Exils spricht ihn aus in dem Abschnitte vom misshandelten Gottesknecht,
welcher in seiner Leidensgeduld die Sünden Vieler versöhnt (Jes. 53.).
So klingt in Mythus und Sage noch manches andern Volkes dieses überall
gleiche Gefühl durch, dass nicht der jenseitige Gott in seiner hohen Majestät,
sondern das Göttliche, das auf Erden in menschlicher Niedrigkeit erscheint,
Frieden und Versöhnung bringe.
Wenn in diesem Zusammenhang auch äussere Sühngebräuche vorkamen,
so galt hier überall der Grundsatz, dass alle äussere Religionsübung leer
und wertlos sei, wenn nicht die Gesinnung innerlich den Menschen reinige.
Vom Apollodienst in Delphi hiess es, dass ein Tropfen Weihwasser von der
kastalischen Quelle dem Gutgesinnten genüge, dass aber dem verstockten
Sünder kein Meer die Sünde abwasche. Ein Tröpfen Weihwasser! Wie
wunderbar klingt das im Johannesevangelium wieder, in der Erzählung
von der Fusswaschung! Petrus will nicht, dass sein Meister ihm die Füsse
benetze; sobald er aber hört, welche Bedeutung die Handlung habe, ruft er
aus: "Herr, nicht die Füsse allein, sondern auch die Hände und das Haupt!"
Da erwidert Jesus: "Wessen Füsse ich benert habe, der ist ganz rein." An
beiden Orten also derselbe Gedanke, dass das Symbolische in seiner geistigen
Durchsichtigkeit gewahrt und nicht mit plumpen Händen ins grob Materielle
herabgezogen werden solle.
Wenn unsere Aufgabe ist, die Götter Griechenlands im Zusammenhang
der allgemeinen Religionsgeschichte aufzufassen, so werfen wir dabei unsern
Blick nicht bloss rückwärts und seitwärts zu Aegyptern, Semiten und Indern,
sondern selbstverständlich auch vorwärts auf das Christentum. Was
das Christentum vor der griechischen Religion voraus hat, darüber spreche
ich in dieser kurz zugemessenen Stunde nicht, sondern nur das Gleichartige
sei hervorgehoben. Wollte ich das erstere zeigen, so müsste ich die Rede auf
den Stifter des Christentums und sein Evangelium bringen; da ich das
zweite im Auge habe, so beziehe ich mich im Folgenden nur auf die vom
dritten bis ins fünfte Jahrhundert fallende dogmatische Ausgestaltung des
Christentums. Man pflegt zu sagen, das Christentum sei ein Baum, auf
dem Boden des Judentums erwachsen. Man darf eben so gut sagen: auf
jüdischem Boden sei ein Samenkorn erstanden, das herübergeweht auf den
Boden griechischen Geisteslebens, hier erst zu Stamm und Krone ausgereift
wurde. Die alten Kirchenväter wussten darüber noch ganz guten Bescheid
und machten kein Hehl daraus, dass sie von den Griechen eben so viel gelernt
hatten wie aus dem Alten Testament.
Fassen wir noch einmal die griechische Götterdreiheit ins Auge: Zeus,
Apollo und Athene. Der Himmelvater Vater der Götter und Menschen,
dann der göttliche Sohn, der Mensch wird und in Knechtesgestalt wandelt,
uni den Sterblichen, deren Los er aus Erfahrung kennt, den Weg des
innern Friedens und der Versöhnung zu bereiten, und der als Prophet wie
als Erlöser nichts spricht, noch tut, als was des Vaters Sinn und Wille
ist, dann die Athene, die in die Erdennacht und Barbarei hinein das Licht
des Geistes leuchten lässt, der das Menschenleben ordnend und heiligend
durchdringt, — wer denkt da nicht an das christliche Dogma von der göttlichen
Dreieinigkeit, wie ja eben die griechischen Kirchenlehrer es ausgebildet
haben? Um die Analogie völlig abzurunden, sei noch bemerkt, dass
die dritte Person der christlichen Trinität, der Geist, Jahrhunderte hindurch
in zahlreichen Kreisen der Christenheit als ein weibliches Wesen galt, wie
die griechische Geistesbringerin Athene.* Eine dogmatische Lehre von der
Einheit des göttlichen Wesens hatten die Griechen freilich nicht, ihr plastischer
Sinn führte sie vielmehr dazu, die Götter in individuellster Charakterisirung
auszuführen und auseinander zu halten. Gleichwohl pflegt schon Homer
diese drei Gottheiten fast in Einem Atemzuge wie eine einzige Gottheit zu
nennen, und durch die ganze griechische Dichtung geht der Gedanke, dass
unter allen Olympiern keiner nach Sinn und Willen dem Göttervater so
völlig gleich und mit ihm Eins sei, wie Apollo und Athene. Es ist wirklich
griechische Anschauung, dass hier nicht bloss eine Dreiheit, sondern eine Dreieinheit
des Willens und der Gesinnung sei.
Man braucht hierüber nicht allzu sehr zu erstaunen; es wäre noch
eine Reihe anderer Völker zu nennen, denen derselbe Gedanke vorschwebte,
aber nur dem griechischen und dem christlichen Geist ist es gelungen, den
Gedanken auf einen klaren Ausdruck zu bringen. Der Gedanke ist nämlich
der, dass das Göttliche nicht bloss als der jenseitige, transcendente Grund
aller Dinge aufgefasst werden dürfe, sondern als die unendliche Geistesmacht,
die auch in das Endliche hereintritt, in der Geschichte sich lebendig zeigt und
das Menschenleben aus all seinem Zwiespalt und seiner Schwäche siegreich
zur göttlichen Harmonie erhebt. Dass das Göttliche eintritt in das Menschenleben
und als ideale Macht in der Geschichte wirkt, das — wir haben es
gehört aus den Eumeniden des Aeschylus und dem Apollomythus — das
wollten die Griechen sagen mit ihrem Geschwisterpaar Apollo und Athene;
genau dasselbe wollte auch die alle dogmatische Christenheit sagen mit ihrer
Lehre von der Gottheit des Sohnes und des Geistes. Sie wollte aussprechen,
dass Himmel und Erde nicht geschieden sind, dass Gott in der Welt und
im Menschen Wohnung macht, dass eine Einheit des Göttlichen und Menschlichen
besteht.
Dies also ist die gemeinsame griechische und christliche Anschauung, die
dort mythologisch-ästhetisch, hier reflexionsmässig-dogmatisch zum Ausdruck
kam. Und mit dieser Gemeinsamkeit des religiösen Gedankens hängt innig
noch ein anderes zusammen. Warum nämlich hat sich nur auf dem Boden
des alten Griechentums und des Christentums eine wahrhaft humane, freie,
ideale Geisteskultur herausgebildet? Ein vergleichender Seitenblick auf die
semitischen Religionen, speziell auf den Islam, mag zur Beantwortung dieser
Frage dienen. Gegenüber den Göttern Griechenlands sowohl wie gegenüber
der christlichen Trinität setzt der Islam seinen Stolz darein, das einfache,
rein jenseitige Eins der Gottheit zu lehren; kein Uebergang zum Menschen
wird hier angenommen, so dass nur der unendliche Abstand, der unausgleichbare
Gegensatz zwischen Gott und dem Menschen das religiöse Bewusstsein
erfüllt. Darum erscheint das Erdenleben für den Muhammedaner als
eine gottentleerte Oede, ohne wertvolle Güter, ohne leuchtende Ideale; erst
das Jenseits, die Freude des Paradieses, bietet ihm Befriedigung. So hängt
die ganze Gemütsleere, Ideenlosigkeit und stumpfe Resignation der islamitischen
Völker mit ihrem starren, rein jenseitigen Gottesbegriff zusammen.
Wie ganz anders war es bei den Griechen! Alle Schönheit des Lebens,
deren die Griechen sich freuten, entfaltete sich aus dem Gedanken der
Menschwerdung des Göttlichen. Die marmorne Göttergestalt stellte
in höchster Vollendung das ideal Menschliche dar; Mythus und klassische
Dichtung zeigten Gott und Mensch in gemeinsamer Arbeit zur Veredlung
und Verklärung des Menschenlebens; im gymnastischen Spiel suchte sich die
körperliche Kraft und Anmut zur Höhe des Götterbildes zu erheben, und
für die Lebensseite zeigte wieder das marmorne Götterbild das schöne Mass
der Besonnenheit, der innern Harmonie und edler Freiheit. Vollzog sich
auch diese ganze Kultur vorwiegend im Element des Aesthetisch-Schönen,
so blieben doch die wahrhaft ethischen Ideale nicht zurück; schön und gut
sind ja, wenn auch nicht identisch, doch tief wesensverwandt.
Die christlichen Völker nahmen den von den Griechen angesponnenen
Faden wieder auf und traten mit demselben Gedanken der Menschwerdung
des Göttlichen an hohe Kulturaufgaben heran. Ob bewusst oder unbewusst,
der Gedanke des christlichen Kulturlebens war immer der, dass das göttlich
Wahre, Gute auf Erden verwirklicht werde, dass Härte und Unrecht aus
der menschlichen Gesellschaft verdrängt und das Erdenleben ein Reich der
Liebe und Wahrheit, ein Abbild des gütigen Gotteswillens werde. Dieser
Gedanke lässt das Erdenleben, das menschliche Geschlecht, die einzelne menschliche
Persönlichkeit in bedeutungsvoll idealem Licht erscheinen; dem Auge
sind unendliche Perspektiven eröffnet, das Gemüt und die künstlerische
Phantasie wagen sich an das Höchste, und des Willens bemächtigt sich jene
schöne Unruhe, die über jede errungene Stufe vorwärts und immer vorwärts
drängt, weil allem Suchen und Kämpfen das ahnungsvolle Gefühl
zu Grunde liegt, dass es sich um die Hineinpflanzung des Göttlichen ins
Irdische, um eine ewige Menschwerdung Gottes handle.
Dem gegenüber welche Grabesruhe unter den Völkern des Islam!
Eine Ruhe, die nur zeitweise, wenn in der Berührung mit den "Ungläubigen"
die düstere Glut des Fanatismus aufflammt, in konvulsivische Bewegungen
übergeht. Aber für sein eigenes politisch-soziales Leben kennt der Muhammedaner
keine Ziele, keine Zukunftsideale. Rechtlosigkeit und brutale Unterdrückung,
bestechliche Richter und meineidige Zeugen wird er in alle Zukunft
geduldig hinnehmen ohne eine Ahnung, dass es anders sein könnte, ohne
eine Willensregung, die auf Schaffung anderer Zustände zielte.
Dies ist der Unterschied zwischen einem religiösen Glauben, dessen Gott
jenseits der Welt in unbekannten Himmelshöhen tront und mit unberechenbarer
Willkür die Geschicke der Menschen lenkt, und einem Glauben. der das
Göttliche als der Welt und dem Menschen innewohnend empfindet. Aus
diesem Gesichtspunkte betrachtet, ist das Christentum mit dem alten Griechentum
viel nuher verwandt als mit irgend einer semitischen Religion. auch
derjenigen des Alten Testaments; in jenen beiden Religionen handelt es sich
um Menschwerdung Gottes und Gottessohnschaft der Menschen; daher an
beiden Orten die Lebendigkeit des Geisteslebens, das kräftige Freiheitsgefühl
und die hohen Ziele des Menschenlebens.
Alle Achtung vor dem Alten Testament! Wenn auch geistverwandt
mit dem Islam, ist es doch eine hoch idealisirte Ausgabe des semitischen
Geistes, und die Christenheit wird immerfort grosse Gedanken aus ihm
schöpfen. Aber die alten Kirchenväter hatten gleichwohl Recht, wenn sie
sagten, dass das Christentum aus zwei Quellen genährt werde, deren eine
in Jsrael. die andere in Griechenland entsprungen sei. In diesem Sinne
fragt schon der Apostel Paulus seine Leser in Rom: "Ist etwa Gott nur
der Juden Gott? Ist er nicht auch der Griechen Gott?" und gibt die
nachdrückliche Antwort: "Ja wahrlich, auch der Griechen Gott!" So zeigt
uns die allgemeine, vergleichende Religionsgeschichte auf vielen Punkten, in
oft überraschender Weise, dass grosse, lebensvolle Ideen an keine Landesgrenzen
und Zeitschranken gebunden sind, dass vielmehr der Geist wehet,
wo er will. Es ist so, wie Göthe sagt:
Gottes ist der Orient,
Gottes auch der Occident,
Nord und südliches Gelände,
Ruht im Frieden seiner Hände.